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Endlich frei
Schmerz erfüllte meinen gesamten Körper und ich dachte an meine Freundin, die ich erst gestern Abend zuletzt gesehen hatte. Sie trug ihren roten Lieblingspullover, den wir zusammen in Frankreich gekauft haben.
Der Verkäufer auf dem Markt hatte natürlich einen viel zu hohen Preis verlangt, wie das so üblich ist. Aber sie wollte diesen Pullover unbedingt haben und ließ nicht locker. Daß dem Verkäufer nicht noch die Tränen in die Augen kamen, nachdem sie ihn so gnadenlos heruntergehandelt hatte, war alles. Von da an war es ihr Lieblingspullover. Und sie sah so schön in diesem Pullover aus.
Der Gedanke, daß ich sie nun nicht mehr sehen, berühren, streicheln oder küssen könnte, schmerzte noch mehr. Wenn ich abends einschlief, mit ihr im Arm, das war das Schönste für mich. Sie einfach nur zu spüren, zu wissen, sie war da. Gerne habe ich sie gestreichelt und dabei ihr Haar gerochen. Diesen Duft werde ich nie vergessen. Es sind die kleinen Dinge, die uns nie sonderlich auffallen, die unser Herz erfreuen und Liebe ausmachen. Sie, nur sie war es, um die sich alles bei mir drehte. Beim Aufstehen mußte ich an sie denken, tagsüber fragte ich mich, was sie wohl gerade macht und mein letzter Gedanke vor dem Einschlafen galt auch ihr. Sie war etwas besonderes, das hatte ich schon gemerkt als wir uns das erste Mal in die Augen sahen. Eher zufällig war das, aber ich hatte das Gefühl, daß ich sie schon seit Jahren kannte und den Rest meines Lebens mit ihr verbringen wollte.
Sie war meine Schönheitskönigin, auch wenn sie nicht wie ein Modell aussah. Das war mir egal, für mich war sie einfach wunderschön. Ihr Blick vermochte, mich immer wieder zu faszinieren. Von diesen Augen ging etwas magisches aus, daß mich fesselte und ein Kribbeln in mir hervorrief. Mit ihr wollte ich zusammensein, doch das ging nun nicht mehr. Warum verstehe ich selbst nicht. Was auch immer passiert ist, es gibt immer noch einen Ausweg. Aber gibt es den wirklich immer? fragte ich mich und meine Träume kamen mir wieder in den Sinn. Wovon hatte ich geträumt? Von einem tollen Job, einem kleinen Haus im Grünen, meiner Freundin, die ohne Zweifel meine Frau geworden wäre und ein oder zwei Kindern. War denn das zuviel verlangt. Ich wollte doch nicht die Weltherrschaft, nur mein kleines persönliches Glück. Ein Stück Frieden und Ruhe in dieser so hektischen Welt.
Und auf einmal war es, als ob ein Film vor meinen Augen ablief. Mein Film. Ich sah mich, als ich klein war und Fahrrad fahren lernte. Wie ich mit meinen Eltern am Strand entlang ging und das erste mal eine Muschel sah. Als ich von meinem Lieblingsbaum fiel, mir den Arm verletzte und meine Mutter mir sagte, daß alles wieder gut werden würde; das erste mal in einem Kino saß; in die Schule kam und größer wurde; die vielen Sommerferien die ich meist mit meinen Eltern in unserem Ferienhaus in Frankreich verbracht hatte; meine erste große Liebe; die Gesichter meiner Eltern, als ich an meinem 18. Geburtstag den Wagen meines Vaters gegen eine Laterne gesetzt hatte, sie waren nicht böse, eher erleichtert, daß mir nicht passiert war; meine Schulentlassung und natürlich dachte ich an meine Freundin und mich und die Zeit, die wir hatten. Es war die wunderbarste Zeit meines Lebens mit ihr, angefangen bei dem ersten Blick bis hin zu den Nächten, die wir zusammen verbrachten. Von dem Urlaub auf Malta bis hin zu unseren Zukunftsplänen. Erst gestern war ich bei ihr, wir haben uns für heute Abend am Kino verabredet und ihr Gute-Nacht-Kuß war so lieblich, daß ich gar nicht gehen wollte. Doch ohne Verabschiedung kann es kein Wiedersehen geben, dachte ich und freute mich auf den Abend.
Es kam mir alles so langgezogen vor, und dabei waren dies alles nur Bruchteile von Sekunden. Meine letzten beiden Gedanken waren "Schön, daß ich sie noch einmal sehen konnte" und "Endlich frei!".
Und plötzlich verschwand der Schmerz aus meinem Körper und es wurde kalt, als ich mit meinem Auto gegen den Brückenpfeiler prallte.