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Entschlackt am 11.11.21
Endstation
Ich musste nach Stuttgart. Es war verdammt knapp!
Um zum 55. Geburtstag meiner Schwiegermutter Basehilde Möhrensack entspannt anzukommen, hatte ich mich für die Bahn entschieden, weil ich neulich in einem Werbe-Spot gesehen hatte, wie die Bahn kommt - und den Fahrgast entspannt transportiert, während er über Kopfhörer Vivaldi hört.
Nachdem der Bus zu spät gekommen war, hatte die U-Bahn eine Störung und anschließend fielen drei S-Bahnen aus. Da ich nur mit Bus-Verspätung, U-Bahn-Störung und zwei ausfallenden S-Bahnen kalkuliert hatte, blieben mir lediglich (sieben) Minuten, um meine Fahrkarte zu lösen. Ich stolperte in die Bahnhofshalle, ich war nervös.
Zu spät zum Geburtstagsessen, und die liebreizende Basehilde würde mir die Hand ihrer Tochter wieder entziehen. Auf ihrer Wertschätzungsliste kam ich sowieso erst an 267. Stelle zwischen Hamsterpisse und Kamelkacke.
Ich stürzte zum Schalter.
(Sechseinhalb). Der Schalterbeamte war beschäftigt und kritzelte mit einem Kugelschreiber in einem Buch herum. Er blickte kurz auf, um zu sehen, ob etwas Wichtiges vorlag, erkannte mich als Kunden und kritzelte dann weiter.
Ich rang ein paar Sekunden mit mir, ob ich es wagen sollte, ihn anzusprechen. Durfte ich ihn bei seiner Arbeit stören? Vielleicht war es wichtig, was er in sein Buch kritzelte. Ich blickte auf die Uhr: noch sechs.
„Ähm?“, sagte ich und schaute ihn so optimistisch an, wie es meine Panik zuließ. Meine glückliche Ehe würde enden, wenn Schwiegermutters Geburtstagsessen ohne mich startete! Frau Basehilde Möhrensack hatte ihren einzigen Sohn zur Adoption freigegeben, weil er es als Sechsjähriger versäumt hatte, 'danke' zu sagen, als sie ihm zum Geburtstag ein Buch über das Leben Julian Pickelgrubers geschenkt hatte (welcher 1867 in Afrika die Dungpicker-Käfer erforscht und dabei vor lauter Forscherdrang inmitten der Mistkäfer verdurstet war).
„Was wollen Sie denn?“, fragte der Beamte gereizt.
„Entschuldigung“, sagte ich. „Es tut mir leid, aber ich ... ich brauche eine Fahrkarte ...“
„So-so, eine Fahrkarte“, sagte er.
„Weil ich nach Stuttgart muss ...“
„Warum?“, fragte er.
„Meine ... meine Schwiegermutter feiert Geburtstag, und wenn ich den Sechzehnuhrzweiundvierzig nicht kriege, dann ...“, stotterte ich, wollte ihn auf meine Seite bringen und überzeugen davon, dass es einen triftigen Grund gab, ihn zu belästigen; da unterbrach er mich schon: „Ja, das geht sowieso nicht.“
„Warum nicht?“, fragte ich, blickte auf die Uhr.
„Darum“, sagte er.
Darum, dachte ich. Die bayrische Begründung, an welcher nichts zu hinterfragen war.
Da saß er nun. Mein Wächter des Tors. Er grinste. Der Mann war hier verschenkt ... mit seinen Talenten sollte man ihn besser als Geheimwaffe des Katastrophenschutzes im Einsatz bei Vulkanausbrüchen verwenden! Ich sah in einer Vision vor mir, wie die schreckliche, zerstörerisch-fließende Lava beim Anblick seines Zementgesichts in Sekundenschnelle gefror. Oder bei Überschwemmungen ... das Wasser tritt schon über die Ufer, und dann kommt er und sagt: „Ja, das geht sowieso nicht!“, und die Fluten ziehen sich frustriert zurück.
Er hatte sich abgewandt und kritzelte wieder. (Fünf).
„Und ein anderer ... Zug? Ich muss nach Stuttgart, ich ... da gibt’s doch bestimmt ...“, sagte ich. Mühsam drehte er sich wieder zu mir.
„Was gibt’s bestimmt?“, fragte er.
Wieder hatte ich eine Vision ... sah, wie es bei ihm abgelaufen sein musste. Als Säugling von der Mutter ausgesetzt, Vater unbekannt. Schlimme Kindheit, von einem Heim zum anderen, ständig wechselnde Bezugspersonen. All das hatte ihm gezeigt, dass die Welt feindlich war. Lange Zeit hatte sein dumpfer Wille es nicht geschafft, einen Lebensplan zu entwickeln. Und dann war er zum Arbeitsamt gegangen. Berufsberatung. Psychologische Eignungstests. Schließlich das Gespräch mit der Beraterin.
„Also, Herr Grimm“, hatte sie freudestrahlend zu ihm gesagt.
„Was?“, hatte er feindselig erwidert.
„Schauen wir mal, was wir da haben. Also: Ihre kommunikativen Kompetenzen sind in etwa so ausgeprägt wie die eines Sacks Kartoffeln, die zärtlichste Geste Ihres Lebens war ein Rempler in die Nieren, Sie haben keinerlei Freunde und nicht das geringste Einfühlungsvermögen, Sie können Tiere und Menschen nicht ausstehen und hassen soziale Kontakte ... hmm - warum werden Sie nicht einfach Schalterbeamter bei der Bahn?“
(Vier).
„Irgendwie ... nach Stuttgart!“ rief ich. „Ein Umweg von mir aus ... irgendwie mit der Bahn nach Stuttgart! Im Computer nachschauen!“
Sein Blick sagte Folgendes aus: Wegen dir jämmerlicher Nervensäge, die überhaupt keine Berechtigung zu irgendwas hat, soll ich also jetzt in dem vermaledeiten Computer eine Verbindung raussuchen? Nur damit du nach Stuttgart kommst?
Er stöhnte. Verachtung kam darin zum Ausdruck. Ein ‘Wenn man zu blöd zum Autofahren ist’ - für ihn waren Bahnfahrer allesamt Weicheier, die im Leben nicht hatten kämpfen müssen wie er. Lustlos klickte er die Maus. „Hm“, sagte er.
(Drei). Ich hörte Basehildes Stimme: „Und wer fehlt natürlich? Als ob ich es nicht vorher gesagt hätte! Der Herr Schwiegersohn!“ Ich hörte das Weinen meiner Noch-Ehefrau. Ich sank auf die Knie. „Bitte!“, sagte ich. Meine Hände kratzten an der Scheibe. „Bitte helfen Sie mir! Ich ... gebe Ihnen auch was ... hier ... meine Rolex... ist das nichts!?“ (Zwei).
Er nahm die Uhr! Ich zitterte. Er klickerdiklackerte jetzt auf der Tastatur – er bewegte sich! Noch war nichts verloren! Er tat etwas! Gleich würde er mir möglicherweise sogar eine Fahrkarte verkaufen!
„Wohin wollten Sie gleich noch mal?“, fragte er.
Ich hatte mich wieder hochgezogen und hielt mich nun mit beiden Händen fest (eins). „Nach Stuttgart!“, sagte ich, und dann: „Geburtstag! Schwiegermutter!“
„Ach, Stuttgart?“, sagte er überrascht. „Vorhin haben Sie Nürnberg gesagt. Stuttgart ist ja wo ganz woanders ... Moment ... Stuttgart... (klickediklackedi) ... der nach Stuttgart ... der ist gerade abgefahren. Das ist jetzt zu spät. Das hätten Sie gleich sagen müssen.“
Ich starrte ihn an. Ganz flüchtig hatte ich eine letzte Vision: Ich hielt ihn gepackt und wischte mit seinem Gesicht die Scheibe sauber - und dann kam die Dunkelheit. Ein Hochzeitsfoto zerriss.
Es ist schön da, wo ich jetzt bin in diesem Haus mit Veranda. Ich höre Vivaldi, während Bäume und Felder vorüberziehen, nur unterbrochen durch das Essen, das täglich um sechs Uhr abends serviert wird. Und die Bahn macht: Klickedi, klackedi ...