Endstation
Etwa ein halbes Jahr nachdem Agnes Trust, wohnhaft in Hannover List, ihren Mann als vermisst gemeldet hatte, fanden zwei Gleisarbeiter der Verkehrsbetriebe Köln in einem U-Bahnschacht mehrere mit Bleistift beschriebene Seiten, die mit einem Stein beschwert worden waren. Die Handschrift wurde eindeutig als die von Torsten Trust identifiziert. Der Inhalt war folgender:
Zwei Fälle ungewöhnlichen Verschwindens sind überliefert und aktenkundig: Zum Einen verschwand mein Urgroßvater väterlicherseits im Alter von fünfunddreißig Jahren. Er hieß Johannes Mielke, und sein Ruf als Dorflehrer war tadellos. Der damalige Vorfall beschämte und blamierte seinerzeit einen Zauberkünstler, der einem Wanderzirkus angehörte. Noch am Tag des Verschwindens meines Urgroßvaters verlor der Mann sein Engagement. Es heißt, er habe nie wieder eines bekommen und sei schließlich dem Alkohol erlegen.
Es geschah an einem Sonntag in der Nachmittagsvorstellung. Der Zirkus hatte sein Zelt auf dem Marktplatz des Dorfes aufgestellt, und abgesehen von den Alten und Kranken waren alle Bewohner erschienen, um den angekündigten Sensationen beizuwohnen. Das Programm war bescheiden. Tiere gab es, bis auf zwei abgemagerte Hunde, die durch einen Reifen sprangen und einen Papagei, der anzügliche Vierzeiler aufsagte, keine. Aber es gab Jongleure und einige Artisten, die einen Salto springen konnten. Ein Zwerg blies auf einem Kamm, und der angeblich stärkste Mann der Welt verbog eine dicke Eisenstange. Die Männer wurden aufgefordert, mit ihm einen Boxkampf austragen, aber niemand traute sich zu, den Mann zu besiegen. Die Sensation des Nachmittags war der bereits erwähnte Magier, der Alt und Jung zum Staunen brachte. Als Höhepunkt seiner Vorstellung ließ er einen Zuschauer, in diesem Fall meinen Urgroßvater, in eine schwarze Holzkiste steigen, die sich senkrecht, wie ein hochkant stehender Sarg, auf einer Drehscheibe befand. Auf der Kiste stand in großen weißen Lettern das Wort „ZUKUNFT“. Mein Urgroßvater stellte sich unter großem Applaus hinein. Er winkte noch einmal seinen fünf Kindern und seiner Frau Maria, dann wurde die Kiste verschlossen. Langsam begann sie sich zu drehen, so dass sie von allen Seiten zu sehen war. Der Zauberer sprach seine magischen Worte, klopfte mit einem Stab dreimal auf die Kiste und rief dann den Namen meines Urgroßvaters. Als keine Antwort kam, verkündete er, Johannes Mielke befinde sich nun in der Zukunft. Das Publikum hielt den Atem an, und es war mucksmäuschenstill als die Kiste geöffnet wurde. Sie war leer. Jetzt ging ein Staunen und Flüstern durch die Zuschauerreihen. So etwas hatte man hier noch nie gesehen. Die älteste Tochter von Johannes Mielke, Sigrid, begann zu weinen und rief nach ihrem Vater. Der Zauberer beruhigte sie. Er versprach, ihren geliebten Papa unverzüglich in die Gegenwart zurückzuholen. Die Kiste wurde verschlossen, es folgten magische Worte sowie drei Schläge mit dem Zauberstab, aber nichts geschah. Die Kiste blieb leer. Der Zauberer versuchte die Panne mit ein paar Witzchen zu überspielen, doch dann war seine Unsicherheit nicht mehr zu übersehen. Er wurde nervös. Schließlich drosch er verzweifelt auf der Kiste herum. Vergeblich, mein Urgroßvater sollte nie wieder auftauchen.
Der zweite Fall ist weniger spektakulär. Der Enkel der ältesten Tochter meines Urgroßvaters, ein Lehrer namens Martin Brenner, den meine Eltern Onkel Martin nannten, verschwand ebenfalls auf mysteriöse Weise im Alter von fünfunddreißig Jahren. Nachdem die beiden Kinder zu Bett gebracht worden waren, saßen Onkel Martin und seine Frau Rosi vor dem Fernseher, um das Abendprogramm zu verfolgen. Als eine Bildstörung auftrat, vermutete Onkel Martin, dass die tags zuvor neu installierte Antenne nicht ordnungsgemäß ausgerichtet worden war. Also stieg er über eine Luke im Dachboden hinaus aufs Dach, um den Schaden zu beheben. Währenddessen stand seine Frau Rosi im Garten, beobachtete durch das Fenster das Fernsehgerät und sagte ihrem Mann, was sich auf dem Bildschirm tat. Nach wenigen Minuten war die Antenne justiert. Martin Brenner stieg durch die Luke zurück auf den Dachboden und tauchte nie wieder auf.
In unserer Familie wurde über diese Fälle eher gewitzelt, und jeder hatte seine eigenen Erklärungen. Am häufigsten wurde die Meinung vertreten, die beiden Männer seien ihrer Frauen und ihres Lebens überdrüssig gewesen und hätten sich schlicht mit einer Geliebten aus dem Staub gemacht. So wie der häufig zitierte Zigarettenholer. Immer wenn die Sprache auf sie kam, wurde ein altes Foto von Onkel Martin herumgereicht. Ich selbst schenkte dem Foto und diesen Geschichten keine große Aufmerksamkeit. Sie interessierten mich nicht, bis es mich vor drei Monaten selbst traf.
Im Oktober vergangenen Jahres verschwand ich, Torsten Trust, unverhofft und ohne mein Zutun aus dem Leben meiner geliebten Frau Agnes, meiner Kinder Florian und Sven, meiner Kollegen und meiner Schüler. Meine körperliche und seelische Verfassung ist katastrophal. Ich befinde mich in den dunklen Tiefen eines U-Bahn-Schachts vor einer schmalen Holztür. Die Lichtverhältnisse sind sehr schlecht, aber ich muß diese Zeilen niederschreiben. So unglaublich es klingen mag, jedes Wort ist wahr. Das schwöre ich bei meinem Leben. Wenngleich dieser Schwur wie Heuchelei scheinen mag, weil ich heute im Begriff war, meinem Leben ein gewaltsames Ende zu setzen. Ja, so groß ist die Verzweiflung. Ich werde mich so kurz wie möglich fassen, da es mir an Kraft und Papier fehlt.
Vermutlich ist heute der 8. Januar. Es ist kalt. Einen Tag vor dem neunundzwanzigsten Geburtstag meiner Frau, am 13. Oktober, sah ich meine Familie das letzte Mal. Wie gewöhnlich fuhr ich an jenem Tag in die Schule. Gesprächsthema war die für den nächsten Tag geplante Klassenfahrt nach Schleswig. Die Schüler waren neugierig auf die rothaarigen Moorleichen, die wir im dortigen Museum Schloss Godorf besichtigen würden. Auf dem Heimweg fiel mir ein, dass Agnes seit Tagen von einer Lampe in Zitronenform schwärmte, die sie in einem Ikea-Katalog gesehen hatte. Da ich wegen der Klassenfahrt erst spät am Abend ihres Geburtstags zurück sein würde, entschloss ich mich für ein zusätzliches Geschenk und machte, trotz des ungemütlichen Nieselregens, einen Umweg zu dem Kaufhaus mit dem Elch. Ein Umweg, den ich bereuen sollte wie nichts in meinem Leben zuvor.
Der Parkplatz war voll, doch schließlich fand ich eine schmale Lücke zwischen zwei Pkws nahe des Eingangs. Links neben mir stand ein neuer silbergrauer Mercedes. Das weiß ich deshalb so genau, weil sich meine Tür nur ein kleines Stück weit öffnen ließ, so dass ich Mühe mit dem Aussteigen hatte. Außerdem befand sich auf der Hutablage des Wagens der Inbegriff für Spießigkeit schlecht hin: ein Wackelkopfdackel, eine Spezies, die ich bereits für ausgestorben gehalten hatte. Ich schaute auf das Kennzeichen. In welcher entlegenen Gegend stellte man sich so einen Unfug noch ins Auto? Ich rechnete mit dem höchsten Norden oder dem tiefsten Süden des Landes, aber nein, „H“, Hannover. Von wegen entlegene Gegend.
Bereits im Eingangsbereich bereute ich meinen Entschluss. Es war geradezu überfüllt. Hinter einer Glasscheibe tobten lautstark unzählige Kinder in einem Meer von bunten Bällen. Kurz spielte ich mit dem Gedanken umzukehren. Hätte ich es bloß getan. Aber ich reihte mich ein in den zähen Strom. Nach einem langsamen Marsch entlang der vorgeschriebenen Wege, vorbei an Billi-Regalen, Büro- Schlaf- und Kindermöbeln, gelangte ich in die Lampenabteilung. Als ich die Zitrone in der Hand hielt, tauchte vor meinem geistigen Auge das freudige Gesicht Agnes’ auf. Sie liebte Überraschungen und konnte sich über Kleinigkeiten freuen, als legte man ihr die Welt zu Füßen. Und diese Freude war ansteckend, dafür liebte ich sie. Seit ich sie kannte, war mein Leben leichter. Fröhlicher und erfüllter. Ich konnte das Strahlen auf ihrem Gesicht kaum erwarten, und nahm den kürzesten Weg durch die Lagerhalle zu den Kassen. Die Menschenschlangen waren unendlich lang. Als ich das Gebäude verließ, waren mehr als eineinhalb Stunden vergangen. Zunächst fiel mir nichts auf – gar nichts. Dann bemerkte ich, dass der Nieselregen aufgehört hatte und der Himmel aufriss. Ich dachte mir nichts dabei. Erst als ich auf den Parkplatz kam, beschlich mich so ein unbestimmtes Gefühl. Irgend etwas stimmte nicht. Die Luft war anders. Die Temperatur oder der Geruch. Es war ein unangenehmes Gefühl, als würde man sich auf einen Stuhl setzen, der von einem unbekannten Vorgänger noch angewärmt ist. Aber ich kam nicht dahinter, was der Auslöser dieses Gefühls war. Da stand immer noch der silbergraue Mercedes neben meinem Wagen. Aber – ich stutzte. Der Dackel war nicht mehr da. Eine seltsame Angst beschlich mich. Dann fand ich die Erklärung. Auf dem Kennzeichen war kein „H“ sondern ein „K“. Es war ein Kölner Wagen, der allerdings die gleiche Farbe hatte und der ebenso dicht an meinem stand wie der vorherige. Ich zwängte mich in meinen Wagen, legte den Karton mit der Zitrone auf den Beifahrersitz und fuhr los. Die vertrauten Einbahnstraßen führten mich einmal um das Gebäude herum. Wie gewohnt blinkte ich links, bevor ich das Ikea-Gelände verließ. Und in genau dem Moment als ich abbog, war plötzlich nichts mehr so wie vorher.
Ich kannte mich nicht mehr aus. Plötzlich war alles fremd. Die Straße, die Umgebung, alles. Auf einem Schild standen unbekannte Ortsnamen. Ich begann zu zittern und musste rechts heran fahren. Atemnot. Ich kurbelte das Fenster herunter. Autos hupten. Sie mussten ausweichen. Ich stand mit den linken Rädern auf der Fahrbahn. Bis auf wenige Ausnahmen hatten alle vorbeirasenden Pkws und Lkws Kölner Kennzeichen. Wie war das möglich? Mein Herz raste. Mein Puls hämmerte gegen die Schläfen. Ich wendete und fuhr zurück auf den Parkplatz. Da fühlte ich mich etwas sicherer. Auch hier fielen mir die zahlreichen Kölner Kennzeichen auf. Aber das war unmöglich. Das konnte nicht sein. Zudem bemerkte ich erst jetzt, dass die Straßen trocken waren. Den ganzen Tag hatte es geregnet und nun waren die Straßen trocken. Das war unmöglich. Schweiß stand mir auf der Stirn. Was war hier los? Ich fragte Leute, wo ich mich befand.
In Köln.
Ich hatte Ikea in Hannover betreten und war in Köln wieder herausgekommen? Nein! Unmöglich! Irgendwer oder irgendwas spielte mir hier einen Streich. Vielleicht war ich es selbst. Wurde ich verrückt?
Stundenlang war ich unfähig zu denken. Ich saß in meinem Wagen und stierte ins Nichts. Was war jetzt zu tun? Es gab nur eine Möglichkeit: Aufwachen – und zwar zu Hause, bei Agnes und den Kindern. Doch der Traum blieb hartnäckig. Eine Stunde vor Geschäftsschluss unternahm ich den einzigen Versuch, der mir blieb: Ich betrat erneut das Kaufhaus und legte die gleiche Strecke noch einmal zurück. Mit etwas Glück würde ich in Hannover wieder herauskommen.
Ich hatte kein Glück.
Mit Atemübungen wollte ich die aufkommende Panik und das Schwindelgefühl unter Kontrolle bekommen. Jetzt bloß nicht durchdrehen. Ich versuchte mich zu beruhigen und einen klaren Gedanken zu fassen. Es konnte nur ein Traum sein. Eine andere Erklärung gab es nicht. Es war ein Traum, und da musste ich durch. Ruhig bleiben. Ich kontrollierte den Tank. Der war fast leer. Geld? Zwölf Euro. Keine Papiere. Kein Handy. Das hatte ich wie so oft im Lehrerzimmer liegen gelassen. Draußen war es längst dunkel geworden. Es regnete. Hunger. An der Bratwurstbude bekam ich noch eine Brühwurst, ein Brötchen und ein Bier. Der Verkäufer sprach so wie Wolfgang Niedecken singt. Das Bier hieß Kölsch. Ich aß und trank. Traute mich nicht weg vom Parkplatz. Im Kofferraum war eine Decke. Auf dem Rücksitz kauerte ich mich zusammen. Ich hatte nur einen einzigen Wunsch: einschlafen, zu Hause aufwachen und Agnes zum Geburtstag gratulieren. Ach, Agnes.
Als ich erwachte war es fast hell. Die Scheiben waren beschlagen. Keine Agnes. Kein zu Hause. Kein Traum? Die Klassenfahrt, schoss es mir durch den Kopf. Der Mann im Radio sagte, es sei mit Niederschlägen zu rechnen, und er sagte das Datum: 14. Oktober. Ich schaute auf die Uhr. 6.35 Uhr. In knapp anderthalb Stunden stand der Schulbus bereit. Das war nicht zu schaffen, selbst wenn der Sprit reichte. Agnes würde sich Sorgen machen. Ich war noch nie über Nacht fortgeblieben. Es war ihr Geburtstag. Ich musste telefonieren und fuhr Richtung Zentrum. Aber was sollte ich sagen? Die Wahrheit würde mir niemand glauben. Die glaubte ich ja selbst nicht. Und lügen lag mir nicht. Aber es musste sein. Der Schulleitung würde ich sagen, ich hatte einen Unfall, und Agnes würde ich bitten auf mich zu warten, dann würde ich alles erklären.
Es funktionierte nicht. Etliche Male wählte ich die Nummern, aber immer wenn das Klingelzeichen ertönte, legte ich auf. Das Unglaubliche an der ganzen Sache lähmte mich. Panisch lief ich durch die fremde Stadt. Erst kam der Hunger. Es folgte der Durst. Dann kam die Verzweiflung, und endlich die Ernüchterung. Es gab nur ein Ziel: Ich musste nach Hause, zu meiner Frau und meinen Kindern. Alles andere würde sich schon finden. Den Wagen stellte ich am Bahnhof ab. Vom restlichen Geld kaufte ich mir etwas zu essen und zu trinken. Dann stieg ich ohne Fahrkarte in den ICE nach Hannover. So einfach war das. Dachte ich.
Der Zug fuhr los. Kurz vor Düsseldorf war die erste Fahrkartenkontrolle. Ich wurde übersehen. Um so besser. Die nächste Kontrolle fand kurz hinter Wuppertal statt. Der Kontrolleur zwinkerte mir zu, und ließ mich unbehelligt. Das Glück war auf meiner Seite. Ich verspürte eine leichte Euphorie. Bei der dritten Kontrolle lächelte er mir sogar offen ins Gesicht als er mich überging. Das Lächeln kam mir vertraut vor. Ich fühlte mich sicher. Bald würde ich zu Hause sein.
Das letzte Mal war ich als Kind Zug gefahren. Deshalb wunderte ich mich nicht über den langen Tunnel, den wir nach etwa zwei Stunden durchquerten. Er schien kein Ende zu nehmen. Ich nickte ein und wachte erst wieder auf als ein Ruck durch den Waggon ging. Der Zug stand. Endstation. Verschlafen stieg ich aus – in Köln.
Wie war das möglich – wie? Was hier geschah war gegen alle Regeln der Vernunft. Es schnürte mir die Kehle zu.
Zwei weitere Versuche scheiterten auf die gleiche Weise. Die Verzweiflung biss sich schmerzhaft in meinem Innern fest. Aber mir blieb ja noch der Wagen. Um volltanken zu können begann ich zu betteln. Ein mühseliges Unterfangen. Es kostete eine solche Überwindung, dass mir übel wurde. Aber ich tat es. Ich ging in die Hocke und hielt den Passanten meine Mütze hin, den Blick vor Scham auf meine Füße gerichtet. Nach drei Tagen hatte ich keine fünf Euro übrig. Ich musste schließlich essen und trinken. Frierend saß ich in der Fußgängerzone, die sich von der in Hannover kaum unterschied. Es war als trügen alle Städte die gleiche Erinnerung. Egal wo man sich befindet, die Fußgängerzonen, die Tankstellen, Mc Donalds und die Schwedischen Möbelhäuser gaukeln dir vor, du wärst in Sicherheit – zu Hause. Aber in Wirklichkeit tricksen sie dich aus, und du fällst auf die Gaukler herein, du wirst geschluckt und am falschen Ort wieder ausgespuckt.
Die Mütze in der Hand, schaute ich auf den Stadtplan vor mir. Um nach Hause zu kommen, musste ich zunächst den Rhein überqueren und dann auf die A3 in Richtung Hannover. Als das Geld fast reichte kamen die Diebe. Jugendliche. Sie rissen mir die Mütze aus der Hand und rannten davon.
Endlich kamen die Tränen. Es war befreiend zu weinen. Ich war auf die Seele gefallen und nun regnete es Tränen. Schluchzend saß ich da und hielt den Leuten nun die offene Hand hin. Jemand gab mir einen Schein. Ich blickte auf. Verschwommen sah ich dieses Gesicht. Es war der Mann aus dem Zug. Der Kontrolleur. In der Hand hielt ich einen Hunderteuroschein. Das war die Rettung. Ich wollte mich bedanken. Der Mann war verschwunden. Ich kaufte frische Unterwäsche, wusch mich am Bahnhof, tankte den Wagen voll und leistete mir von dem Rest des Geldes eine warme Mahlzeit. Ich war aufgeregt. Jetzt konnte ich nach Hause fahren. Nach Hause. Wie lange war ich schon weg? Fast eine Woche. Ich fühlte mich stark genug, um endlich mit Agnes zu reden. Mein Herz raste, als das Klingelzeichen ertönte. Dann hörte ich ihre Stimme. Sie klang unsicher. Ich schrie ihren Namen, sagte dass ich sie liebe, dass ich in einigen Stunden bei ihr sein würde. Aber sie hörte mich nicht. Ich versuchte es wieder und wieder, aber die Leitung funktionierte nur in eine Richtung. Sie konnte mich nicht hören. Resigniert hängte ich ein. Ich setzte mich in den Wagen und fuhr los.
Dann kam die Ernüchterung. Endstation. Den Dom im Rücken überquerte ich den Rhein, in der Mitte der Brücke blendetet mich für Bruchteile einer Sekunde ein Blitz und ich hatte den Dom vor mir. Aus unerklärlichen Gründen landete ich immer auf der Seite, auf der ich losgefahren war.
Ich war gefangen.
Das Papier reicht nicht aus, um all die gescheiterten Versuche, die Stadt zu verlassen zu schildern. Kurz, es gibt kein Entkommen. Von welchem Telefon ich auch anrief, man hörte mich nicht. Vom beginnenden Wahnsinn getrieben begann ich, Briefe zu verschicken. An Agnes, Kollegen, meine Eltern und Freunde. Ich teilte mit, wo ich mich aufhielt und wartete auf Rettung. Vergebens. So wie die Dinge lagen, musste ich davon ausgehen, dass keiner meiner Briefe sein Ziel erreicht hatte. In der Welt in der ich früher lebte, glaubte man sicher, ich sei mit einer Geliebten durchgebrannt, oder man hielt mich für tot. Vielleicht war das die Lösung. Sterben. Ein Sprung vom Dom und dann: Endstation. Ich war fest entschlossen.
Doch vor dem Dom begegnete ich ihm wieder, dem Mann aus dem Zug. Er stand in einiger Entfernung da und lächelte dieses vertraute Lächeln. Und dann erkannte ich das Lächeln. Es war das Lächeln Onkel Martins. So lächelte Martin Brenner auf dem Foto meiner Eltern. Ich ging auf ihn zu. Er entfernte sich. Ich behielt ihn im Auge. Folgte ihm. Rannte, um ihn einzuholen. Aber die Entfernung blieb konstant. Ab und zu drehte er sich zu mir um, als wolle er sich vergewissern, dass ich noch da war. Dann lächelte er und winkte mich zu sich. Er ging die Treppe zur U-Bahn hinab. Seine Schritte hallten von den Wänden des Bahnsteigs wieder. Es waren keine Menschen zu sehen. Onkel Martin folgte den Schienen und schritt auf das Dunkel des Schachtes zu. Ich rief ihn. Er drehte sich um, lächelte und verschwand in der Dunkelheit. Ich folgte ihm. Sehen konnte ich ihn nicht, aber seine Schritte waren zu hören. Der Schacht führte in eine Biegung und das Licht der Station wurde verschluckt. Dann sah ich die schmale Tür mit der Aufschrift „ZUKUNFT“. Die weißen Lettern schienen zu leuchten. Die Geschichte meines Urgroßvaters fiel mir ein. Der Zirkus und der aufgestellte Sarg mit eben dieser Aufschrift. Onkel Martin öffnete die schmale Tür und verschwand.
Nun bin ich an der Reihe. Ich werde durch diese Tür gehen, um hinter das Geheimnis dieser Dinge zu kommen.
Wer immer diese Blätter findet. Sagt meiner Frau Agnes und meinen Kindern, dass ich sie liebe. Bitte...
Abgesehen von den beschrieben Seiten, fehlt von Torsten Trust seit dem 13. Oktober vergangenen Jahres jede Spur. Die Gleisarbeiter, die die Blätter fanden versicherten, in dem U-Bahnschacht habe es nie eine Holztür mit der Aufschrift „ZUKUNFT“ gegeben.
Auch die Suche nach Torsten Trusts Pkw blieb bis heute ergebnislos.