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Endrille

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25.06.2001
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Endrille

Anm. d. Autors: Text befindet sich derzeit in Überarbeitung

Endrille

Als ich kurz vor ein Uhr Nachts in die Wohnung kam, war Hanna nicht da. Die Tür zum Balkon war offen, und das Rauschen und Knacken einer zu Ende gespielten Schallplatte untermalte den Vorhang, der sich im Wind hin und her bewegte.
...sssssssssstschackssssssssssstschack...

Ich ging vorsichtig über den Boden, auf dem Klamotten, Schallplatten, Fotos, ihr Handy, Verpackungen ihrer Medikamente, und dergleichen lagen, zum Plattenspieler, und stellte die Nadel zurück an den Anfang. Es war eine 12-Inch Single von Michael Jacksons Don’t Stop ’Til You Get Enough. Ich legte meine Jacke ab, ließ mich in die Couch fallen und rauchte erst einmal eine.

Als die Schallplatte wieder zu Ende war, hob ich Hannas Handy auf, und rief Idil an. Idil klang etwas überrascht, sagte, dass Hanna mich eigentlich vom Flughafen hätte abholen wollen, und fragte mich ob mein Flug denn früher angekommen war.
„Nein, wir hatten sogar zwanzig Minuten Verspätung“, sagte ich.
„Hanna hat sich wahrscheinlich in der Zeit geirrt.“
Eigentlich hatte ich mit Hanna ausgemacht, sie solle mich nicht abholen. Vermutlich hatte sie es sich kurzfristig anders überlegt, alles stehen und liegen gelassen, und war zum Flughafen gefahren. Vermutlich zu spät, so dass wir uns gerade verfehlten.

Ich schloss die Augen, und lauschte dem Geräusch der Endrille. Nach einem neunstündigen Flug, und einer Stunde im Taxi hatte ich wenig Lust, noch einmal zurück zum Flughafen zu fahren. Irgendwie hatte ich aber ein schlechtes Gefühl, als ob Hanna etwas zugestoßen war. In ihrem Zustand war so ein Verschwinden durchaus ein Grund zur Beunruhigung. Es schien mir am vernünftigsten, doch noch zum Flughafen zu fahren, und sie zu suchen. Ich rief ein Taxi, schrieb Hanna, solange ich wartete, eine Nachricht, und trank eine Dose Coca-Cola.

Trotz dem Cola schlief ich im Taxi fast ein; nur das Radio hielt mich wach. Eine Stunde später befand ich mich wieder vor Terminal B, und ich rief als erstes zuhause an. Nach zwanzigmaligem Läuten gab es keine Antwort, was bedeutete, dass Hanna sich entweder noch im Flughafen befand, oder gerade auf dem Weg nach Hause war.

Es war schon nach zwei Uhr, und in der Schalterhalle war so gut wie gar nichts los; die nächsten Flüge würden erst in einigen Stunden ankommen, beziehungsweise abfliegen. Ein Paar Reinigungsleute wischten den Boden mit ihren Mops, und ein Backpacker schlief auf einer der Bänke. Von Hanna keine Spur.

Schließlich fand ich sie auf einem der langen Fließbänder, zwischen zwei Terminals. Hanna ging in die entgegengesetzte Richtung des Fließbandes, hatte den Kopf zum Boden gesenkt, und eine Hand auf dem Geländer. Ich wusste, dass sie es nicht loslassen konnte.

Ich fuhr auf dem Fließband, bis ich vor ihr stand, und sie mich weinend anblickte. „Ich habe hier auf dich gewartet“, sagte sie.
„Komm, sei vernünftig“, sagte ich, „gehen wir auf das andere Fließband.“
Was hatte ich nur für einen Blödsinn gesagt. Selbstverständlich ist es vernünftig, in die gleiche Richtung wie ein Fließband zu gehen, wenn man vorankommen will, aber für Hanna, deren Leben von Zwangshandlungen bestimmt war, schien es genauso vernünftig auf der Stelle zu gehen, das Geländer unter ihrer Hand gleiten zu lassen, und auf mich zu warten.

Eine Zeit lang ging ich neben ihr, und wir lauschten dem bekannten Geräusch des Fließbandes:
...sssssssssstschackssssssssssstschack...

[ 10.07.2002, 21:34: Beitrag editiert von: I3en ]

 

Das ist von den zum Challenge geposteten Geschichten die bisher kniffeligste, wie ich finde.
Die Leichtigkeit Deines Stils hat es mir angetan. Kein Wort zu viel, kein Wort zu wenig, in sich ruhend.

Die Beobachtung, dass Endrille und Fließband den gleichen Sound haben, ist originell. Allerdings ist mir nicht ganz klar geworden, inwiefern dieses Geräusch als Schlüssel zum Text dienen kann. Sind Hannas Zwangshandlungen an das Geräusch gekoppelt? Das zeichenhafte, doppelte Vorkommen drängt ja geradezu auf diesen Schluss.
Das Geräusch als Symbol für ihre Krankheit?

Der zweite Punkt, in dem ich mir unsicher bin, hängt mit der Aufgabenstellung des Challenge zusammen: Eine Emotion soll mit einem Gegenstand verglichen werden. Du schreibst explizit nur über den Gegenstand, das Fließband. Gefühle, um die es ohne direkte Thematisierung geht, sind Verwirrung, Angst, vielleicht auch Depression. Worin liegt aber das Vergleichsmoment, inwiefern stellt der Text zwischen dem Fließband und zB. Verwirrung einen Bezug her, der lautet: Verwirrung ist WIE ein Fließband?
Ich habe es jetzt etwas umständlich formuliert, und für die Geschichte an sich spielt diese Frage wohl auch keine Rolle, im Kontext des Challenge aber vielleicht schon: Im Moment stellt es sich für mich so dar, als hättest Du eine Geschichte geschrieben, in der Verwirrung und ein Fließband zwar vorkommen, aber nicht zueinander in Bezug gesetzt werden.

[ 08.07.2002, 17:52: Beitrag editiert von: gauloises ]

 

Hallo Gauloises,

Eigentlich wollte ich in dem Text "Fließband" mit "Vernunft" vergleichen. "Vernunft" ist ja auch das einzige Wort aus der Emotionen-Kategorie, welches direkt in der Geschichte vorkommt. Das Wort fand ich am interessantesten, da "Vernunft" für mich keine Emotion, im eigentlichen Sinne, ist.

Ich wollte auch bewusst keinen direkten Vergleich ( __, ist wie ein __. ) in der Geschichte haben. Kann sein, dass ich somit die Aufgabenstellung verfehlt habe, aber für mich stand beim schreiben mehr die Geschichte, und weniger der Challenge im Vordergrund.

...nicht, dass ich nicht gewinnen will, oder so. ;)

Gruss,

I3en

 

Hi I3en!

Auch mir gefällt zum ersten die Geschichte als Geschichte sehr gut!

Nach dem ersten Lesen dachte ich auch, sie paßt irgendwie nicht so richtig zum Challenge, aber nach dem zweiten mal hab´ich es dann doch noch geschnallt... ;)

Also meiner Meinung nach ist Deine Geschichte wirklich die bisher beste dieses Challenge, vor allem deshalb, weil es mir auch nicht so gefällt, wenn der Vergleich so direkt drinsteht - das hast Du bestens hinbekommen!

Eine Verständnisfrage: Was ist ein Backpacker?

Und bei diesem Satz paßt´s noch nicht so ganz:
"schien es genauso vernünftig auf der Stelle zu gehen, dass Gelände unter ihrer Hand gleiten zu lassen, und auf mich zu warten."

- schien es genauso vernünftig, auf der Stelle zu gehen, das Geländer unter ihrer Hand...

Alles liebe
Susi

 

Aha, da war ich ja auf dem ganz falschen Dampfer. Dass die Ratio eine Emotion ist, da muss man auch erst mal drauf kommen, hmm.
In Richtung des Fließbandes zu gehen ist vernünftig. In entgegengesetzte Richtung zu gehen, kann aber auch vernünftig sein, auch wenn die Motivation dafür vielleicht nicht sofort allgemein einsichtig ist. Ok, das taugt auch als Message. ;)

 

Hi I3en,
alle Achtung, tolle Geschichte und ich gebe Häferl recht, als Geschichte, die bisher Beste. :thumbsup:

Allerdings kann ich mich nicht so recht mir der Idee anfreunden, dass die Aufgabe des Challenge damit erfüllt sein soll. Zur Info: Ich sage das jetzt nicht, um einen "Konkurrenten" weg zu diskutieren, sondern fast aus Überzeugung. Laut Maßgabe hat im Vordergrund die Argumentation zu stehen, und das gelingt dir nicht. Erst deine Erklärung an gauloises klärt, welchen Begriff du mit Fließband kombinieren wolltest. Aus der Geschichte geht es auf den ersten Blick nicht so deutlich hervor (wie man es erwarten sollte).
Außerdem solltest du noch um mindestens 35 Worte kürzen - sonst hälst du dich ja an überhaupt keine Vorgabe. ;)

Aber Gott sei Dank habe nicht ich zu entscheiden.

 

@Susi

Vielen Dank für das Lob und die Fehlersuche, hab's gleich ausgebessert.

Ein Backpacker ist ein (meist junger) Tourist der nur mit Rucksack (backpack) durch die Welt zieht.

@querkopp

Dass der Vergleich hier nicht offensichtlich ist, ist mE eine stilistische Entscheidung.

[ 09.07.2002, 03:28: Beitrag editiert von: I3en ]

 

hi I3en,

deine Geschichte hat mir sehr gut gefallen. Sauberer Stil, guter Plot.
Der Zusammenhang zum Challenge ist hingegen etwas schwerer zu finden (ohne die Kritiken hätte ich ihn nicht gefunden ;) )
Der Gedanke, dass die Vernunft eine Emotion sein kann, gefällt mir.
Deine Argumentation ist versteckt, aber wenn man sie gefunden nachvollziehbar.
dennoch denke ich, dass man diesen doch recht wichtigen Aspekt und den eigentlichen (Challenge-)Plot deutlicher hätte ausarbeiten können.

Gesamturteil: :thumbsup:

 

Hi Pan,

Danke für die Kritik.

Der Gedanke, dass die Vernunft eine Emotion sein kann, gefällt mir.
Naja, "Vernunft" war eines der Wörter in der Vorgabe. Wie gesagt, ich denke aber eigentlich nicht, dass es eine Emotion ist. :)

Gruss,

I3en

 

Ist es ja eigentlich auch nicht. Vernunft ist das, was das Hirn sagt, Emotion das, was das "Herz" sagt.
Aber es kommt auf den Kontex an. Und in deinem Beispiel ist es eine "Emotion" auf Grund der Krankheit der Frau. Sie "empfindet" das was sie tut, als "vernünftig". Also ist es eine Emotion. Und grundsätzlich kann dann dem zu Folge "Vernunft" eine Emotion sein.

[ 10.07.2002, 03:20: Beitrag editiert von: Pandora ]

 

So...hiya Ben.

Zum Zusammenhang Vorgabe-Ausführung im Kontext des Chellenge mag ich nicht so viel sagen und überlasse das mal den anderen Kritikern...ist ja auch schon so einiges gesagt worden.

Erstmal hab ich einiges an Nippes:

lies mich in die Couch fallen
ließ

gauloises hat Deinen Stil in diesem Text betreffend fast Recht...Wortwahl, Formulierung, Satzlänge und Struktur sind einheitlich und geben dem Text einen leisen, dezenten Ton. Aber gerade bei einem kurzen Text darf es zu keinen unnötigen Wortwiederholungen (Abs.3 und 8) und Parallelen kommen. Hat ein Abschnitt nur drei Sätze, sollten nicht zwei von denen ein gleiches Subjekt mit identischer Satzposition beginnen (Abs.2) Sollte das Verb 'sein', das schwächste Verb von allen möglichst vermieden werden (guck mal Satz 1 + 2, da ist es mir besonders aufgefallen; an mehreren anderen Stellen könnten stärkere Verben verwendet werden). Das sind eher Klenigkeiten, und vielleicht sogar eher subjektive, guck halt mal durch.

Zur Textintention:

Der Knackpunkt des Textes liegt zweifelsohne hier:

„Komm, sei vernünftig“, sagte ich, „gehen wir auf das andere Fließband.“
Was hatte ich nur für einen Blödsinn gesagt. Selbstverständlich ist es vernünftig, in die gleiche Richtung wie ein Fließband zu gehen, wenn man vorankommen will, aber für Hanna, deren Leben von Zwangshandlungen bestimmt war, schien es genauso vernünftig auf der Stelle zu gehen, das Geländer unter ihrer Hand gleiten zu lassen, und auf mich zu warten.
Ich denke schon, dass die Textaussage hier deutlich hervorkommt. Mir aber fast zu deutlich... too telly. Du baust einen leisen, subtilen Text auf, langsam, vorsichtig...und dann schreist (übertreibe hier mit Absicht) Du quasi seine Bedeutung einfach so raus. Mir gefällt der Gedanke, der dahintersteckt, ganz ausgezeichnet, aber denke, an dieser so wichtigen Stelle bist Du unkonsequent, was Deinen Stil angeht. Weiß nicht, ob ich das so ausdrücke, wie ich's eigentlich meine...show, don't tell, die alte Grundregel halt.

Ich würde mal weiter basteln, der Text ist definitiv mehr als nur ein Gerüst, aber mE auch noch nicht ganz in sich stimmig.

Grüße,
San

 

Hi San,

Danke für die kompetente Kritik. Das scharfe-S hab ich schon ausgebessert, die anderen stilistischen Feinheiten, werden später glattgebügelt. Muss mir die Formulierungen noch etwas überlegen.

Dass du das Ende etwas zu offensichtlich fandest, dafür bin ich dir eigentlich sehr dankbar. Das "herausplärren" ist nicht wirklich mein Stil, und ich wollte es so weit wie möglich vermeiden. Allerdings hatte ich beim schreiben auch Angst, dass sonst gar keiner mehr dahinter steigt, welche Begriffe ich hier überhaupt kombiniere. (Stimmt also wahrscheinlich nicht, dass für mich der Challenge gar nicht so wichtig war ;) ) Sogesehen bestätigt dein Kommentar eigentlich meine ursprüngliche Intention.

Muss mir noch etwas durch den Kopf gehen lassen, welche Änderungen ich vornehme. Ich denke ich hau zwei-drei Sätze am besten ganz raus. Mal sehen...

 

Nix zu danken, Ben...schon mal einer, der aus dem ganz bewusst so gewählten Titel des Infothreads die Konsequenz zieht, sich umso bewusster mit der Frage 'wie sage ich etwas ganz logisch und eindeutig, aber nicht offensichtlich?' auseinandersetzt ;)

 

hi I3en:
schimpf und schande über mich!
aufgrund des Vor-Wort-Satzes hatte ich das Lesen zurückgestellt... und dann stand da so eine schöne KG!
sie gefällt mir wirklich gut. So alltäglich und doch nicht "normal".
Der Stil gefällt mir gut. Die Wiederholung des Geräusches ist für mich auch die Wiederholung der Bewegung: die Platte und das Band laufen beide im Kreis herum, führen letztendlich nirgendwo hin, auch wenn sie weiterführen ( die Platte "überbrückt" Zeit, während das Fließband die Distanz überbrückt.
Ein Ausdrucksproblem ist mir in dem Zusammenhang aufgefallen:

„Komm, sei vernünftig“, sagte ich, „gehen wir auf das andere Fließband.“
Was hatte ich nur für einen Blödsinn gesagt. Selbstverständlich ist es vernünftig, in die gleiche Richtung wie ein Fließband zu gehen, wenn man vorankommen will,
Der Nachsatz nach der wörtlichen Rede paßt nicht zu dem, was er zu ihr sagt... er hat nie gesagt, es wäre unvernünftig oder sie wolle irgendwo hinkommen... bin grad etwas ausdrucksschwach.. verstehst mich aber, oder?
Und da es eigentlich die entscheidenste Textstelle ist, verdient sie noch Ausbesserung. Auch, wenn es für den Wettbewerb jetzt schon zu spät ist. Der Text selbst hat es verdient. und wenn Du gewinnst, dann darf er trotzdem im Nachhinein noch besser werden. :D

Den Bezug Verwirrung ist wie ein Fließband .. sehe ich schon, denke ich...
es führt immer wieder im Kreis herum. Führt nicht voran, auch wenn man geht ... oder eben doch, nur nicht heruas aus dem Kreislauf. Und es ist sehr gleichförmig...
Wenn Du aber Vernunft meinst... mh... dann muß ich weiter denken...
klar, dann geht sie nicht in die vernünftige Richtung, nicht aus Sicht aller anderen. Aber aus ihrer schon.. also Vernunft ist, die Möglichkeiten zu nutzen, die sich einem bieten? und nicht gegen die anderen Kräfte zu arbeiten? jetzt muß ich mich mal auf Hannas Seite schlagen: was ist schon Vernunft? kein Naturgesetz, oder?

Die KG hat mir ausgezeichnet gefallen! Viel Glück!

Lieben Gruß,
Frauke

 

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