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Engel am Bahnhof
Jeden Tag steht sie dort. Mitten in der Bahnhofshalle am Zürcher Hauptbahnhof. Zwischen Snack-Bars, gestressten Menschen, ankommenden Zügen und staubigen Baustellen. Ihr Mantel reicht ihr bis zu den Knöcheln, ihr Rücken ist krumm und alt. Doch hat sie den Kopf stets angehoben, beobachtet die Menschen, die Züge, das Leben. Ihre Haare sind grau, doch immer sorgfältig zu einem Knoten zusammengebunden. Jedes Mal wundere ich mich, wie ihre schwachen Glieder sie den ganzen Tag tragen können. Aber ihr Gesicht drückt keinerlei Anstrengung aus. Es ist zwar alt und faltig, aber ihre kleinen Augen glitzern immer glücklich. Manchmal setzt sie sich in ihren Rollstuhl, um sofort einzunicken. Zwischen lauten Durchsagen und hektischen Zurufen. Wenn sie so dasitzt sieht sie aus wie ein Engel, der Ruhe und Frieden verströmen will, an einem Ort wo es außer für Hektik und Stress nicht für viel mehr reicht. Doch bald erwacht sie, stellt sich wieder hinter ihren Rollstuhl und betrachtet alles um sie herum. Warum sie wohl dort steht? Wer sie wohl ist? Kein Wort habe ich je über ihre Lippen kommen hören. Spät am Abend ist sie plötzlich verschwunden, ich weiss nicht wohin. Aber schon am nächsten Morgen, wenn die ersten Frühaufsteher die Bahnhofshalle durchqueren, wird sie wieder da stehen. An genau derselben Stelle wie heute. Vielleicht ist sie ja wirklich ein Engel. Und wenn nicht, dann ist sie das zumindest für mich. Der Engel am Bahnhof.