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Enden
Die Tür zum Atelier war unverschlossen, ich stieß sie langsam auf. Schwer zu sagen, warum ich mich nicht bemerkbar machte. Ich hatte ein ungutes Gefühl, schlich unter ihren Gefangenen weiter, Holzplastiken, alles Frauen, die in einer Art Voliere von der Decke hingen. Ich bemerkte Raela durch den Raumteiler aus alten Obstkisten hindurch. Sie kniete auf dem Metallbett, in dem wir uns so oft aalten. Ich schritt unbemerkt näher. Schweiß auf ihrer Haut ließ sie glänzen wie eingeölt. Ihre Augen verbarg sie hinter den Händen, als wolle sie der Welt den Zutritt verwehren. Dann glitten die Finger über ihr Gesicht, bis sie das leicht erhabene Kinn erreichten, wo sie verharrten und die kleine Narbe verdeckten. Raela atmete geräuschvoll aus, betrachtete den leblosen Mann, der unter ihr ruhte, packte dessen Ohr und drehte seinen Kopf von links nach rechts - seidene Speichelfäden fielen ihm wie ein Spinnennetz auf Wange und Hals. Sie stieg aus dem Bett, griff nach Boxershorts, die achtlos auf dem Boden lagen, und wischte sich mit ihnen zwischen den Beinen ab.
»Christoph?«, erschreckte ich sie und gleichzeitig mich selbst. Ich trat vor, erkannte, dass es ihr Ehemann war, der dort lag. »Er ist tot!« Mein Blick blieb kurz an seinem erschlafften, feuchten Glied hängen, was mir einen Stich versetzte.
Sie zuckte zusammen. »Ja«, sagte sie.
Ich wollte nachsehen, zögerte jedoch. »Was ist passiert?«
Raela sah mich nur an. Wunderschön war sie, mit ihrem braunen Haar, das ihr ovales, blasses Gesicht umspielte. Haare wie Kringel, die man auf Papier malt, während man mit Gedanken ganz woanders ist.
»Verdammt, Raela! Sag was!«
Sie rührte sich nicht.
»Erst fickt er dich, dann krepiert er einfach, oder was?« Ich hüllte jedes Wort in Speichefetzen, die ich in ihre Richtung spie, bevor ich kurz auflachte. Ein schrilles, verrücktes Lachen.
»Sch«, sagte sie, einen Finger über ihren Mund gelegt.
»Was hast du gemacht, hm? Sag's mir! Ihn totgelutscht?«
»Hör auf!«
»Hör auf? Spinnst du?« Ich schüttelte den Kopf. »Du sagst mir, was passiert ist!« Mein Blick huschte zu dem Toten, strich erneut über sein Glied.
Sie legte den Kopf nach hinten und blickte nach oben.
»Rael...«
»Okay«, sagte sie, stemmte trotzig ihre Hände in die Hüften: »Ich hab ihm ein Kissen aufs Gesicht gedrückt. Zufrieden?« Das Zufrieden klang nicht mehr so tough, ihre Stimme brach. Ich schob sie beiseite und betrachtete die Leiche eingehender. Erst jetzt bemerkte ich die Handschellen an Füßen, Händen und Bettpfosten, sah rote, teils blutige Striemen auf der Haut. Ich drehte mich zu ihr um. Sie sah wohl etwas an mir, was ihr nicht gefiel. Reala eilte davon, ihre nackten Füße klatschten auf dem Boden. Ich setzte nach und packte sie am Arm, zwang sie, mich anzusehen. Sie stand eine Hand breit vor mir, es roch nach Schweiß und Seife, in meinen Ohren fiepte ein greller Ton und mein Herz schlug geräuschvoll auf mich ein. Ich schob sie weiter zurück und drückte sie gegen die Wand. »Wieso hast du das gemacht?«
Eine Träne rann ihr die Wange hinab.
»Wieso?«
»Weil ich es musste«, sagte sie, schluchzte und sah mich an. Nie war sie schöner. Ich wollte sie schlagen. Ihr wehtun. Stattdessen streichelte ich über ihr welliges, widerspenstiges Haar, sie wirkte so verletzlich, so unschuldig. Sie bebte. Ich fühlte mich elend. Hatte sie es für mich getan? Für uns? Ich umarmte sie, komm her murmelnd, spürte ihre Brüste. Meine Finger strichen ihren Rücken entlang nach unten, jetzt war ich es, der sagte: »Sch.« Ich löste mich von ihr, hielt ihr nasses Gesicht in Händen, fixierte ihre Augen, fasziniert von den Mustern auf ihren Iriden. In meinem Bauch herrschte Schwerelosigkeit, ebenso in meinem Kopf. »Raela?«, hauchte ich. »Du ... Was ...« Ich presste die Lippen auf ihre, einmal, zweimal, meine Zunge suchte einen Weg. Sie ließ es zu. Ich schmeckte ihre Süße und das Salz ihrer Tränen, die es bis zum Mund geschafft hatten. Sie schluchzte oder stöhnte. Mein Penis rieb an ihrem Bauch, pulsierte, ich konnte nichts dagegen tun. Sie nestelte an meiner Hose, der Knopf sprang auf, dann begann sie zu wimmern. Heulte laut auf. Ich drückte sie fest an mich, bereit, sie gegen jeden und alles auf der Welt in Schutz zu nehmen. Die Gedanken an den Mann im Rücken versperrte ich und legte den Schlüssel weg. Vorerst kein Gedanke mehr an ihn, überhaupt keine Gedanken mehr.
Ich dachte an die Geschütze - obwohl man keine zu Gesicht bekam -, die dem Kanonenplatz seinen Namen verliehen, fragte mich, ob sie jemals geschossen hatten. Bestimmt hatten sie das, eigentlich war es mir aber egal. Mir war vieles egal. Der Job, meine Ex, einfach alles. Ich kam oft hier hoch, trotz des schweren Aufstiegs. Meine Daumen schoben sich unter die Trageriemen, als wöge der Rucksack schwer, er verbarg jedoch nur eine Flasche Wasser und einen angelesenen Roman, bei dem ich nicht weiterkam, den ich nicht mochte und trotzdem mit mir herumschleppte. Ich weiß auch nicht warum. Die Mauer war unbequem, der Schmöker lag wie immer an meiner Seite und die Füße baumelten vor und zurück. Bleierne Wärme und tief hängende Wolken drückten auf Mensch und Land. Ich sah Richtung Horizont, nicht nach unten, nicht dorthin, wohin es die Beine zog.
»Hannes? HANNES!«
Ich drehte mich um. Die Frau auf der Bank kreischte, der vollbärtige Mann daneben kippte langsam zur Seite wie ein Penner, der zu viel getankt hatte. »Hilfe«, rief sie und: »Hannes«, und: »Oh Gott« und dergleichen. Ich dachte an Infarkt oder Insult, als ich zu ihnen rannte. »Ich bin Arzt«, sagte ich und mein Gesichtsfeld schrumpfte auf den Bärtigen zusammen. »Hallo, H-a-l-l-o!«, schrie ich ihn an, trommelte grob mit Fingern auf seiner Brust. Ich fragte: »Ist er Diabetiker?«, während ich ihm den Kiefer runterklappte und seine Mundhöhle inspizierte, »Herzerkrankungen?«, während mein linkes Ohr über seine geöffneten Lippen schwebte, eine Hand auf seinem Bauch. »Sind sonst irgendwelche Krankheiten bekannt?« Ich suchte nach einem Puls. Nichts. »Nein«, und »Nein«, und »Heuschnupfen«, hatte ich sie sagen gehört. Den Mann packte ich am Kragen und zog ihn auf den kiesgesäumten Boden. Jetzt blickte ich in die erschrockenen Gesichter um uns. Die Frau sagte: »Oh Gott!«, hielt sich den Mund, ich beachtete sie nicht weiter.
»Du!«, weckte ich einen Jugendlichen mit weißen Kopfhörern, die er wie ein Sklavenring um den Hals trug. »Ruf' Hilfe, einen Notarzt, ja!«, und ehe ich noch jemanden aussuchen konnte, kniete eine Frau aus der Menge nieder und berührte meine Hand. Raela. Konsterniert sah ich sie an.
»Ich helfe ihnen«, sagte sie.
Bevor ich etwas zu erwidern im Stande war, schloss sie ihre Lippen um die Nase des Mannes und pustete Luft in den nach hinten gekippten Schädel. Ich drückte. Wir waren ein gutes Team, wie im Rausch. Erst das Martinshorn heulte uns in die Nüchternheit zurück. Es half letztendlich nichts, auch der Notarzt füllte kein Leben mehr in die leere Hülle. Der Mann war für immer fortgegangen und es fühlte sich so an, als hätte er ein klein wenig von mir mitgenommen.
Wir bestellten Wodka, in einer nahegelegenen Kneipe, während wir uns damit trösteten, richtig gehandelt zu haben, und dass man eh nie wisse, wie ein Reanimierter zurückkehrte. Dass er womöglich froh sein könne, bla, bla, bla.
Als Raela zum Wein überging und ich zum Hefe, wurde das Gespräch zunehmend interessanter. Sie erzählte von ihrer Kunst, Ein Käfig voller Frauen - sie stellte aus -, von ihrer Zeit als Krankenschwester und ihrem großen Traum, mit dem Fahrrad quer durch Finnland zu reisen.
»Durch Finnland?«
»Ja«, sagte sie.
»Wieso denn Finnland?«
»Keine Ahnung, ich habe eine Doku über Finnland gesehen, und einiges gelesen. Das hat mich einfach verzaubert.« Sie lachte und spielte mit einer Locke. »Und bevor du fragst, nein, ich bin kein Radcrack, ich habe nur ein altes Damenrad und das steht platt im Keller rum.«
»Okay.« Jetzt lachte ich. »Klar, warum auch nicht, mit ’nem platten Damenrad durch Finnland. Immerhin trampeln dich dabei keine Touris nieder, oder?«
»Eben.«
Wir stießen an und spätestens in diesem Moment war es um mich geschehen. Da war diese Traurigkeit in ihrem Blick - mit Augen wie gemalt -, Haare voller unbändigem Eigensinn, das Muttermal am Nasenflügel und die feine Narbe an ihrem Kinn. Ich zeigte darauf.
»Ach, aus der Kindheit«, sagte sie und rieb darüber.
Wir nahmen ein Taxi zu ihrem Atelier. Ich war beeindruckt von ihren Werken. Bilder in grellen Farben, Bilder ohne Farben, schwarz und weiß. Betonskulpturen und Plastiken in Metall. Frauenmotive, dick und dünn, ausdruckslos in ihren Gesichtern - schwer zu deuten.
Ich steckte den Finger zwischen die Gitterstäbe eines Vogelkäfigs, indem ein Mädchen kauerte. Ich bemerkte weitere Gefängnisse aus Draht und Eisen. »Wieso hälst du die Frauen alle gefangen? Wieso das Mädchen hier?«
»Ich mach' das nicht. Vielleicht hält sie das Leben gefangen. Muster, Erinnerungen ...«
»Männer?«
»Ja. Kann sein.« Sie hob die Brauen für einen Moment. »Oder sie sich selbst.« Sie stand jetzt nah neben mir. Ihr Haar duftete wie Heu.
»Siehst du?« Reala sperrte die Käfigtür auf. »Sie könnte einfach raus.«
»Hm.« Ich schloss die Tür wieder.
Wir unterhielten uns über meine Arbeit in der Rehaklinik, Bandscheibenvorfälle und Hüftprothesen. Ich hatte nicht die geringste Lust darauf. Wir sprachen über eine ihrer Vernissagen, über Erfolge und Misserfolge. Ich kannte mich nicht aus mit der Kunst, das spielte aber keine Rolle. Sie öffnete eine Flasche Faustino, wir tranken weniger als ein Glas, bevor wir zum besten Sex meines Lebens übergingen.
Der Verstorbene hatte mir etwas genommen, hinzugewonnen hatte ich mehr. Und es sollte noch viel mehr werden.
Eine Erinnerung bohrte oft in mein Bewusstsein. Das KaiKa, ein nettes Café, in dem ich öfter saß, meist zum Lesen. Raela war ich hier noch nie begegnet, bis zu diesem Montag. Christoph hatte sie begleitet - ich hatte ihn das erste Mal gesehen, ausgefüllte Jackettärmel, flacher Bauch, Ray Ban auf der Nase - ein Klischee, hatte ich gedacht.
Als sie mich sah, weiteten sich ihre Augen, nur für einen Moment, kaum wahrnehmbar. Mein Mund wurde trocken, obwohl er voll Cappuccino war. Beinahe hätte ich ihn ausgespuckt. Ich setzte ungelenk die Tasse ab, braune Flüssigkeit schwappte in die Untertasse. Ich starrte Raela an - beinahe hätten meine Lippen ihren Namen geformt -, glaubte Christophs Blick zu spüren, durch die dunklen Gläser seiner Sonnenbrille, und tat so, als richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder der Straße zu, zwang mich, der Dame mit Rollator nachzuschauen, die gebeugt und mit sich selbst plappernd ihrer Wege schlich. Der Schmöker - ich kam einfach nicht weiter mit ihm - lag in meiner Hand. Ich las Satz um Satz, ohne den Inhalt zu begreifen. Spürte Raela im Rücken, fühlte mich wie auf einem Podest. Mein Cappuccino wurde kalt, zu trinken traute ich mich nicht.
Ich wollte zahlen, suchte den Kellner mit Gesten, er schien mich zu ignorieren. Aus den Augenwinkeln sah ich sie, zwei Tische hinter mir.
»Ich möchte gehen«, hörte ich sie sagen. Es war, als könnte ich alle Geräusche ringsum ausblenden.
»Wir sind doch eben erst gekommen«, seine Stimme klang sonor, ich hasste sie..
»Mir geht's nicht gut.«
»Auf ein Mal? Was ist denn?«
»Keine Ahnung, Kopfweh.«
»O-k-a-y, willst du ein Wasser?«
»Nein, ich will gehen!«
»Hey, ich möchte aber bleiben, nur auf einen Kaffee, ja?«
»Dann bleib doch!«, sagte sie. Ich hörte, wie erst ein Stuhl, dann der zweite zurückgeschoben wurde. Reala eilte Richtung Gehweg, er hinterher, schnappte ihren Arm - ich wäre am liebsten aufgesprungen und hätte ihm eine verpasst.
»Was ist denn?«, fragte er sie.
Sie riss sich los und rieb eine Stelle an ihrem Kinn. »Mir geht's einfach nicht gut! Kapierst du das nicht? Idiot!«
Ich sah, wie er die Zähne fletschte und nach ihr grapschte, dann sprang ich auf, sie sah es, schüttelte den Kopf. Er drehte sich zu mir um, erhob einen Finger. »Was?«, rief er mir zu. Noch bevor ich etwas erwidern konnte, packte Raela ihren Mann am Arm, zog daran und sagte: »Komm. Lass uns gehen.« Er taxierte mich, ich war unfähig etwas zu sagen oder zu tun. »Komm, bitte«, sagte sie und er ließ sich von ihr wegziehen. Ich stand da wie eine Galionsfigur ohne Schiff, sah, wie er immer wieder den Kopf zu ihr drehte - einmal auch nach mir -, sie ansprach oder schrie, Raela blickte nur nach vorne. Ich fühlte mich feige. »Darf's noch was sein?«, fragte der Kellner. Ich zuckte zusammen, bemerkte viele Blicke auf mir ruhen. »Zahlen bitte«, sagte ich und nahm wieder Platz. Meine Schläfen pochten und ich fragte mich, wohin sie wohl gingen. Was sie noch tun würden. Ich schämte mich dafür.
Ich liebte es, wenn sie mir den Nacken streichelte, genau so, wie sie es tat, als sie mich fragte, was mein letzter Wunsch wäre, ginge die Welt unter.
»Ich weiß nicht«, sagte ich, »Das.«
Sie wollte wissen, was ich meine.
»Na du und ich, so, wie wir jetzt liegen. Du löffelst mich, streichelst mich und wir bewundern gemeinsam den Lichtblitz und die Rauchsäule, die sich bis in den Himmel schraubt, bevor alles vorbei ist.«
Sie lachte und fragte, ob ich nicht eher an Sex dachte, während sie mir auf die Schulter schlug.
»Nein«, sagte ich. Und nach einer Pause: »Na ja.« Ich grinste. Presste ihren Arm an meine Brust. »Der Sex ist schon toll ...« Ich hob meinen Kopf, um sie sehen zu können, schaffte es jedoch nicht ganz. »Ich liebe dich, Raela«, sagte ich in ihre Richtung.
Sie blies mir kühle Luft ins Haar, Gänsehaut überzog mich, dann trafen feuchte Lippen die Stelle, an der ein Halswirbel die Haut wölbte.
»Ich weiß«, sagte sie.
»So, das weißt du also?«
»Natürlich.«
Ich drehte mich um - unsere Knie berührten sich -, spielte mit einer ihrer Locken, zog sie durch meine Finger und ließ sie zurückschnappen, als wäre sie aus Gummi. »Ich will, dass wir zusammen sind. Wir gehören zusammen.«
Raela schloss die Augen. »Ich will das auch«, sagte sie.
»Was hindert uns denn? Wir packen unseren Kram und hauen ab. Ich fasste an ihr Kinn, sie hob ihren Kopf nicht.
»Du weißt es.«
»Scheiße!«, sagte ich. »Er kann dich nicht festhalten.«
»Ich weiß.«
»Du musst an dich denken, an dein Leben. Du hast nur eins, weißt du!«
»Ich weiß.«
»Ja, und?«, fragte ich.
»Was und?«
Ich schnaubte und sprang aus dem Bett.
»Ich liebe dich«, sagte sie.
»Das reicht mir aber nicht!«, schrie ich sie an. Ich begann mich anzuziehen. »Du fickst ihn immer noch, oder?«
Sie blickte zur Decke, kratzte an ihrer Narbe am Kinn.
»Also fickst du mit ihm. Oh Mann!« Meine Füße kämpften mit den Socken. Weg, ich wollte nur weg.
»Hör mal ... hey ...« Raela berührte mich am Bein, ich sah sie wütend an.
»Gib mir etwas Zeit, ja«, sagte sie.
»Fuck! Wie viel Zeit denn noch? Reichen acht Monate nicht? Weißt du, ich glaube dir nicht mehr! Du willst dich nicht trennen. Ich bin doch nur ein Nebenfick, stimmts nicht? Zum Zeitvertreib! Ein Nervenkitzel!«
»Ich liebe dich!«, sagte sie.
»Und wieso verlässt du dieses Arschloch dann nicht einfach? Ich glaube dir kein Wort!«
»Wir haben ein Kind verloren.«
Ich hielt inne. »Ihr habt ein Kind verloren?«
»Ja.«
»Du warst Mutter?«
»Ja«, ihre Stimme klang monoton, als sie weitersprach, »Steven war vier.«
»Okay.«
»Christoph hatte eine schwere Zeit. Ich glaube, es war noch schlimmer für ihn, als für mich, wenn so was überhaupt geht.« Sie schnaubte. »Das hat alles verändert, er hat sein Kind verloren, dann seine Arbeit, sich selbst. Und mich ... Mich hat er auch verloren.« Sie schluchzte. »Es würde ihn umbringen, wenn ich ihn jetzt auch noch verlassen würde, ich hab Angst um ihn. Und ja«, sie schrie jetzt, »ich habe ihn einmal sehr gemocht. Er war ein guter Mann! Sorry, wenn du das nicht hören willst. Aber es war so! Halte das mal aus!«
Ich sah sie nur an.
»Er hat den Wagen gefahren und es vergeht kaum ein Tag, an dem er nicht mit sich ringt, ob er Steven folgen soll, da half auch keine Therapie und keine verfickten Pillen! Scheiße! Und ja, gottverflucht!, ich hab mich in dich verliebt, auch wenn ich noch verheiratet bin. Obwohl ich noch verheiratet bin!« Tränen rannen an ihr herab, sie wischte sie ungestüm ab. »Also gib mir ein wenig Zeit! Bitte!«
Ich setzte mich.
»Ich finde schon einen Weg! Meinen Weg, okay?«
»Oh Mann«, sagte ich und rieb mir die Stirn. »Wieso muss das alles so beschissen kompliziert sein, hm? Warum können wir nicht einfach ...«
»Was?«
»Na ja ...« Ich legte eine Hand auf ihre Wange. Raela sah aus wie erstarrt, wie eine dieser Wachsfiguren.
»Das war ... ist schwer für dich«, sagte ich.
»Du hast keine Ahnung.« Sie schüttelte den Kopf, nahm meine Hand von ihrem Gesicht. »Keine Ahnung davon, wie es für mich war, du weißt gar nichts!« Jetzt sprang sie aus dem Bett. Ihr Zeigefinger zielte in meine Richtung. »Niemand macht mich mehr fertig! Weder Gott noch sonst wer. Auch du nicht!« Ihr Finger schlug einen Takt. »Ich entscheide, was richtig und falsch ist! Ich! Und ja, es ist mein Leben! Das geht auch verfickt niemanden was an! Und wie es mit Christoph weitergeht, entscheide auch ich! Nicht mal er selbst! Nie wieder wird er das!«
Reala stürmte ins Bad und knallte die Tür hinter sich zu. Ich wollte nachsetzen, ließ es aber. »Raela«, rief ich, doch sie antwortete nicht.
Monate wie Jahre, Monate wie Tage. Ich verbrachte die glücklichste, traurigste, wütendste, leidenschaftlichste Zeit meines Lebens - Achterbahn der Gefühle. Ich aß so gut wie nichts mehr, hatte Ärger bei der Arbeit, meldete mich öfter krank, ertappte mich dabei, wie ich mir wünschte, ihr nie begegnet zu sein, und verfluchte mich sofort danach dafür. Wir hatten Wochenenden in Prag, Saarbrücken und Breisach - ganz egal -, wir nutzten kostbare Zeit mit Zärtlichkeiten, Sex und schönen Worten, wir verplemperten Zeit, mit Streit und Vorwürfen, Forderungen und Garstigkeiten. Es war unwirklich, verrückt und wundervoll.
Die Stimme auf der Mailbox forderte mich auf, heute nicht ins Atelier zu kommen. Ich ging trotzdem hin. Raela hatte das gewusst, dessen bin ich mir sicher.
Die Tür war unverschlossen, ich stieß sie langsam auf. Ich hatte ein ungutes Gefühl, schlich unter ihren Gefangenen weiter, Holzplastiken, alles Frauen, die in einer Art Voliere von der Decke hingen ...
Was ich aufgestoßen hatte, war die Tür zum letzten Kapitel: Die Zeit war gekommen.
Schließlich stellten wir uns, nein, Raela stellte sich. Ich begleitete sie. Wir gaben unsere Aussagen ab, jeder in einem separaten Raum. Die Ermittlungen gegen mich wurden bald fallengelassen. Den Gedanken an Flucht hatten wir nie zu Ende gedacht, nie ernsthaft in Betracht gezogen.
Während der Verhandlung sagte sie kaum ein Wort. Sie sprachen von Vorsatz und davon, dass sie ihren Mann für den Tod des Kindes verantwortlich gemacht hatte und vieles mehr, auch von mir, klar. Meine Zeugenaussage änderte nichts. Raela nahm das alles scheinbar gleichgültig hin.
Ich glaube, sie hat sich einfach einem Schicksal ergeben. Ich sah es an ihren Augen. Ich sah, dass sie nicht kämpfen wollte. Nicht mehr. Ich sah Schuldgefühle. Mit mir redete sie nie wieder. Warum, weiß ich nicht. Einmal drehte sie sich während der Verhandlung zu mir um und formte etwas mit den Lippen. Ich liebe dich, las ich heraus, aber vielleicht bildete ich mir das nur ein. Auf meine Briefe hat sie nie geantwortet. Auch nicht auf Postkarten mit Finnland- oder Fahrradmotiven. Manchmal habe ich Angst um sie. Ich habe oft Angst um sie. Letztendlich ist sie fortgegangen und hat viel mehr mitgenommen, als ich eigentlich aushalten kann. Das Buch habe ich übrigens fertig gelesen. Es wurde nicht besser, aber immerhin habe ich es zu Ende gebracht.
Ob zu mir irgendwann ein Notarzt kommen wird, weiß ich nicht. Ob mich wer reanimieren wird, ob und wie ich daraus erwachen werde, weiß ich ebenfalls nicht. Es ist mir auch egal. Ich werde einfach warten, und sehen, was die Zukunft bringt.