Engel in Agonie
Etwas Blut fließt ihr aus der Nase, sie ist ganz blass und zittert. Ich halte sie in meinen Armen, sie ist so kalt, so unglaublich kalt und ich denke, das ist sie nicht. Sie fühlt sich anders an. Ihr Blick, ich kenne ihren Blick, das ist nicht ihrer, nicht mehr ihrer.
Ich erinnere mich ganz genau, wie einen Film spiele ich den Moment in Gedanken ab. Die Sonne scheint, sie packt mich beim Arm und sagt „komm mit“. Ich bin komplett überrumpelt. Ich denke, wer ist sie und was will sie, doch dann dreht sie sich um, kneift die Augen zusammen und lacht. Ein Lachen, das habe ich noch nie zuvor gesehen. Ein Lachen, als trage es allein die gesamte Wärme der Sonne in sich. „Du siehst nett aus, deswegen kommst du jetzt mit“. Das sind ihre Worte. Ich halte sie für verrückt, aber ich kann dieser so viel sagenden Ausstrahlung nicht absagen, ich kann gar nicht sprechen, lass mich einfach mitreißen.
Sie zieht mich quer über den Domsplatz, bis ich endlich einen Satz heraus bringe. Wo wir denn hingingen, will ich wissen. „Zu McDonalds!“ Zu McDonalds? Ich habe etwas anderes erwartet, etwas spezielleres. „Ich hab’ gleich ein Bewerbungsgespräch und bin nervös, ich will nicht alleine warten, leiste mir Gesellschaft.“
Wir bestellen etwas, unterhalten uns, lernen uns kennen, nach einer halben Stunde stellen wir uns vor, sie heißt Sara, man spricht es mit einem südamerikanischen Akzent aus, nicht wie das deutsche Sarah, sondern spitzzüngiger, das S fast wie ein Z. Ein wunderschöner Name. Sie ist mir auf Anhieb sympathisch. Wir verabreden uns für das Wochenende, sie hat eine 2-jährige Tochter, was viel Zeit in Anspruch nehme, meint sie, aber am Wochenende könne sie es einrichten, „da ist die Kleine bei ihrem Großvater.“ Der Vater, „das ist eine andere Geschichte“, jetzt müsse sie los.
Ich warte aufgeregt, sie hat einen viel versprechenden Eindruck hinterlassen und ich will nichts falsch machen. Sie kommt mit leichter Verspätung, die Kleine, „ich kann mich einfach nicht von ihr trennen“, bei mir ist sie sofort entschuldigt.
Ich frage sie, wie das Bewerbungsgespräch denn gelaufen sei, wir spazieren die Weser entlang. Ihr Blick senkt sich kurz, doch dann strahlt sie mich schon wieder an. „Sie haben leider keine Stelle für eine allein erziehende Mutter, aber das ist ok, ich werd’ schon was finden.“
Noch ein Wochenende und noch eins, wir lernen uns besser kennen, auch unter der Woche, verlieben uns, ich der brotlose Student, sie die allein erziehende Mutter auf Arbeitssuche, auf erfolgloser Arbeitssuche.
Tag für Tag vergeht und noch immer keine Arbeit. Sie wird besorgter, trauriger. Wie die Bäume ihre Blätter verlieren ohne genügend Sonnenlicht, so verlor sie ihr Lächeln, ohne Zuversicht, eine kalte Jahreszeit steht bevor und wir haben kein Geld, von dem wir uns Wärme kaufen könnten. Ich jobbe nebenbei, so viel ich kann, es reicht gerade so, ich zieh zu ihr, wir sehen uns nur noch nachts, lieben uns nur noch nachts. Sie hat so wenig und gibt soviel und ich nehme, nehme soviel ich kann und gebe zurück. Sie liebt die Kleine und sie liebt mich, doch die Kleine liebt sie über alles und ich sie dafür umso mehr.
Sie weint, das erste Mal seh’ ich sie weinen, resigniert oder vielleicht nur erschöpft. Doch sie rappelt sich Gott sei dank wieder auf. „Ich kann ihr nichts bieten, sie hat etwas Besseres verdient“, sagt sie. Die Nächte werden länger und kälter, aber ich kann ihr etwas wiedergeben, das ist lange überfällig. Die Nächte werden vertrauter. Ich gebe sie noch nicht auf. „Sobald ich mein Studium beendet habe, wird es uns besser gehen und die Kleine bekommt nichts von unserer Situation mit.“ Ich gebe ihr ein wenig Hoffnung. Doch die Decke ist feucht, auch in ihrem Zimmer, sie bekommt nichts mit, nicht bewusst, aber ihr Körper, ihr kleiner, zerbrechlicher Körper spürt die Auswirkungen der Armut. Leere Versprechungen, sie wird krank und die Ärzte können nichts mehr für sie tun. Die Nächte werden einsamer, wir können nur noch beten, sie stirbt… Niemand zum Danken... Nichts mehr zu Hoffen...
Jetzt sind wir hier, diese Erinnerungen sind nur Vergangenheit, die schönen Zeiten nur verschwommene Bilder, verräterische Illusionen. Ich habe es nicht verhindern können, mein Engel in Agonie… Wieso sie hier liegt? Was spielt das für eine Rolle? Sie liegt hier und stirbt und meine Tränen gefrieren auf ihrer Haut, so kalt ist sie; wer bist du und was hast du mit Sara gemacht, sie war so voller Wärme. Ich will dich zurück, meine Seele, in den Fängen eines erbarmungslosen Schicksals. Doch ich erkenne es, nicht du bist es, die sich verändert, die ihre Wärme verliert, ich bin es, der seine Seele verloren hat. Jetzt verstehe ich, wieso dein Blick so leer ist, mich nicht erreichen kann, ich kann ihn nur nicht sehen. Ich werde dich begleiten, und dein Lachen wird ewig sein. Ich lass dich niemals im Stich.