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Endlich zu Hause
Manchmal vergaß er, wo er hinging oder er kannte den Ort nicht, an dem er sich befand. Aber das war einmal, heute nicht mehr. Er wusste, wo er war. Ja, er war richtig, er war genau dort, wo er hinwollte.
Wie lange stand er hier schon? Eine Stunde? Zwei? Oder waren es doch schon fünf? Der Schnee hatte die Fußspuren hinter ihm längst verdeckt und über seine Strickjacke ein weißes Kleid gelegt. So sah er aus, als würde er mit all dem Weiß um ihn herum verschmelzen. Nur sein Gesicht stach hervor. An den Gläsern seiner Brille schmolz der Schnee und er konnte in der Dunkelheit nur schwer etwas erkennen, also nahm er sie ab und säuberte sie. Er sah hinter sich. Ein paar Meter weißes Feld, dann schwarze Nacht. Keine Lichter, keine Auto Wahrscheinlich würde man, wenn man immer weiter ging, irgendwann auf einen Wald treffen, aber sehen konnte man dort nur die Dunkelheit.
Dann blickte er nach vorne. Mehrere Häuser reihten sich, in einem Bogen angeordnet, dicht aneinander. Aus ihren Fenstern strahlte Licht. Sie wirkten gemütlich und einladend. Wie warm es wohl in ihnen war? Bestimmt saßen die Familien glücklich vor ihren Feuern und tranken Tee.
Er ging ein paar Schritte näher heran. Der Schnee verdichtete sich unter seinen Füßen und begann zu knirschen, sonst war nichts zu hören. Die dicken Flocken, die unaufhörlich in Scharen niedersegelten, schluckten jedes Geräusch. In einem der Fenster sah er kurz eine Frau die Treppe nach oben gehen. Kannte er sie? Natürlich kannte er sie, Matilda, nein Monika. Bestimmt wollte sie sich ihre gemütliche Jogginghose aus dem Schlafzimmer holen, die mit den blauen Streifen. Ihr Vater hatte sie ihr zum Geburtstag geschenkt und sie riss gleich am ersten Tag ein Loch hinein. Er konnte sich noch genau daran erinnern.
Er fragte sich, wo die kleine Sarah war. Wahrscheinlich saß sie vorm Fernseher und spielte mit ihren Puppen. Er ging noch ein paar Schritte näher heran und weiter um das Haus herum, bis er durch ein großes Fenster blicken konnte. Dahinter erspähte er die schwarze Scheibe eines gewaltigen Flachbildschirmfernsehers. Aus. Die Kleine war wohl doch schon im Bett. Gut so. Kinder brauchen viel Schlaf.
Er ging noch näher an das Haus heran, bis zum Gartenzaun. Das Licht am Eingangsbereich leuchtete hell und hinter ihm bildete sich ein langer Schatten auf der weißen Schneedecke. Wenn nun jemand aus dem Fenster blicken würde, könnte er ihn ganz sicher bemerken, von dort würde er bestimmt aussehen wie ein Schneemann, so wie er in Weiß gekleidet war. Sarah baute oft Schneemänner. Er würde auch mit ihr einen bauen, ganz bestimmt. Ob er ihr ein gute Vater wäre? Ja, da war er sich sicher. Er hatte so viele schlechte Väter gehabt, deshalb konnte er nur besser sein als sie, weil er von ihnen gelernt hatte was man nicht tun sollte. Und wenn man wusste, was man nicht tun sollte, dann tat man es nicht.
Von dort wo er stand, konnte er im inneren einen Kachelofen mit einer offenen Feuerstelle erkennen, Flammen loderten darin und es bildeten sich flackernde Schatten an den Wänden. Ein Schauer lief über seinen Rücken. Plötzlich erinnerte er sich an ein Gespräch. Ob er es geführt hatte oder jemand anderes konnte er nicht sagen, doch die Worte blieben in seinem Kopf:
„Wer sind Sie?“
„Erst war ich ein Baum, dann ein Scheit. Jetzt bin ich nur noch Asche.“
„Wo ist dein Zuhause?“
„Mein Zuhause ist verbrannt, mit allem was ich hatte und jedem den ich liebte.“
„Und nun?“
„Nun habe ich solche Angst, das mich kein Zuhause mehr hält. Ich werde nie wieder Besitz haben und ich werde nie wieder jemanden lieben.“
Vielleicht stammte das Gespräch auch aus einem Film oder einem Buch. Er wusste es nicht mehr. Der Schnee flog wohl nicht nur auf die Erde herab, sondern auch in seinen Kopf hinein, um dort die Erinnerungen niederzudrücken.
Er stand nun im Garten. Alles war mit einer dicken weißen Watte überzogen. Im Licht der Laternen glitten die dicken Flocken träge hinab und schlossen sich mit den anderen zu weichen Polstern zusammen. Neben dem Gartentor stand ein Busch, der unter der Last des Schnees niedergerückt wurde. Unter ihm lag ein hölzerner Schlitten. Wieso hatte sie ihn nicht aufgeräumt? Er sagte doch zu Monika, sie sollte ihn aufräumen. Es war Sarahs Lieblingsschlitten. Hier draußen würde er nur kaputt gehen. Wütend ballte er seine Hände zur Fäusten und stampfte mit dem Fuß auf. Immer das gleiche mit ihr. Sie musste ihn wieder mal provozieren. Konnte sie denn nicht einmal das tun was er ihr sagte?
Er stocherte mit dem Schürhaken im Feuer herum. Die Terassentür stand offen, durch sie säuselte der Wind hinein und eine flache Schneeschicht hatte sich auf dem Boden ausgebreitet. Es war warm im Wohnzimmer. Eine seltsame Wärme. Eine, die er noch nie gespürt hatte. Geborgenheit lag in ihr. Er zog die nassen Klamotten aus. So war es gemütlicher. Dann hüllte er sich in eine Decke, die auf dem Sofa lag und nahm vor dem Feuer platz. Die Flammen erhellten sein Gesicht und projizierten sein Abbild auf die Wand hinter ihm. Seine Augen waren weit aufgerissen. Sie wollten alles aufsaugen, was sie dort in den Flammen sahen. Manchmal vergaß er, wo er hinging oder er kannte den Ort nicht, an dem er sich befand. Aber das war einmal, heute nicht mehr. Er wusste wo er war. Ja, er war richtig, er war genau dort, wo er hinwollte. Endlich zu Hause. Zu Hause war es doch immer am gemütlichsten. Plötzlich hörte er dumpfe, kleine Schritte auf dem Holzboden. Er stand auf und die Decke fiel von seinen knochigen Schultern. Aufgeschreckt sagte er: "Sarah. Sarah bist du es? Oh Louis, du bist es. Was ist los? Kannst du nicht schlafen?"
Der kleine Junge stand vor ihm, in der rechten Hand hielt er einen Teddybären, die Linke steckte halb in seinem Mund.
"Komm Louis. Komm her. Setz dich mit mir vor das Feuer. Es ist so schön warm."
Fest schlossen sich seine Finger um den Schürhaken, der noch immer in seiner rechten Hand lag.
"Nein!" , die zittrige Stimme kam von der Frau, die sich nun vor das Kind stellte: "Simon. Geh bitte nach oben."
Mit trippelnden Schritten verschwand das Kind.
"Ich habe die Polizei gerufen" , sagte die Frau. Wieso sprach sie immer so streng mit ihm? Er starrte in das Feuer, wollte den Menschen gar nicht beachten, der neben ihm stand. Das verlangte sie von ihm, seine Aufmerksamkeit, doch diesen Triumph wollte er ihr nicht geben. Sie war falsch. Sie hatte einen Fehler begangen, nicht er. Sie sollte ihm zuhören. Leise flüsterte er: „Siehst du denn nicht, was du getan hast? Denk doch an die Kleinen. Die Kleinen haben es nicht verdient. Wir schon. Aber zieh doch die Kleinen nicht mit hinein.“
„Bitte gehen Sie. Bitte“ Jegliche Stärke war aus der Stimme verschwunden, da war nur noch Angst. So wollte sie ihn bestimmt vertreiben. Wieso tat sie ihm das an? Sie wusste doch, was er durchleiden musste. Das Feuer und alles, was er darin verloren hatte. Und sie tat es schon wieder. Er konnte es förmlich sehen, wie eines der Scheite hinausrollte und den Teppich in Brand steckte. Oder was, wenn einer der Vorhänge sich vom Wind getrieben den Flammen näherte? Nur weil sie es unbedingt warm haben wollte. Er hatte es ihr gesagt. Er hatte es ihr schon so oft gesagt. Wieso tat sie ihm das an? Schluss! Jetzt reichte es ihm. Das war das letzte Mal, dass sie ihm Angst machen würde.
Und dann schoss es aus ihm hinaus. Er schrie, mehr in die Flammen gerichtet als zu ihr: "Was fällt dir ein? Was fällt dir eigentlich ein, mir alles zu nehmen? Verdammte Scheiße! Gib es mir wieder! Du hast kein Recht, es mir zu nehmen. Gib es mir wieder!"
Er schritt schnell, von Wut aufgeladen auf die Frau zu. Sie zuckte zurück, hielt schützend ihre Arme vors Gesicht. Seine Finger krampften sich um den Schürhaken. Er wollte ausholen, zuschlagen, wollte ihren verdammten Kopf einschlagen, wollte sie für alles verantwortlich machen und immer weiter schlagen, bis die Angst in ihm erloschen war und sie daran erstickte. Sie war schuld daran. Sie war schuld, an seinem zerbrochenem Leben, an seinen zerbrochenen Träumen und an seiner zerbrochenen Vergangenheit. Nur weil sie es warm haben wollte. Er holte aus, doch bevor er zuschlagen konnte, packten ihn Hände fest an den Schultern und zerrten ihn zurück. Mit einem dumpfen Knall schlug er auf dem Boden auf.
Draußen spürte er jede einzelne Schneeflocke auf seiner nackten Haut, wie kleine Nadeln stachen sie auf ihn ein, doch es floss kein Blut, stattdessen schmolzen sie und liefen in Tropfen hinunter. Nur an seinem linken Auge, dort wo er auf dem Holzboden aufschlug, lief ein Rinnsal Blut, aus einer Platzwunde, sein Gesicht hinab. Seine Hände waren auf dem Rücken mit Handschellen verbunden, wodurch er mit gesenkten Schultern gehen musste. Ein Polizist führte ihn zum Wagen. Er sah sich noch einmal kurz um. Die Frau stand vor der Haustür. Ihr Gesicht war starr, kreidebleich und vor Angst verzerrt. Hätte sie ihm doch nur gesagt, dass es ihr leid täte. Das es ihr so verdammt leid täte. Das alles besser werden würde. Dass er nie wieder Angst haben müsse und dass es nicht seine Schuld war. Doch sie sagte nichts, stand nur mit weit aufgerissenen Augen da und zitterte in der Kälte. Er hätte sie wärmen und trösten können, wäre immer für sie da gewesen. Sie müsste bloß ein Wort sagen, Entschuldigung, und er wäre frei, für immer frei, stattdessen schwieg sie.
Der Polizist drückte seinen Kopf nach unten und zwang ihn ins Auto. Von dort aus sah er durch die beschlagene Scheibe nach draußen. Auf dem Schnee und den benachbarten Häuserwänden pulsierte das rot-blaue Licht des Einsatzfahrzeuges. In seinem Magen brodelte das stechende, das brennende Gefühl der Angst. Der Angst, die ihn nie losließ, vor dem nächsten Tag, dem nächsten Jahr und vor seinem gesamten Leben. Vor ihm verschwamm Bild und Ton, wie die rieselnden Ameisen in seinem alten Röhrenfernseher. Er schloss die Augen, wollte seiner Angst entkommen und floh in sich hinein. Das letzte was er hörte waren die Worte eines Polizisten, der hinter dem Auto stand und telefonierte: "Ja...Nein, wir müssen ihn erst ins Krankenhaus bringen. Der Mann hatte keine Klamotten bei sich. Er hat schwere Erfrierungen an Händen und Füßen. Der muss schon den ganzen Tag in der Kälte gestanden haben. Außerdem wurde er beim Überwältigen verletzt...Nein. Er ist auf den Boden gefallen...Nein, das haben wir schon überprüft. Er war nie verheiratet, hat keine Kinder und keine noch lebenden Verwandten...Ok, wir bringen ihn dann vorbei. Bis dann."