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Endspiel
»Schachmatt. Ich hab Sie schon wieder geschlagen, amigo!« Barrett grinste und lehnte sich so weit zurück, dass der Klappstuhl auf den sandigen Bodenbrettern gefährlich weit nach hinten kippte. Er strahlte übers ganze Gesicht.
Gilbraith starrte durch seine dicken Brillengläser ungläubig auf die Spielfiguren, als müsse er sich davon überzeugen, dass alles mit rechten Dingen zuging. Doch sein neuer Kamerad hatte nicht gemogelt.
»Herrgott noch mal«, brummelte er grimmig. Seine Stirn legte sich in steile Falten. »Wie machen Sie das nur?«
»Talent, mein Lieber. Ich hab eben Talent.« Barrett nahm einen Kräcker in den Mund und stellte die Spielfiguren für die nächste Partie in die Grundstellung.
»Ärgern Sie sich nicht. Wie heißt es: Pech im Spiel, Glück in der Liebe.« Er zwinkerte Gilbraith zu.
»Sie wissen ganz genau, dass der Zug für mich längst abgefahren ist, Sie verdammter Idiot!«, schimpfte Gilbraith. »Meine Haut ist runzelig wie der Blasebalg eines Akkordeons, in meinen Händen steckt die Arthritis – ich bin froh, wenn ich überhaupt noch die Figuren halten kann, ohne dass sie mir aus den Fingern gleiten!«
Barrett lachte, aber es war ein gutmütiges, herzhaftes Lachen. »Ja, wir sind beide alt und schrullig geworden. Ein Jammer, aber so ist es – Sie sind dran, mein Freund!«
Gilbraith rückte den weißen Läufer diagonal auf das Feld A4. Erneut nahm er sich fest vor, seinen Kontrahenten zu schlagen. Doch er musste sich eingestehen, dass er bei weitem nicht über eine Strategie verfügte, die Barretts spielerischem Können gewachsen war. Letztendlich würde er wieder auf sein Glück vertrauen müssen.
»Erst vor zwei Wochen hab ich mich bei meinem Neffen über den lauten Verkehr beklagt. Heute sehne ich mich beinahe danach.« Er lachte humorlos. »Kaum zu glauben, nicht wahr?«
Ein zustimmendes Nicken.
Barrett und Gilbraith, die im Schatten der Palmen auf der Terrasse saßen, hatten die Bar im Tidelands Park für sich alleine. Die Halbinsel im Herzen der San Diego Bay war ebenso leer wie die Downtown am anderen Ufer, wo entvölkert und dunkel die Skyline empor ragte. Die gesamte Südwestküste ruhte still am Fuße des Pazifiks.
»Noch können wir gehen«, erinnerte Gilbraith und dachte an die in Massen nach Osten geströmten Autos. In der gesamten Stadt hatte der Ausnahmezustand geherrscht, es war kein Durchkommen mehr gewesen. Jeder hatte sich als Erster in Sicherheit bringen wollen.
»Wenn wir sofort aufbrechen und uns beeilen, schaffen wir es vielleicht noch rechtzeitig. Die I-8 Richtung Arizona dürfte ab Alpine inzwischen wieder frei sein.«
Barrett schüttelte den Kopf. »Seit ich denken kann, lebe ich in San Diego. Die Stadt steckt voller Erinnerungen. Nein, das ist nichts mehr für meine alten Knochen. Ich würde eingehen wie ein Gewächs, das man verpflanzt.« Er dachte an die monatliche Behandlung im UCSD Medical Center und nahm einen kräftigen Schluck Tequila. »Hier bin ich geboren, hier werde ich sterben.«
Gilbraith deutete ein Nicken an. »Geht mir ehrlich gesagt ähnlich. Auch ich bin müde geworden. Mein Neffe lebt in Europa, bis dahin ist es ein weiter Weg. Außerdem hab ich mehr als fünfzig Jahre Ehe überlebt – was soll mich jetzt noch erschüttern?«
Einen Moment lang lachten beide. Die San Diego Bay glitzerte im Schein der untergehenden Sonne, sanfte Wellen schlugen immer wieder gegen die Uferpromenade.
Die erste Begegnung lag nur wenige Tage zurück, als sich ihre Wege in einem Wal-Mart gekreuzt hatten. Beide Männer waren auf der Suche nach Essbarem und zunächst überrascht gewesen, in der toten Stadt noch auf einen anderen Menschen zu treffen. Aber schnell hatten sie Vertrauen zueinander gefasst. Inzwischen verfestigte sich der Eindruck, sich schon ewig zu kennen.
»Wie war sie so, Ihre Frau?«, wollte Barrett wissen.
Gilbraith antwortete nicht gleich.
»Sie war ein Juwel«, meinte er schließlich. »Sie brachte mich selbst dann zum Lachen, wenn es mir hundeelend erging, und sie machte die besten Hotdogs der ganzen Stadt. Ich hätte alles getan für diese Hotdogs, das können Sie mir glauben!« Er dachte an die alten Zeiten, dann kramte er ein Foto aus seinem Portemonnaie und zeigte es ihm. »Sie hätten sich bestimmt gut verstanden, Sie und Melinda.«
Barrett, nie verheiratet, sah das Bild an und lächelte. Er hatte fasziniert zugehört. Beinahe beneidete er seinen Kameraden um diese Erinnerungen.
Der Wind strich über die Coronado-Halbinsel, die Flammen der beiden Kerzen auf dem Tisch begannen zu zucken. Es war bemerkenswert kühl für die Jahreszeit, die Tage wurden kürzer. Am Himmel zogen graue Wolken vorüber.
Nach einer Weile konzentrierten sich die Männer wieder auf das Spiel. Gilbraith schlug mit dem Bauern einen schwarzen Springer. Barrett zog überrascht die Augenbrauen hoch.
»Manchmal denke ich, wir sind selbst solche Spielfiguren«, philosophierte er. »Zug für Zug gehen wir einen steinigen Weg. Ob es der richtige ist, erfahren wir erst im Nachhinein.« Er hielt inne und griff zum Tequila-Glas. »Wenn Sie Ihr Leben noch einmal leben könnten, amigo, würden Sie etwas ändern?«
Gilbraith sah auf. Er musste darüber nachdenken und ließ sich reichlich Zeit.
»Nein«, antwortete er schließlich.
Barrett nickte nach einem Zögern.
»Das heißt, wenn ich’s mir recht überlege, eine Sache wäre da vielleicht doch.«
»Ja?«
»Ich würde einen Schachkurs belegen.«
Ein schwaches Lächeln. Barrett rückte die Dame in Angriffsposition und wartete auf Gilbraiths nächsten Zug, doch sein Kamerad starrte stattdessen zur Bucht.
»Die Wellen. Sie sehen so friedvoll aus«, murmelte Gilbraith. »Kaum zu glauben, was sie anrichten werden, nicht wahr?« Er räusperte sich. »Müsste man nicht schon irgendwas mitbekommen?«
Barrett zuckte die Achseln. »Vielleicht drüben, an der Westküste. Zunächst dachte ich, die Medien würden das aufbauschen, nur um der Schlagzeilen willen. Inzwischen befürchte ich das Schlimmste.«
Gilbraith fröstelte. Dann stand er schwerfällig auf und trabte zum Innenbereich der Bar. Auf dem Tresen befand sich eine Vielzahl von Spirituosen, an der Wand hingen verschiedene Gläser.
»Wie möchten Sie Ihren Drink, Mister Bond?« Er imitierte einen britischen Akzent. »Geschüttelt oder gerührt?«
»Gehaltvoll!«, rief Barrett. »Sehr gehaltvoll! Ich hätte es kaum für möglich gehalten, aber inzwischen habe ich einen Narren an diesen Cocktails gefressen!«
»Sie sollten trotzdem auf Ihre Leberwerte achten«, mahnte Gilbraith und kam mit zwei vollen Gläsern zurück. Er setzte sich und zog kräftig am Strohhalm.
»Papperlapapp.« Barrett winkte ab. »Wenn der Alkohol mich nicht umbringt, dann mein Arzt Dr. Gale, wüsste er, wie ich mit meiner Gesundheit umgehe. Als ob es darauf noch ankäme! Soll ich Ihnen was sagen? Es ist mir scheißegal!«
Wieder brachen die Männer in Gelächter aus.
»Ich wünschte, wir hätten uns eher kennen gelernt, amigo.«
»Ja, das wünschte ich auch«, stimmte Gilbraith zu.
Nach und nach verschwanden die Spielfiguren vom Schachbrett. Am Ende blieben nur noch die Könige und Bauern übrig. Das Brett war so leergefegt wie die einstige Millionenstadt. Es war eine spannende Partie, bei der Gilbraith diesmal überraschend aufgeholt hatte.
»Verraten Sie mir eines: Warum hat es uns ausgerechnet hierhin verschlagen? Ich meine, wir könnten genauso gut im Ritz-Carlton in Champagner baden!«
Gilbraith verzog angewidert das Gesicht. »Was hab ich davon, in ein goldenes Klo zu scheißen?«, brummelte er. »Und von Schampus krieg ich Kopfschmerzen! Nee, hab mir nie viel aus Luxus gemacht. Hier hingegen hab ich die Bucht, den Park, die frische Luft ... Ist das nicht herrlich?«
»Ja, das ist es«, stimmte Barrett zu. »Das ist es in der Tat.«
Während sich die Nacht über die Halbinsel legte, schwelten beide Männer erneut in Erinnerungen. Der Wind wurde nun stürmischer, er ließ die Palmenblätter erzittern, und die herannahenden Wellen schlugen so heftig gegen die Promenade, dass es zischte und brodelte. Eine eisige Kälte fuhr in Barretts und Gilbraiths Glieder. Am Boden raschelte eine achtlos weggeworfene Alufolie.
»Connery«, murmelte Gilbraith. »Connery war der Beste.«
Barrett drehte irritiert den Kopf. Er hatte zunächst Mühe, dem Gedankengang seines Kameraden zu folgen.
»Ja«, bestätigte er schließlich. »Connery war der Beste.«
Irgendwann spielten die Männer weiter, im Bewusstsein, dass jedes gemeinsame Spiel ihr letztes sein konnte. Sie spielten selbst dann noch, als lange nach Mitternacht der Pazifik sich auftürmte, um die Millionenstadt zu überrollen.
Barrett starrte in Richtung Westküste. »Hätten wir doch surfen gelernt!«
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