Endstation
Die Drecksau hat mich kalt erwischt, das muss ich zugeben. Völlig aus dem Nichts ist er gekommen. Er stieg ein, sah nichts, weil seine Brille beschlug, und siegte trotzdem. Jedenfalls glaubt er, dass er gesiegt hat. Aber ich bin noch hier. Ich warte auf ihn.
Ich bin seit über fünfzehn Jahren mit dem Bus zur Arbeit gefahren. Jeden Tag habe ich dieselben Leute gesehen ohne je mit ihnen gesprochen zu haben. Ich habe sie nur immer so benannt, wie ich dachte, dass sie heißen könnte. Die ältere Blonde mit den Locken und dem verbrauchten Gesicht nannte ich Roswita. Sie hat meistens gelesen und manchmal, wenn sie nicht gelesen hat, aus dem Fenster gesehen, auf die nebligen Felder, wo man manchmal Rehe sehen konnte. Erwin, der Busfahrer, roch immer nach Rheumasalbe und grunzte, wenn ich meine Karte zeigte. Und dann war da Herbert. Bei ihm weiß ich tatsächlich, dass er so heißt. Er hat es mir gesagt.
Herbert ist auch der Grund, warum es mich ein paar Tage viele, viele Nerven gekostet hat, morgens in den Bus zu steigen. Er ist neu in der ‚Stammcrew’.
Herbert steigt immer zwei Haltestellen nach mir ein. Er trägt eine lindgrüne Jacke, Jeans, dunkelblaue Wollhandschuhe und eine Brille, die beschlägt, wenn er einsteigt. Außerdem hat er eine dezente schwarze Aktentasche bei sich, die einen sonderbaren Kontrast zu Herberts sonst eher legerem Outfit bildet.
Als er vor zwei Wochen zum ersten Mal einstieg, konnte ich natürlich nicht ahnen, dass er von jetzt an öfter auftauchen würde. Schließlich befördert der Bus jeden Tag auch eine gewisse Menge von Leuten, die nur einmal mitfahren und dann nie wieder gesehen werden. Komparsen nenne ich sie. Aber Herbert kam jeden Tag wieder. Am Montag, hatte ich mich damit abgefunden, dass wir ein neues Mitglied in unserer Runde hatten. Damals deutete noch nichts darauf hin, dass er die Runde sprengen würde. Ich überlegte, wie Erwins Frau heißen mochte, sah, dass Roswita ein neues Buch liest und dann kam Dienstag - da begann Herbert komisch zu werden.
Ich stand im hinteren Teil, in der Nähe der Tür und sah ihn einsteigen. Da vor neun Uhr morgens und nach acht Uhr abends nur vorn bei Erwin eingestiegen werden darf, konnte Herbert kaum weiter von mir entfernt sein. Er zeigte seine Fahrkarte, ging an der Frau im roten Mantel und dem Russen vorbei (beide zur Stammcrew gehörend) und stellte sich in den mittleren Teil. Daran ist nichts Verwerfliches. Aber nach ein paar Sekunden erblickte Herbert, über all die Köpfe hinweg, die zwischen uns lagen, mich. Ich hatte ihn natürlich beobachtet – er war ja der Neue. Sein Blick traf mich so unvorbereitet, dass ich noch nicht einmal wegschauen konnte. Es dauerte vielleicht zwei Sekunden, kam mir aber wie eine Ewigkeit vor. Seine Augen penetrierten mich, es war obszön. Und dann passierte es: Aus der reglosen Erstarrung heraus, lächelte er. Einfach so. Ich war so schockiert, dass ich fast meine Stange losgelassen hätte, als der Bus wieder anfuhr. Warum hatte er das getan, so zu lächeln? Machte er sich über mich lustig? Andere hatte er noch nicht belästigt. Den Rest des Tages verbrachte ich damit, mir den Kopf zu zerbrechen, was dieses Lächeln zu bedeuten hatte. Heute weiß ich es: Eine zynische Geste, die mich auf das vorbereiten sollte, was noch kam.
In der Nacht auf Mittwoch schlief ich schlecht.
Donnerstag war ich noch immer so irritiert, dass ich ihn nicht beobachten konnte.
Aber Freitag war ich wieder voll auf der Höhe. Unser erster Augenkontakt seit Dienstag; der zweite Augenkontakt überhaupt. Ich hatte Glück und ergatterte einen Sitzplatz ganz hinten im Bus, konnte also alles überschauen. Herbert stieg ein, stellte sich an dieselbe Stelle, wie Dienstag, ließ den Blick schweifen und sah mich. Es sollte vermutlich wie ein Zufall aussehen. Gekonnt inszeniert. Er lächelte mich wieder an. Nach einem kurzen Schreck, war ich ganz ich selbst. Diesmal konnte er mich nicht überraschen. Ich war hier schon seit fünfzehn Jahren. Er erst seit ein paar Tagen. Von dem lasse ich mich doch nicht runterputzen! Und voller Tatendrang, diesen Kerl in die Schranken zu weisen, schoss ich zurück. Es war kein Sturmangriff, aber ein deutliches Zeichen. Ich nickte ihm zu. Minimal. Kaum vernehmbar. Aber er hat es gesehen. Natürlich. Das ist einer von denen, der so tut, als könnte er kein Wässerchen trüben. Nach meinem Kopfnicken, wandte er den Blick ab. Sein breites Grinsen erstarb zu einem Lächeln. Das Wochenende verbrachte ich mit einem triumphierenden Hochgefühl. Und dann kam Montag.
Vermutlich war der letzte Dienstag für seine erste Aktion von ihm taktisch gewählt. Er wusste, dass ich mich davon erholen musste und nach dem Wochenende umso energischer sein würde. Dann schenkt er mir den kleinen Sieg und baut mich noch weiter auf. Das kleine Arschloch.
Montag also: Herbert steigt ein, sucht mich, findet mich, grinst blöd, wie immer, und dann, bevor ich nicken kann, hebt er die Rechte, öffnet die Hand und winkt mir zu! Keine große Geste. Nur ein bisschen die Hand bewegt. Trotz dieser Unverschämtheit bringe ich ein Nicken zustande. Aber es erscheint mir, wie mit einem Luftgewehr auf einen Güterzug zu schießen. Der Kerl ist mit allen Wassern gewaschen.
In der Nacht zu Dienstag habe ich schlecht geträumt. Herbert ist in mein Haus eingebrochen, hat mich ans Bett gefesselt und mir nach und nach alle Gliedmaßen abgeschnitten. Ich bin schweißgebadet aufgewacht und habe mich, nachdem ich mich wieder etwas beruhigt und mir einen Tee gekocht hatte, gefragt, was der von mir wollen könnte. Ich habe doch nichts. Keine Frau, kein Geld, nur 79 m² in Stadtnähe. Ich wusste es nicht. Und weiß es bis heute nicht.
Mittwoch war mein letzter Tag im Bus.
Ich stand wieder hinten, direkt vor der Tür; er in der Mitte - und ließ den Blick unauffällig schweifen. Er sah mich, lächelte, nickte. Und dann ließ Herbert seinen Haltegriff los, hob die Tasche auf, die zwischen seinen Kunstlederschuhen stand, und kam auf mich zu. Hangelte sich, wie ein Affe von Stange zu Stange (der Bus war inzwischen weitergefahren), fragte hier und da, ob er mal durch dürfte und manövrierte seine Tasche um die Leute herum. Und dann war er da. Stellte die Tasche zwischen mich und sich auf den Boden, hielt sich mit der Linken fest und reichte mir grinsend die Rechte. „Hallo, ich bin Herbert.“, hat er gesagt. Meine Augen weiteten sich, Angstschweiß trat mir auf die Stirn. Ich spürte regelrecht, wie meine Schilddrüse Hormone ausspie. Fluchtreflex. Ich konnte nichts sagen. Herbert sah mich erwartungsvoll an, tat so, als könnte er meine Panik nicht sehen. Seine Hand schwebte noch zwischen uns. Nächste Haltestelle. Die Hydraulik des Busses schnaubt. Bremsen quietschen leise. Die Tür öffnet sich, ich stürze hinaus, renne nach Hause, ohne mich ein einziges Mal umzusehen. Komme an, zittere immer noch, schließe mich ein.
Ich habe die Wohnung seitdem nicht mehr verlassen. Heute ist wieder Montag. Meinen Job bin ich vermutlich los. Die letzte Dosenkonserve habe ich gestern gegessen. Mein Magen knurrt schon. Leider habe ich kein Telefon – nur ein Handy, das in meiner Wohnung keinen Empfang hat. Einen Apfel habe ich noch. Seit Mittwoch früh habe ich insgesamt sieben Stunden geschlafen. Ich halte Wache im Flur, auf einem Klappstuhl. Heute Nacht habe ich Schritte vor der Tür gehört. Der Supermarkt ist gleich über die Straße, aber ich komme nicht raus! Der kriegt mich nicht klein! „Hörst du mich, Herbert?! – Du kriegst mich nicht!!“