Mitglied
- Beitritt
- 23.01.2014
- Beiträge
- 220
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 26
Endstation
Meine Hand strich über die leere Wolldecke, die auf der Couch des Hotelzimmers lag, und es war, als richteten sich feine Haare auf, als sprächen die Fasern mit meiner Haut, sagten ihr irgendwas.
Gestern hatte sie unter ihr geschlafen.
Schmucklose, graue Fabrikhallen, die sich nur kurz neben mir aufhielten und hinter mir verschwanden. Nicht wert, den Kopf zu drehen. Weiß der Teufel, was in ihrem Inneren hergestellt wurde. Etwas, das irgendjemandem Geld einbrachte, am wenigsten denen, die an den Toren standen und hastig an ihren Zigaretten zogen. Alter dreckiger Beton, rissig, Graffitis mit hellen Flecken überall da, wo der bemalte Putz abgebröckelt war.
Sie war zugestiegen und hatte sich mir gegenübergesetzt, obwohl der ganze Zug leer war. Sie sprach kein Wort.
Die Hallen draußen waren noch da. Andere nun, die nicht anders aussahen. Aber es stand jetzt kein Mensch mehr davor. Wir verließen die Stadt. Wir verließen die Menschen. Der Schienenweg führte an einem schmalen Fluss entlang, der schmutziges Wasser und Müll führte. Vorstadt wie aus einem Endzeit-Movie, die Welt wie nach der Bombe. Manche der Fensterläden hatten sich noch verblichene grüne oder braune Flecken bewahrt, die bei genauerem Hinsehen doch nur grau waren. Der Farbeindruck nur ein Wunsch meiner Vorstellung, die sich nicht darauf einstellen wollte, dass dieses B-Movie in Schwarz-Weiß gedreht war.
Sie war klein, stämmig, hatte einen blonden Bürstenhaarschnitt. Unreine Haut. Ich war voller Dankbarkeit für den Farbfleck auf ihrem Kopf. Sie stierte vor sich hin, durch mich hindurch, als ob es mich nicht gäbe. An der Endstation stieg sie mit mir aus.
Endstation. Niemand wartete. Außer uns beiden war auch niemand ausgestiegen.
Ich verließ den Bahnsteig. Auch am Schalter in der kleinen Wartehalle, an der Imbissbude, dem Tabakkiosk. Keine Menschenseele. Kein Zug, der zurück fuhr. Ich wandte mich dem einzigen Ausgang zu. Auch kein Bus vor dem Bahnhof.
Ich nahm die Straße, die am Fluss entlang zurückführte. Bis zu der Station, an der wir zuletzt Halt gemacht hatten, konnte ich zu Fuß gehen. Dort hatte ich noch Menschen gesehen. Hier hatte ich nichts verloren.
Ich ging auf einem schmalen Gehsteig, ein rostiges Geländer zwischen mir und einem Graben. Ich hörte die Frau atmen, die jetzt neben mir schritt.
Ich fragte mich, warum ich sie nicht ansprach. „Was wollen Sie von mir?“ Warum tat ich das nicht?
Aber sie war so vollkommen unaufdringlich. War einfach da. Wie ein Schatten.
Nur um mich zu vergewissern, dass sie nicht zufällig denselben Weg hatte, verlangsamte ich meinen Schritt. Sie ebenso. Ich hatte nichts anderes erwartet.
Als ich wieder Menschen sah, fühlte ich mich falsch zwischen ihnen. Sie saßen in Autos. Es gab Ampeln und ich musste bei Rot stehenbleiben. Mein Schatten auch. Warum empfand ich keine Erleichterung?
Die Frau folgte mir in den Bahnhof, bestieg mit mir den Zug, der zurück ins Zentrum fuhr, ging neben mir, bis wir vor dem Eingang meines Hotels standen. Den Zimmerschlüssel hatte ich nicht abgegeben.
Noch hatten wir kein Wort miteinander gewechselt.
Im Lift war es eng zwischen uns. Sie stand mir gegenüber und ihre Brüste berührten mich fast.
Wir stiegen aus. Sie folgte mir durch den schmalen Korridor. Ich hörte sie nicht, weil ihre Schritte sich meinen anpassten, obwohl sie so viel kleiner war als ich. Und weil der blaue muffige Teppich, der die Fußbodenleisten mit bezog, die Schritte dämpfte.
Aber ich wusste, dass sie da war.
Die schmalen Türen, die wir passierten, waren mit einer Schicht rissiger, aufgeklebter Holzfolie beklebt. Es roch modrig und nach Putzmitteln. Am Ende des Korridors, mein Zimmer.
Als ich es betrat, schloss sie die Tür hinter mir.
„Wer bist du?“
Ich wusste nicht, ob sie die Frage erwartet hatte. Vielleicht dachte sie, wenn ich sie bisher nicht gestellt hatte, bräuchte ich die Antwort nicht.
„Ich dachte, du fragst nicht, weil du es weißt.“
Natürlich wusste ich es, aber was bedeutete Wissen?
Wusste ich, warum ich hier war? Noch einmal diese Stadt sehen, in der ich nicht mehr gewesen war, seit ich die Mauer überwunden hatte.
Als es sie Jahrzehnte später nicht mehr gab, wollte ich nicht zurück. Wollte sie nicht sehen, herausgeputzt, fremd geworden.
Aber jetzt nach der Diagnose. Noch einmal die Orte, wo ich gespielt hatte, wo meine Schule war. Ich hatte nichts wiedergefunden. Alles war unkenntlich oder nicht mehr da. Nur die Menschen sprachen so, wie ich längst verlernt hatte, zu sprechen.
Natürlich wusste ich, wer diese Frau war.
„Du kommst früh“, sagte ich.
„Ich? Du warst zu früh. Du hast dich doch auf den Weg gemacht. Vor der Zeit. Solche Sehnsucht nach Stille?“
Ich blickte zu Boden. Auf den verschlissenen Teppich, auf den Koffer, der aufgeklappt auf dem Boden vor dem Schrank lag. Ich hatte noch nicht alles ausgepackt.
„Ich hab dich zurück begleitet, weil die Zeit noch nicht da war.“
„Gehst du wieder?“
„Ich schlafe ein paar Stunden“, antwortete sie und blickte sich im Zimmer um. „Ich bin müde. So einen Menschentrubel bin ich nicht gewohnt. Wenn du aufwachst, bin ich weg. Du kennst ja den Weg. Und du wirst wissen, wann du aufbrechen musst.“
Sie griff sich die Wolldecke, die zerknüllt am Fußende meines Bettes lag, weil mir heute Morgen kalt gewesen war. Wie so oft in der letzten Zeit. Sie legte sich auf die Couch, rollte sich ein und gab schon nach wenigen Augenblicken ein leises Schnarchen von sich.
Ich kroch in mein Bett. Auch ich war müde. Dachte an die farblose Welt vor den Zugfenstern, an den Bahnhof, der nicht das Ziel sein konnte. Hörte das laute Atmen von der Couch.
Als ich wach wurde, dämmerte es und sie war weg.
Ich fühlte noch Kraft in mir. Kraft zu denken, Kraft, die Bilder zu betrachten, die in mir auftauchten. Kraft, hinzunehmen, zu bleiben, zu warten.
Eines Morgens nicht mehr.
Ich fand das Gleis. Fand den Zug wartend. Er war bereits voll.
Ich wusste, wo die Menschen aussteigen würden. Spätestens.
Ich blieb sitzen. Sie stieg ein. Blieb neben der Tür stehen, sah mich.
Der Zug fuhr wieder an.
Sie lächelte, zog die Jacke aus, den Pullover. Ihr Oberkörper war jetzt nackt. Muskulös, wie der eines Mannes. Auch ihre Brüste wie Muskeln.
Aus den Schulterblättern wuchsen weiße Flügel, entfalteten sich langsam, gerade soweit, wie es die Enge des Zuges zuließ.