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Engel leben
Sie wartete jeden Tag darauf, dass die Erlösung sie endlich einholte, doch rein kamen nur Mutter, Vater, der Arzt und gelegentlich ihre Katze. Die Katze durfte aber eigentlich nicht in ihr Zimmer, weil jede Erkältung das Ende bedeuten konnte.
Es war ein wunderschöner Tag. Frühlingsduft lag in der Luft und Marie spielte draußen mit ihrer Freundin Sophia auf dem Spielplatz. Sie hatte sie besonders gern. Die beiden waren deshalb auch fast jeden Tag zusammen und gingen in die gleiche Klasse. Der Spielplatz lag genau gegenüber von Maries Wohnung, sodass ihre Mutter immer ein Auge auf sie haben konnte. "Marie Schatz. Komm rein. Es gibt Essen!", rief ihre Mutter ihr aus dem Fenster aus zu und wedelte mit dem Kochlöffel durch die Luft. Marie knötterte. Nach mehrmaligem Ermahnen kam Marie dann endlich angetrabt, nachdem sie erst noch Sophia nach Hause gebracht hatte. Maries Mutter, Barbara, hatte schon den Tisch gedeckt und zu Maries Freude gab es ihr Lieblingsessen: Spaghetti Bolognese. Ihr Bruder saß schon am Tisch und stopfte sich die Nudeln in den Mund. "Kannst du nicht warten?", fragte Marie ihn mit ihrer zarten Stimme und funkelte ihn wütend an. "Halt die Klappe und geh mir nicht auf die Nerven!", raunzte er zurück und machte sich wieder über seine Nudeln her.
Das ging immer so. Maries Bruder Lukas ärgerte seine kleine Schwester immer. Meist ging es so weit, dass sie weinend auf ihr Zimmer rannte und stundenlang nicht rauskam.
Als Marie fertig gegessen hatte wollte sie die Teller in die Spüle stellen, doch sie war zu klein für den Tresen. "Mama ? Kannst du mir den Hocker holen?", fragte Marie ihre Mutter, die sofort aufsprang und den Hocker holte. "Du bist so nh Schleimerin! Kannst du eigentlich nichts alleine?", blaffte Lukas sie an. "Lass mich in Ruhe! Du hilfst ihr dafür nie, obwohl du viel älter bist als ich!". "Ja weil ich kein Arschkriecher bin so wie du!", brummte er zurück und warf die Teller mit einem lauten Scheppern in die Spüle. "Blödmann", sagte Marie leise und stieg auf den Hocker, den ihre Mutter gerade unter die Spüle gestellt hatte. Sofort kam Lukas wieder und zog ihr den Hocker weg, sodass sie mit einem lauten Klatschen auf dem Boden landete. "LUKAS!", brüllte Barbara und sprang vor Schreck in die Höhe. "Bist du total verrückt geworden?", schrie sie ihn an und half dabei Marie wieder auf die Beine. Dabei rutschte Maries Oberteil ein Stück hoch und Barbara riss die Augen noch weiter auf. "Was hast du denn da?", fragte sie und zog das Oberteil noch ein bisschen weiter hoch. Rot-blaue Flecken überhäuften ihren Oberkörper und ihren Rücken. Marie blickte an sich herunter. Tränen liefen ihre Wangen runter, da sie beim Aufprall auf den Kopf gefallen war und sich jetzt dort ein große Beule bildete. "Ich weiß nicht. Blaue Flecken vom runterfallen wahrscheinlich", schluchzte sie und putzte sich die Nase an ihrem Ärmel ab. "Komm bitte mit. Wir fahren sofort ins Krankenhaus". Fast fünf Stunden wurde Marie dort untersucht. Dann musste sie wieder warten. Dann wurde sie wieder untersucht. Warten. Die Ärzte tuschelten zwischendurch aufgeregt miteinander und sahen besorgt zu ihrer Mutter hinüber. Die rutschte unruhig auf dem Stuhl herum, stand auf, setzte sich wieder und kaute auf ihren Nägeln herum. Dann kam ein Arzt zu ihnen und erklärte Barbara etwas im Vertraulichen. "Ich möchte ganz offen und ehrlich zu Ihnen sein.. also. Ihre Tochter hat ein ziemlich aggressiven Krebs. Leukämie um genau zu sein. Er ist A-typisch. Es sieht sehr schlecht aus. Es tut mir wirklich leid", sagte er mit monotoner Stimme. Barbara keuchte und sank zu Boden. "Nein nein nein nein", murmelte sie immer wieder und hielt sich dabei den Kopf fest. "Das kann doch nicht sein! Nein!", schrie sie und schlug dabei nach dem Arzt. "Mama!", sagte Marie und stand auf. "Was ist denn los?". Barbara drehte sich um und Marie sah die Angst und die Trauer in ihren Augen. Sie nahm sich auf den Arm und drückte sie fest an sich. "Gehen wir nach Hause".
Heute weiß Marie was sie hat. Krebs ist etwas, was oft nicht aufgehalten werden kann. Es sind böse Zellen, die alles zerstören und sich durch den Körper durchfressen und davon stirbt man. Bei ihr war der Krebs so schnell gewachsen, dass die Ärzte nichts mehr machen konnten. Er hatte schon gestreut. Eigentlich hatte sie seit der Diagnose nur noch wenige Monate zu überleben, doch nach zwei Jahren lag sie immer noch in ihrem Bett und atmete. Jeder besuchte sie. Ihre Oma kam. Ihr Vater kam, der eigentlich nie bei ihr war. Sophia kam mehrmals am Tag und die Ärzte kamen jetzt zu ihr nach Hause. "Es ist ein Wunder, dass sie noch lebt. Sie hat ein sehr starkes Herz. Kümmern Sie sich gut um sie und bereiten Sie ihr noch ein schönes Leben. Ich werde nicht mehr herkommen. Es ist nur unnötiger Stress für sich. Auf Wiedersehen", sagte Dr. Schmitz und verabschiedete sich von Barbara.
Marie schaute aus dem Fenster. Jeden Tag tat sie das, weil sie nichts anderes mehr machen konnte. Manchmal schien die Sonne rein. Manchmal regnete es und immer Winter kamen die Flocken herunter. Sie hatte es leid hier zu liegen und zu leiden. Bei jedem Atemzug hatte sie Schmerzen und sie hatte merkwürdige Träume. Manchmal waren die Träume aber ganz schön. Dann war sie in einer anderen Welt. Eine Welt voller Blumen und Sonnenschein, grünen Wiesen und überall lachten die Kinder um sie herum. Dort hatte sie keine Schmerzen und sie bekam auch keine Infusionen und Sauerstoff über irgendwelche Schläuche. "Hallo", sagte eine tiefe Stimme und Marie drehte ihren Kopf vorsichtig herum. Lukas stand im Türrahmen und starrte zu Boden. "Was ist?", fragte Marie unwirsch und atmete schnell aus. "Ich... ich wollte schauen wie es dir geht", meinte er verlegen. So hatte Marie ihren Bruder noch nie gesehen. Er war bis jetzt noch nie in ihrem Zimmer gewesen. Seine Haare waren wuschliger und länger. "Das interessiert dich doch sowieso nicht", gab Marie zurück und drehte den Kopf wieder zum Fenster hin. "Doch", gab er zu und kam näher an ihr Bett heran. "Ach ja ? Du bist doch Schuld, dass ich hier liege! Du bist böse! Du bist egoistisch! Du bist herzlos! Deswegen bin ich krank, weil dich nichts interessiert! Hauptsache du! Du bist nach zwei Monaten hier und fragst, wie es mir geht. Ich sag dir was... ich werde sterben. Ich kann nicht mehr laufen, nicht mehr springen und auch nicht mehr auf den Hocker steigen! Du bist die Leukämie! Du hast mir den Hocker weggezogen und der Krebs zieht mir mein Leben weg... verstehst.. d..uu", schrie Kelly und fing heftig an zu husten. Sie spuckte Blut und hyperventilierte. "Marie Schatz... alles gut... psscht.. beruhige dich", sagte ihre Mutter ruhig, die hineingestürmt kam und Marie irgendwas in den Zugang spritzte. "Verschwinde", fauchte sie Lukas zu, der sich sofort vom Acker machte. Marie wusste, dass es nicht fair war ihn zu beschuldigen, aber sie musste irgendwo ihr Leid rauslassen und was eignete sich da besser, als ihr dummer Bruder.
Marie wollte endlich ein Ende haben. Sie wollte von all dem befreit werden und nichts mehr fühlen. Nicht mehr an das Bett oder an den Rollstuhl gefesselt sein oder an den Sauerstoff. Sie wollte auch nicht mehr diese ätzenden Gesichter sehen, die sie voller Mitleid anstarrten und immer wieder 'du schaffst das' flüsterten. Nein. Sie wollte.. sie konnte nicht mehr.
Am Morgen wachte sich nach einer weiteren qualvollen Nacht auf und sie fühlte sich ungewöhnlich leicht ums Herz. Sie hatte noch nie dieses Gefühl. Die Tür ging auf und Sophia kam herein. Marie freute sich immer, wenn sie kam.
"Hallo", sagte Sophia und küsste Marie auf die Wange.
"Hallo". "Weißt du.. ich fühl mich heute irgendwie anders", sagte Marie und lächelte Sophia vage an. Ihr stiegen sofort die Tränen in die Augen.
"Nicht". Marie fing die Tränen auf. "Ich werde nie weg sein... ich werde immer in deiner Erinnerung bleiben, verstehst du? Ich werde als Engel durch den Himmel fliegen und auf dich aufpassen". Sophia nickte und legte ihr Gesicht in die Decke. "Denkst du, es ist schöner dort oben?", fragte Sophia, legte sich neben Marie und schaute aus dem Fenster. "Ich denke schon... Ich hab dort keine Schmerzen", antwortete sie.
"Hast du Angst?".
"Nein. Ich nehme nur die guten Augenblicke mit und meinen Teddy", sagte Marie und legte ihren Bären in die Mitte. "Und was mache ich ohne dich ? Ich werde dich nie wieder sehen und...", sie brach ab und weinte heftig. "Dein Leben ist schön, Sophia. Wir werden uns wiedersehen, irgendwann. Das verspreche ich dir und dann spielen wir wieder zusammen... in den Wolken. Nimm das hier", flüsterte sie und legte einen kleinen Stein in Sophias Hand. "Halt ihn gegen das Licht. Ich werde immer dort sein".
"Okay. Ich liebe dich, meine beste Freundin. Du wirst immer mein Vorbild sein... ich wünschte, ich wäre so stark wie du", sagte Sophia, küsste Marie auf die Wange und verließ das Zimmer.
Marie verstarb in dieser Nacht. Sophia hielt jeden Tag den Stein gegen das Licht und sah innerhalb des Steins etwas, das so aussah wie ein fliegender Engel.
Marie.