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Endstation

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06.10.2001
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Endstation

Die Türen schlossen sich automatisch. Die meisten Fahrgäste hatten sich bereits einen Platz in der Straßenbahn gesichert und schauten müde aus den verregneten Fensterscheiben. Unter den vielen Gesichtern konnte ich keines ausmachen, das mir im entferntesten bekannt vorkam. Als ich auf dem Weg zur Fahrerkabine an den links und rechts von mir befindlichen Personen vorbeischlenderte, schien sich niemand auch nur im Geringsten für meine Aktivität zu interessieren. Höchstwahrscheinlich hätte ich auch splitterfasernackt, wie Gott mich schuf, den Weg zu meiner am anderen Ende der Stadt befindlichen Arbeitsstelle antreten können, ohne dabei einen einzigen Pfiff oder gar ein empörtes Kopfschütteln zu ernten. Die Ignoranz der Außenwelt schien sich in zahllosen Augenpaaren und sauber zurechtgezupften Schnurrbärten widerzuspiegeln. Ein Mann mit Aktentasche warf mir einen kurzen Blick zu, vermutlich in der Hoffnung einem unvorhersehbaren Hindernis zu entgehen, senkte jedoch in Windeseile den Kopf und begann eine schier endlose Suche anzutreten, die in seiner ledernen Tasche endete. Die spontane Reaktion war, so trickreich der Kerl auch vorging, nichts anderes als der verzweifelte Versuch beschäftigt zu wirken. Nachdem ich ihn passiert hatte und mich nun in den vordersten Teil der Bahn vorwagte, stieß mich ein kleines Kind sanft in die Seite, wurde aber im nächsten Moment von einer drohenden Stimme, die aus der Ecke einer Vierersitzbank ertönte, dazu aufgefordert sich still zu verhalten. Zu meiner rechten saß eine ältere Dame, deren Faszination offenbar dem grau-weißen Karomuster des ihr gegenüberliegenden Polsterstuhls galt. Sie war gefangen von den roten und lilafarbenen Dreiecken auf seinem abgeschabten Untergrund, die der tristen Sitzmöglichkeit einen Hauch künstlerischen Ambientes verliehen. Im Vorbeigehen betrachtete ich den von ihr fixierten Punkt ausführlich, konnte allerdings keine Besonderheit entdecken und setzte meinen Weg fort. Gerade als ich die durchsichtige Glaswand, die mich vom Fahrer trennte, erreichte, wurde ich von einem unliebsamen Rucken erfasst und griff reflexartig an eine der Eisenstangen, die man in Verzweigungen überall in der Bahn angebracht hatte.

„Entschuldigen Sie“, sagte ich zu dem apathisch wirkenden Herrn hinter den bunten Knöpfen und Schalthebeln, dessen Konzentration es ihm allem Anschein nach nicht erlaubte, mich eines Blickes zu würdigen. Es musste schwierig sein, ein öffentliches Verkehrsmittel zu steuern, das sich auf festgelegten Schienen bewegt. Auf die Gefahr hin, dass er mir keine Beachtung schenken würde, stellte ich ihm dennoch die Frage:
„Fahren Sie Richtung Simmershäuserstraße?“
Mit skeptischer Miene wand er sich zu mir um.
„Simmershäuserstraße,“ wiederholte er kritisch und betonte dabei jede Silbe des Wortes.
„Ja, ich bin auf dem Weg zu dieser Haltestelle,“ gab ich in verunsicherter Weise von mir.
„Sie befinden sich in der Linie 3.“
„Das ist mir bekannt, doch meine Frage richtete sich nach ...“
Er unterbrach mich.
„Die Linie 3. Haben Sie denn keinen Fahrplan?“ erkundigte er sich empört.
Irritiert trat ich von einem Fuß auf den anderen.
„Wissen Sie, das ist so ... ich bin noch nicht lange in dieser Stadt. Bisher hatte ich ja noch keine Möglichkeit....“
„Pah!“ entgegnete er lautstark, „nichts als faule Ausreden! Ein Fahrplan ist doch wohl die Grundvoraussetzung, um mit der Straßenbahn zu fahren.“
Nervös fing ich an zu stottern, doch mein Gegenüber hatte seinen Vortrag noch nicht beendet.
„So einer sind sie also!“
„W-w-wie meinen Sie das?“ stammelte ich. Schweißperlen standen mir auf der Stirn.
„Na, Sie wissen schon ganz genau, was ich meine. So einer eben! Ein normaler Mensch setzt sich doch nicht einfach in die nächste Bahn und fährt ins Ungewisse. Ziellos und ohne eine Vorstellung, wo die Reise hingeht! Ja, wo kommen wir denn da hin, junger Mann?“
Ich suchte nach einer Erklärung, die mein Verhalten rechtfertigte, doch es fiel mir nichts Passendes ein. Zitternd klammerte ich mich um die Stange, an der man den Halteknopf angebracht hatte.

„Ich habe ja schon viel erlebt“, brummte der Fahrer nun sichtlich erregt, „doch das ist mit Abstand das Höchstmaß an Frechheit! Wie kann man sich nur einbilden, einfach so, mir nichts dir nichts ...“
Er musste Luft holen. Sein Gesicht hatte mittlerweile die rote Farbe der netten kleinen Dreiecke auf den Sitzgarnituren angenommen.
„Als ob die ganze Welt ein Vergnügungspark ist!“
Seine blitzenden Augen durchbohrten mich.
Voller Entsetzen bemerkte ich die pulsierende Schlagader, die sich deutlich auf seinem Hals abzeichnete als er mir in höchster Rage die schlimmsten Vorwürfe entgegenschleuderte.
„E-es es ist j-ja nicht so wie sie denken, “ versuchte ich ihm klar zu machen, „ich war mir nur nicht ... sicher, ob Sie nun an der Haltestelle ...“
„Haben Sie denn überhaupt eine Fahrkarte, junger Mann?“
Panik erfasste mich und das Gefühl einer nahenden Ohnmacht. Mit letzter Kraft presste ich meinen Daumen bebend vor Angst auf den kleinen Knopf an der Eisenstange, während ich wild gestikulierend hervorbrachte:

„Hören Sie, ich war gerade im Begriff einen Fahrschein zu kaufen, das müssen Sie mir glauben! Ich musste mich doch nur erst vergewissern ...“
„Unsinn!“ brüllte der Fahrer zornig. Die heftig pochende Halsschlagader drohte unter dem enormen Druck seines wutentbrannten Gesichts zu platzen als er in unwillkürlicher Reihenfolge einige der Hebel in seiner Kabine betätigte.
„Erst planlos durch die Gegend fahren und dann auch noch ohne Fahrschein!“
Seine Stimme überschlug sich als er mir Phrasen und Fetzen einer Liste aus Vorwürfen zurief, deren ich mich nicht zu rechtfertigen wagte. Wie angewurzelt stand ich da. Es musste ein Zeichen des Himmels gewesen sein als es plötzlich wieder ruckte und die Bahn im nächsten Moment stillstand. In Zeitlupe rauschten die Dinge an mir vorbei und ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen als wie durch ein Wunder die Tür neben mir ein zischendes Geräusch von sich gab. Langsam öffnete sich der dünne Spalt.

„Und glauben Sie ja nicht, dass ich Sie ungestraft davonkommen lasse! Kontrolleur! Kontrolleur!“ schrie der Fahrer hysterisch, doch es war bereits zu spät. Der Mechanismus der Tür hatte sich bereits automatisch in Gang gesetzt. Noch bevor er den zum Schließen benötigten Knopf auf dem Armaturenbrett gefunden hatte, warf ich den gleichgültigen Mienen der übrigen Straßenbahninsassen noch einen letzten Blick zu – und sprang.
Im Flug vernahm ich die monotonen Laute der aufeinander zurasenden Türhälften. Das Gebrüll des Fahrers. In Sekundenschnelle erreichte ich den regennassen Asphalt, auf dem man eine gelbe Markierung zur besseren Übersicht der Einstiegsmöglichkeiten errichtet hatte. Ein dumpfer Aufprall folgte, bei dem ich mir heftig das Knie an der Haltestellenbegrenzung anschlug. Ich rollte mich dabei seitlich ab, um den völlig ahnungslosen Passanten zu entgehen, die mich nicht beachteten und an mir vorbeimarschierten. Stöhnend schleppte ich mich zu einem der Plastiksitze unter der überdachten Bahnstation. Im Inneren der Linie 3 war es noch immer so ruhig wie zu Beginn der Fahrt. Emotionslose Fratzen schauten in die Ferne, einige kramten in Taschen, andere inspizierten die Gummiumrandung der Haltegriffe an den vorderen Plätzen. Nur das kleine Kind hatte sich an die Scheibe gedrängt und schenkte mir ein neugieriges Lächeln. Nachdem es sich einmal kurz umgedreht hatte, verschwand es wieder in der namenlosen Masse. Als die Bahn endlich weiterfuhr, stieß ich einen Seufzer der Erleichterung aus.
„Entschuldigen Sie“, hieß es da von der Seite, „können Sie mir sagen wie spät es ist?“
Ich ignorierte den Fremden. Immerhin war es nicht meine Schuld, dass er sich keine Uhr leisten konnte. Ein befriedigendes Gefühl durchdrang mich als ich feststellte, dass es gar nicht so schwer war sich anzupassen.

[Beitrag editiert von: mea parvitas am 10.04.2002 um 10:26]

 

Hi mea,

anfangs dachte ich; Nanu, was soll denn das für eine Geschichte sein oder werden? Aber dann wurde sie immer besser. Den Schluß konnte ich mir zwar schon vorher denken, aber trotzdem; gut geschrieben und echt nicht schlecht, die Story! ;)

Hat mir gefallen.

Gruß
stephy

 

Hallo mea parvitas,

in der Tat nicht schlecht die Geschichte, obwohl sie sich eine zeitlang etwas zu "abenteuerlich" verhielt, für eine simple Straßenbahnfahrt.
Doch die Beschreibung der Gleichgültigkeit der Fahrgäste und die eigene Aussichtslosigkeit wurden durch dieses Abenteuerliche lediglich untermauert.
Der Schluß war zwar ziemlich absehbar, hat aber trotzdem als Abrundung des Ganzen gut gepaßt.

“ versuchte ich ihm zu klar zu machen,
Wohl ein "zu" zuviel, hm? ;)


Gruß, Hendek

 

Normalerweise halte ich mich aus Rechtschreibfehler-Korrekturen raus, aber "ZU klarZUmachen" hört sich wirklich ein wenig seltsam an.

Sorry.

 

Wirklich eine hervorragende Geschichte. Sehr interessant. Einfach genial. Mehr kann ich dazu nicht sagen außer... WOW!

[Beitrag editiert von: Detlef Schröder am 11.04.2002 um 09:44]

 

@ Pipilasovskaya:

Jaaa, weiß ich doch, aber wenn du meinen Text lesen würdest, dann könntest du feststellen, dass der Fehler schon längst korrigiert wurde! :)

Deshalb auch das kleine Augenzwinkern hinter "das sehe ich nicht so ..."

 

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