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Endlich!
Endlich!
Ich renne. In meinen dünnen Schuhen spüre ich die heißen rauen Steine der Treppenstufen. Ich darf nicht stolpern. Sie dürfen mich nicht kriegen. Trotzdem muss ich zurück schauen. Sehe, wie sie ihn wegzerren. Sehe, wie sein Blick mich noch einmal trifft: „Lauf!“ bevor sie ihn niederknüppeln. Ich stolpere die Treppen hinauf. Mein Kleid klebt mir am Körper. In der großen Umhängetasche ist das Gemüse welk geworden. Es hat seinen Zweck erfüllt. Ich bin entkommen. Noch wissen sie nicht, dass ich zu ihm gehöre, aber sie werden kommen. Bald. Deshalb muss ich sie loswerden, die Flugblätter unten in meiner großen Tasche unter den Lauchstangen und den Auberginen. Diese Blätter werden den Unterschied machen, zwischen ein paar Jahren und lebenslang.
Diesmal renne ich nicht. Ich kann nicht. Ich gehe langsam auf ihn zu. Fünf Jahre! Und nun steht er endlich vor dem Tor. Verloren mit seinem schmutzigen Rucksack. Seine Locken haben sie ihm kurzgeschoren und er ist mager, aber er ist immer noch er. Und mein Herz macht einen Sprung. Als er mich sieht, kommt er über die Straße. Den Rucksack lässig über die Schulter geworfen, versucht er cool zu sein. Wir umarmen uns nicht. Wie im Besuchsraum fühlen wir die Blicke des Feindes, streifen nur zart die Hand des anderen. „Endlich!“ sagt er. „Endlich!“ antworte ich und wir nehmen den Bus in die Altstadt.
Im Bus sitzen wir dicht nebeneinander. Schenkel an Schenkel. So dicht, wie ewig nicht. Ich spüre seine Wärme, seine harten Muskeln. Der dünne Stoff meines Kleides ist das Einzige, was uns trennt. Nicht mehr Mauern, Gitter, Trennscheiben, Tische, Wachpersonal. Es ist vorbei. Endlich. Ich traue mich noch nicht, seine Hand zu nehmen. Er riecht so fremd. Es umgibt ihn eine Einsamkeit, in die ich nicht einzudringen wage, aber ich lege meine Hand sanft auf seinen Oberschenkel. Leicht, fast nicht zu spüren. Ein Angebot. Er legt seine Hand darüber. Drückt sie und ich spüre seine vertraute Haut, seine kräftigen, schmalen Finger.
Vom Markt sind es nur ein paar Querstraßen bis zu meiner Wohnung. Er folgt mir, wie ein Kind. Wir drängen uns durch die Menschenmenge, bis es langsam leerer wird in den Nebenstraßen. Er schaut auf den Boden beim Gehen, aber ich schaue den Leuten ins Gesicht. Trotzig. Starren sie uns an? Beobachten sie uns? Sind wieder ihre Spitzel unterwegs und verfolgen mich, wie in der Anfangszeit während seiner U-Haft? Immerzu tauchten sie auf, durchsuchten die alte Wohnung, kontrollierten, mit wem ich mich traf. Wollten Beweise, dass er mehr war, als ein einfacher Teilnehmer. Ich ging nur selten raus. Besuchte meine Freunde, unsere Freunde, immer seltener. Irgendwann bin ich umgezogen. Irgendwann haben sie mich in Ruhe gelassen. Ich schließe die Haustür auf. Wir steigen die Stufen hoch. Er folgt mir ohne ein Wort.
Ich öffne die Wohnungstür, lasse ihm den Vortritt: „Bitte, tritt ein!“ Zögernd betritt er sein neues Zuhause. Bleibt an der Tür stehen. Stellt seinen Rucksack ab. Ich bin stolz auf diese Wohnung. Ich habe hart dafür gearbeitet. Links neben dem Eingang ist die kleine offene Küche, nur durch eine halbhohe Mauer vom Wohnraum getrennt. Das Zimmer hat einen wunderbaren Blick über die Dächer der Altstadt. Ich habe unsere alte Couch vor das Fenster gestellt. Seine Gitarre aufgehängt. Die Palme, die er mir geschenkt hat, steht vor dem Fenster. Erkennt er seine Lieblingsbücher im Regal? Ich stehe hinter ihm und zittere. Warte, dass er ankommt, aber er steht nur da.
Ich stelle meine Tasche ab und trete zu ihm. Streiche mit meiner Hand vorsichtig über sein Rückgrat. Er zuckt zusammen. Seine Schultern sind verspannt. Dann lässt er locker, dreht sich um, nimmt mich in die Arme. Sein weißes Hemd klebt ihm am Körper, aber er fühlt sich so gut an. So vertraut. Ich schmiege mich an ihn, passe immer noch gut in die Kuhle zwischen seiner Schulter und seinem Hals. Er wühlt seinen Kopf in meine Locken. „Ich habe dich so vermisst. Jeden verdammten Tag!“ murmelt er. „Komm!“ Ich ziehe ihn fort zum Schlafzimmer. Ich will ihn ganz nah bei mir haben. Will merken, dass er wieder da ist. Wir sitzen auf dem Bett und halten uns. Eng. Ich bekomme kaum Luft. Wir küssen uns, vorsichtig. Seine Lippen sind so vertraut. Weich, heiß und er schmeckt ein bisschen nach Metall, wie er das immer getan hat.
Er zuckt zusammen, als die Tür geht. Ich höre Raja und verfluche sie leise. Oder mich. Ich hätte es ihr sagen müssen. Auf ihre raumnehmende Art steckt sie den Kopf zur Tür herein. Grinst, als sie ihn sieht. „Oh, was ist denn das für ein heißer Typ? Lasst euch nicht stören. Ihr Turteltäubchen. Bin schon wieder weg.“ Und das ist sie auch. Aber er hat mich losgelassen, ist von mir weggerückt. „Das war Raja“, versuche ich zu erklären. „Eine Bekannte, sie nutzt öfter mal das Arbeitszimmer, wenn ich nicht da bin. Sie …“
Raja interessiert ihn nicht. „Hattest du andere Männer, als ich weg war?“ Ich starre ihn an. „Hattest du?“ Er schüttelt mich. „Nein“,sage ich. „Doch. Einmal, auf einem Fest. Es war nichts. Ich …“ Er lässt mich los und ich verstumme, als ich die Kälte in seinem Gesicht sehe. „Weist du eigentlich, wie es war, die letzten fünf Jahre? Wie es ist, wenn man ganz alleine in einer Zelle ist, wenn man sich fürchtet, dass sie einen holen, dass sie einen schlagen. Wie es ist, wenn man im Verhörraum sitzt und wartet, Tag und Nacht. In seine Hose pisst, weil sie einen nicht auf die Toilette lassen. Wie ...“ Er beißt sich auf die Lippen und schließt die Augen.
Mein Herz rast. Ich weiß nicht, ob ich hören will, was er zu sagen hat. Habe Angst, seine Narben zu sehen. Aber ich muss. Ich will ihn nicht allein lassen in der Dunkelheit. Ich greife nach seiner Hand, aber er stößt mich weg. „Und du hurst hier rum. Feierst Partys, hast dein beschissenes, ganz normales, tolles Leben.“ Die Tränen steigen mir in die Augen. Wie kann er das sagen? Wie kann er das denken? „Nein, ich weiß nicht, wie es sich anfühlt, in einer Zelle zu sein. Ich weiß nicht, wie sich die Angst angefühlt hat. Der Schmerz, die Erniedrigung. Aber ich habe es mir vorgestellt, jeden verdammten Tag. Und ich habe mich schuldig gefühlt. Dass sie dich erwischt haben, während ich davon gekommen bin.“
Ich weiß es ist unfair, aber ich kann nicht mehr stoppen. „Und weißt du, wie es einen zerreißt, wenn man nichts tun kann?“ Ich springe auf und reiße die Schranktüren auf. „Hier“, schreie ich „und hier.“ Ich zerre schwarze Kleider heraus und werfe sie auf den Boden. „Ich habe Trauer getragen. Wollte nicht weiterleben, wie davor. Aber was nutzte es? Ich musste mein verdammtes, scheißnormales Leben weiterleben. Ich habe gearbeitet, wie eine Besessene, um dir diese Wohnung zu kaufen, damit du ein neues Zuhause hast. Ich musste einkaufen, musste kochen, musste mit Nachbarn reden, musste freundlich zu Kunden sein, musste weiterleben. Ja, und ein einziges Mal, habe ich gefeiert und getrunken und einen anderen Mann geküsst. Und es war furchtbar. Es war so furchtbar, wie es jeden Tag furchtbar war, meinen Alltag zu leben und zu wissen, dass du da drin bist und sie dich quälen. Ich wollte mitleiden, wollte ein Teil deiner Schmerzen auf mich nehmen, aber es ging nicht. Verstehst du? Nichts was ich getan habe, hat es für dich besser gemacht.“
Ich knie vor ihm in einem Wirrwarr dunkler Kleidungsstücke. Röcke, Kleider, Strümpfe, Tücher. Die Tränen laufen mir die Wangen hinunter. Er sitzt unbeweglich auf der Bettkante. Vertraut und fremd. Er ist ein anderer geworden und ich auch. „Weißt du noch“, sagt er nach einer Weile, „bei unserem ersten Treffen hattest du auch ein grünes Kleid an.“ Ich schaue ihn verwirrt an und folge dann seinem Blick zu meinem zerknitterten Kleid. Fleckig von Tränen und zerlaufener Wimperntusche leuchtet es grün inmitten des schwarzen Chaos um mich herum.