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Endlich
Nicht weit von Salzburg, ungefähr zwanzig Kilometer im Bayrischen, liegt ein kleiner Moorsee. Der größte Teil seines Ufers ist bewaldet oder verschilft, Rückzugsgebiet für brütende Vögel; nur eine Wiesenfläche auf der morgens von der Sonne beschienenen Seite ist für den Badebetrieb frei gegeben.
Braun und still lag er heute Morgen da und regte sich nicht, nicht das kleinste Kräuseln, so windstill war es. Die Familien, die Kinder, die ihn in der Nachmittagshitze bevölkern, waren noch zu Hause. Es war früh. In der alten Badeanstalt hatte die Kioskwirtin gerade den Kaffee fertig. Ich bezahlte, trug ihn von der Theke, verschüttete ein wenig, weil sie es zu gut gemeint hatte beim Einschenken, setzte mich auf die Terrasse, auf der ich der einzige Gast war, und blickte auf den See. Ein einsamer Schwimmer fügte seiner Fläche eine kleine längliche Wunde zu, die sich sofort wieder hinter ihm schloss. Weit weg reckten sich schroffe Alpengipfel in das Diesige wie eine ferne Kulisse, die nahen längst nicht so hohen Berge wirkten wahrer, dunkel und waldig grün. Sie spiegelten sich nicht mit ihren Linien in der Fläche des Sees, verdunkelten mit ihrem Abbild nur das Moorbraun des Wassers.
Angrenzend an das Bad liegt ein Seniorenwohnheim. Heute war Fronleichnam. Auf der dem See abgelegenen Seite des Gebäudes spielte unter Baumkronen und zwischen Sträuchern eine Kapelle aus dem benachbarten Ort Kirchenlieder. Die Bewohner des Heims saßen in Stuhlreihen, viele auch in ihren Rollstühlen. Eine Messe wurde gelesen für die Menschen, die fast schon auf ein zur Gänze gelebtes Leben zurück blickten.
Ich betrachtete die schlafende Hexe. Man muss sie kennen, um sie zu erkennen, die langgestreckte Felskontur mit der scharfen Nase und dem spitzen Kinn, das sie dem Morgengewölk über ihr entgegen reckte. Was kümmern sie die Menschlein, die ihr über den Bauch krabbeln? Sie schläft.
Staub zu Staub. Ich kann damit nichts anfangen. Das Wasser ist es. Aus ihm bin ich gekrochen, aus ihm ist alles gekrochen, seltsam, dass ich mir wünsche, dass es mich irgendwann umfängt, wenn ich gehen muss. Ertrinken soll kein schöner Tod sein.
Auf der Seeseite des Nachbarhauses war kein Mensch zu sehen. Anscheinend waren alle bei der Messe, alle dachte ich, bis auf die bettlägerigen. Nur eine alte Frau mit weißem Körper und weißen dünnen Haaren ging gebückt mit vorsichtigen Tippelschritten auf das Ufer zu, watete langsam und unbeirrt ins Seichte. Im Wasser, je tiefer es wurde, je mehr es sie von ihrem Gewicht befreite, wurden ihre Schritte sicherer. Als es ihr bis zur Brust reichte, begann sie mit kleinen ruhigen Bewegungen zu schwimmen.
Aus dem Garten trug mir ein aufkommender leichter Wind singende brüchige Stimmen zu. Sie lobten den Herrn und ich konnte ihre und meine Endlichkeit fühlen vor den Bergen und der Stille des Sees. Dann verstummte die Musik. Wir werden alle verstummen, die Hexe und den See wird es nicht kümmern.
Sie war schon weit, schwamm ruhig und stetig als wäre sie endlich in ihrem Element. Jeder ihrer Schritte auf dem Weg vom Haus zum Ufer war mir wie ein tapferer Kampf erschienen. Nun war sie leicht.
Ich musste an Caspar denken. Meinen Hund, dem ich vor einigen Wochen den Tod geschenkt hatte. Sein Riesenherz, in den letzten beiden Jahren seines Lebens aufs Doppelte gewachsen, das jeden Tag weniger pumpen konnte, seine Augen, wenn er lag und keine Kraft mehr zum Laufen hatte, zu schwach zum Hund sein, sein Blick, mit dem er immer noch mich trösten wollte, mich den gesunden, weil er meine Traurigkeit erkannte.
In diesem Augenblick wusste ich, auf welchem Weg diese alte gebrechliche Frau war.
Ich stand auf und rannte, sprang über den Holzzaun auf das Nachbargrundstück, irgendwo war auch eine Tür, ich wusste nicht wo, sah im Laufen, dass ihre Bewegungen langsamer geworden waren, riss mir stolpernd meine Schuhe von den Füßen, öffnete den Gürtel, sprang aus meiner Hose, streifte das Shirt ab. Als ich über den Steg anlief zum Sprung in den See, sah ich, dass sie trieb. Dann tauchte ich ein, schwamm mit meinen kräftigsten Zügen, ich bin kein guter Schwimmer, ich schwamm Brust, ich kann nichts anderes, aber so erblickte ich sie nach jedem Zug, wenn ich den Kopf hob, ihre weißen Haare, ich war nicht schnell genug, dann kraulte ich, ich beherrsche den Atemrhythmus nicht beim Kraulen, aber es ging schneller, ich schnappte Luft und Wasser, egal, ich kam an, war das die Stelle, an der ich eben noch ihren Kopf, gesehen hatte, ich hoffte, tauchte mit offenen Augen im braunen See, nichts zu sehen, nichts zu erkennen, nur trübes Wasser, dann berührte ich, griff zu, es war ein Arm, ich zog sie empor, ich weiß nicht, wie lange sie ohne Luft war, wie wassergefüllt ihre Lungen waren, schwamm rückwärts, hielt sie mit einem Arm fest, mit ihrem Rücken auf meiner Brust liegend, Beinschläge mit all meiner Kraft. Es war weit. Als ich Boden unter den Füßen hatte, mich umdrehte, sie in meinen Armen trug, sah ich am Ufer eine Schwester in Weiß stehen, sie rief etwas. Zu mir? Ich wusste es nicht, verstand nichts, aber dann gesellten sich andere Menschen zu ihr, immer mehr, und als ich mit der Frau in meinen Armen aus dem Wasser stieg, wurde sie mir abgenommen, ins Gras gelegt, Menschen umringten sie, ich konnte nicht erkennen, was sie taten.
Ich setze mich ins Gras, war gar nicht so erschöpft, nur mein Kopf, wartete, ließ meinen Atem zur Ruhe kommen, beobachtete das Treiben vor mir, langsam stand ich auf, sammelte auf dem Rückweg meine Kleidungsstücke ein, fand nun auch die Tür, die hinüber ins Bad führte, mein Rucksack hing noch über der Stuhllehne auf der Terrasse, ich entnahm im ein Handtuch, trocknete mich, zog mich an.
Ich saß und kümmerte mich nicht um die Zeit. Ich muss lange so gesessen sein, ohne viel von meiner Umgebung wahrzunehmen. Es war mir entgangen, dass sich die Café-Terrasse gefüllt hatte, auch die Uferwiesen des Bades, Decken hatten sich breitgemacht, Eltern die ihren Kleinen Schwimmflügel überstreiften.
Die Tür zum Nachbargrundstück war in meinem Blickfeld, ein alter Mann öffnete sie von drüben, schloss sie hinter sich und kam mit bedächtigen Schritten auf mich zu. Er setze sich ohne zu fragen an meinen Tisch. Schwieg eine Weile, ich auch, er betrachtete mich, dann sagte er:
Es geht ihr gut. Es geht ihr so gut wie vorher. Oder so schlecht. Sie geben ihr Morphium gegen die Schmerzen. Der Krebs frisst sie auf.
Sie hat es mir vor ein paar Wochen gesagt. Nur mir. Weil sie Vertrauen zu mir hatte, sagte sie. Ich würde sie nicht aufhalten, würde sie verstehen. Natürlich habe ich zuerst gesagt: das kannst du doch nicht tun, Erna. Aber sie sagte: Doch ich kann. Und dann hatte sie ihren ganzen Mut gesammelt. Wochenlang. Und immer wenn ich sie fragte oder auch nur fragend ansah, nickte sie. Ich will es tun und ich kann es tun. Ich wusste nicht wann. Hätte es mir denken können. Der Tag der Messe, wenn alle auf der anderen Hausseite im Park wären, alle Bewohner und auch die Schwestern, die Pfleger, die Ärzte. Keiner würde sich am Ufer oder am Steg aufhalten.
Und dann bist du gekommen.
Ich muss ihn völlig fassungslos angesehen haben, denn er legte seine Hand auf meine: Du kannst nichts dafür.