Mitglied
- Beitritt
- 04.10.2015
- Beiträge
- 18
Endstation
Seit Stunden starrte Gabriel aus dem Fenster des Zuges in die seelenleere Nacht hinaus. Während seine Blicke auf die vorbeiziehenden Laternenlichter gerichtet waren, galten seine Gedanken längst Vergangenem. Seinem Auszug von Zuhause und dem letzten eskalierten Gespräch mit seinem Vater, den er seit damals nicht mehr gesehen hatte. Der Vater hatte ihn vor die Wahl gestellt, ihm den Rücken zu kehren – er sollte sich dann Zeit seines Lebens nie wieder anmaßen, ihm unter die Augen zu treten – oder aber, zu gehorchen und den Familienbetrieb, eine kleine Bücherei, in vierter Generation, weiter zu führen. Es war Gabriels sehnlicher Wunsch gewesen Astronomie zu studieren und so riss ihn der Sog des Unbekannten aus den Fußstapfen des Vaters, hinaus in die Welt.
Die anderen Passagiere dürften es ihm – einem unscheinbaren Mann in den späten Vierzigern, gekleidet in dunkelgrauem Mantel, der Hut farblich passend – nicht angesehen haben, sie werden eigene Probleme beschäftigen, dachte er, aber Gabriel marterten Zweifel. Sollte er beim nächsten Halt umsteigen, den erstbesten Zug in die entgegengesetzte Richtung, zurück zu Frau und Kind nehmen oder sollte er endlich Abschied nehmen vom Vater, der ihm selten als solcher erschienen war, der ihm Steine in den Weg gelegt hatte, seit er lebte, und Schuld auf seine Kinderschultern geladen hatte, so als hätte er sie tragen können? Er wünschte sich, das Leben würde, nur heute Nacht, nur für die Tragweite dieser Entscheidung, auf Gleisen fahren, unbeirrt einer Richtung folgend, wie dieser Zug es tat.
Das sanfte Rütteln der Schaffnerin weckte ihn. „Habe ich geschlafen, junge Dame?“, fragte Gabriel noch benommen, worauf sie ihm lächelnd antwortete: „Ja mein Herr, aber wer würde das nicht, um diese Uhrzeit? Wir sind in Offenburg, hier ist Endstation für heute Nacht.“
Offenburg, das war sein Geburtsort, hier hatte er seine Jugend verbracht und hier war er nun, um Abschied zu nehmen, bevor er endgültig fort ging. „Endstation!“, flüsterte er sich selbst beim Aussteigen nochmals zu.
Während des kurzen Fußmarsches zu seinem Elternhaus dachte er darüber nach, dass die Ironie wie ein Pinsel ist, mit dem das Schicksal feine Linien zeichnet, scheinbar fehlerhafte, komische Linien, die – wie man erst im Alter bemerkt, wenn man es mit etwas Abstand betrachtet – im ganzen Werk aber unverzichtbar mitwirken. Trotzdem er nicht erwartet hätte, jemals wieder auf diesen Straßen zu gehen, war er unberührt von all dem, was ihn umgab, gestand dem Städtchen weder Augenblick noch Atemzug bewusst zu und so nahm er gar nicht wahr, dass jemand, dass etwas ihn beobachtete, von oben. Erst vor dem Haus des Vaters machte er halt. Die Bücherei im Erdgeschoss stand leer, ausgeräumt, und alles, was die großen Fenster noch zierte, war ein Schild mit der Aufschrift „Räumlichkeit zu vermieten“. Es brauchte etwas Zeit, etwas Überwindung, diese Barriere aus Empfindungen – Schuld, Schamgefühl, schlichtem Hass und Sehnsucht – zu durchbrechen, um an der Tür zu läuten. Helene, seine Schwester, die er ebenfalls jahrelang nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte, öffnete ihm sehr bald. Das Wiedersehen war so gar nicht, wie sie es sich beide oft vorgestellt hatten. Er sah in ihren glasigen Augen, was sie daraufhin aussprach: „Gabriel, du kommst zu spät.“