enden
Um sechs Uhr am Morgen wacht er auf. Gewohnheit von all den Jahren. Er reibt sich die Augen, reckt sich und gähnt, alles auf einmal. Es ist schon hell; einer der Vorzüge des Sommers. Vögel zwitschern, der Busch vor dem Fenster raschelt in einer leichten Brise. Er fühlt in seinen Körper hinein: vielversprechend. Nur wenig Ziepen und Drücken und diese merkwürdige Benommenheit der letzten Tage lässt auch nach. Er dreht sich zu seiner Frau hin. Neben ihr am Bett steht der Rollstuhl. Dieses Ding aus Stahl und Leder redet mit ihm; das tut es immer, wenn er es ansieht. Redet über böse Wahrheiten. Manchmal muss man die Ohren fest verschließen. Er küsst sie auf die Stirn.
»Guten Morgen, mein Schatz«, sagt er und lächelt das immer gleiche Lächeln. Gewohnheit von all der Liebe. Sie antwortet nicht. »Alte Schlafmütze«, sagt er und steht auf. Knarrende Dielen und Türen verraten seinen Weg. Stille. Toilettenspülung. Klapperndes Geschirr aus der Küche. Der Kaffeevollautomat, den sein Sohn ihm zwanzig Mal erklären musste, zischt und rattert.
Er steht da und sieht die Bilder an. Die Bilder von früher. Sie hängen an der Wand wie eine Landkarte der Geschichte. Ihrer Geschichte: Maria und Karl. Zwei Menschen, die sich lieben. »Was haben wir doch für ein Glück gehabt«, denkt er. »Was für ein schönes Leben.«
Kaffee plätschert in die Tasse. »Ria«, ruft er. »Frühstück!« Immer schon. Er stellt die Tassen neben die Teller, jeder an seinem Platz. Schon immer. Dann geht er sie holen. Er schiebt sie mit dem Rollstuhl an den Tisch und legt ihr die Zeitung zurecht. Das mag sie.
Er knuspert sein Knäckebrot – der Arzt hat gesagt, er solle ein Bisschen auf seine Ernährung achten – und fragt sie nach einer Weile, was es Neues in der Welt gibt. Aber sie scheint so vertieft, dass sie nicht antwortet.
Als sie fertig sind, sagt er: »Bleib nur sitzen, ich mach das schon« und räumt den Tisch ab. Sie sieht ihm zu, mit Augen, die immer trüber werden. Er singt ein Liedchen. Er singt oft. Er kann es nicht und es klingt wie eine Kreissäge; aber er liebt es. Das ist alles, was zählt.
Er fragt, ob er sie in den Garten bringen soll, hinten zu ihrem Plätzchen beim Weißdornbusch. Sie antwortet nicht. Aber er weiß, dass sie gerne dorthin möchte. Er hat ihre Stimme schon lange nicht mehr gehört. Diese Stimme, die ihn verzaubert hatte. Damals, als sie auf der Bühne stand und er mit seinen Freunden am Stehtisch, einige Meter entfernt. Ihre Stimme war wie ein Lasso, sie zog ihn zu ihr hin. Wie in Trance stand er vor der Bühne und sah zu ihr hinauf. Als ihre Blicke sich trafen, wusste sein Herz sofort, dass seine Suche zu Ende war. Hier stand sie vor ihm: seine Zukunft. Singend, tanzend und wunderschön. Nach ihrem Auftritt fand er sie draußen vor dem kleinen Festzelt, eine Zigarette rauchend. Er ging auf sie zu und ihre Blicke trafen sich ein zweites Mal. Ein Funken, der ein Feuer entzündete.
Er singt das Lied, das sie damals sang, während er sie zum Weißdornbusch schiebt. Eine Träne rinnt seine Wange hinab. »Jedes Feuer erlischt einmal«, denkt er. »Jedes. Was uns bleibt, ist die Erinnerung. Und wenn wir selbst erlöschen, nicht einmal mehr das.«
Er stellt den Rollstuhl so, dass sie zwischen den Bäumen auf der Westseite des Grundstücks auf den kleinen See unten im Tal schauen kann. Früher war sie so gerne dort zum Schwimmen. Es genügte so wenig, sie glücklich zu machen. Auf der anderen Seite spannte er den Sonnenschirm auf; die Sonne würde jeden Augenblick über den kleinen Hügel auf der Ostseite scheinen. Er küsste sie auf die Stirn. »So, mein Schatz, jetzt träum ein Bisschen«, sagt er und geht davon. Sein Schritt ist schnell, denn er erträgt es nicht, sie so zu sehen. Dieses Leben, das einst so unbeschwert war, so reichlich und überquellend, dieses Leben…vertrocknet.
Er drückt die Terrassentür auf, schwer atmend, denn zum Schluss ist er beinahe gerannt. Sein Herz pocht und gibt ihm zu verstehen, dass das eine der letzten schlechten Ideen war, die er hatte. »Auch nicht schlimm«, denkt er und lässt sich in seinen Sessel fallen. Die Welt verschwimmt ein Bisschen, wird unscharf, verliert ihre Kontur. Seine Augen rollen umher, suchen etwas zum Festhalten.
Sie finden etwas: Auf dem Bild ist Holger drei Jahre alt. Er kniet neben einem Hasen in der sommergrünen Wiese. Papa auf der anderen Seite, nicht im Bild. Daneben der kleine Teich, weiße Blüten säumen sein Ufer. Holgers kleine Hand langt nach dem Hasen, fasziniert von dessen langen Ohren. »Ein Moment im Leben eines glücklichen Mannes«, denkt er. Einer von vielen. Sehr vielen. Der Hase war damals weggehoppelt und beinahe in den Teich geplumpst. Holger hatte zu weinen angefangen und wollte sich schier nicht mehr beruhigen. Maria saß einige Meter entfernt auf der Terrasse und lachte und dann weinte sie auch und dann war das plötzlich ein und dasselbe und er konnte an ihrem Gesicht ablesen: »ich habe meine Bestimmung gefunden und ich nehme sie an.« Der Hase ist längst tot. Holger ist erwachsen und hat bereits die nächste Generation hervorgebracht. Wachsen und Vergehen. Der ewige Kreis und so. Darüber lässt sich ehrfurchtsvoll diskutieren, wenn man jung ist, wenn das Schließen des Kreises noch Jahrzehnte entfernt ist. Aber wenn aus Jahrzehnten Tage geworden und die Rechnung auf dem Tisch liegt, dann hat die Furcht nichts Ehrenvolles mehr.
Sein Herz beruhigt sich. Er hat Durst. Er rappelt sich auf und gießt sich in der Küche ein Glas Wasser ein. Sein Blick streift den Kalender. Der heutige Tag ist rot umkringelt und der Name seines Sohnes steht in dem Kreis. »Ach ja, die kommen ja heute zu Kaffee und Kuchen«, denkt er. Das Gedächtnis: eine Leinwand, bemalt mit den Bildern des Lebens, irgendwann einfach voll. Er trinkt sein Wasser aus, die Kohlensäure kommt schmerzhaft wieder zutage. »Dieser Körper«, denkt er. Zum Teufel damit.
Er geht wieder nach draußen. »Ria, ich fahr schnell runter zum Conrad Kuchen kaufen. Die Kinder kommen ja heute.« Maria blickt stumm zum kleinen See hinab, die Augen halb geschlossen, den Kopf leicht nach vorne gebeugt. Früher hatte sie den Kuchen gebacken. Es hatte auf der Welt nie einen besseren gegeben.
Das Auto ist innen schön kühl. In den letzten Jahren, als die Sommer so heiß wurden, diente es ihm immer mal wieder als Zufluchtsort. Er steckt den Zündschlüssel und dreht ihn um. Während er sich mühsam anschnallt, fällt sein Blick auf den Kilometerstand. Zweihundertsiebenundneunzigtausenddreihundertvier steht dort. Nichts weiter als aufeinanderfolgende Ziffern, aber jetzt viel mehr als das. Jede einzelne davon ein Fenster in eine Vergangenheit, so lebendig und glücklich wie man es sich nur vorstellen kann. Unzählige Szenen flimmern über die Leinwand seiner Erinnerung. Holger am Staffelsee, Holger im Reptilienzoo von Klagenfurt, Maria und Holger nach der Entbindung auf dem Weg nach Hause, Holgers erste Fahrversuche, Holger in Paris, Holger in Prag, er und alte Freunde auf Tour durch Süditalien. Er weiß nicht, wie viele Autos, er weiß nicht, wie viele Kilometer. Er weiß, dass er keinen einzigen davon bereut. Er startet den Motor. Er dreht sich mühsam nach hinten, um aus der Garage zu fahren, gibt ordentlich Gas, um die steile Einfahrt hinaufzukommen und kracht gegen die Garagenwand. Ein Schmerz fährt in seinen Nacken. Irgendetwas klirrt auf den Boden. »Scheiße«, sagt er. Das war nicht der Rückwärtsgang und reibt sich die schmerzende Stelle. Früher wäre er ausgestiegen, um den Schaden zu begutachten. »Du alter Narr«, sagt er und beginnt zu lachen. Er sieht sich im Rückspielgel an und sein Lachen wird lauter. »Du alter Idiot«, sagt er und zeigt im Spiegel auf sich selbst, vor Lachen keuchend. Eine Träne rinnt seine Wange hinab. Er lacht immer weiter bis seine Wangen nass sind und er nicht mehr weiß, ob er lacht oder weint. »Es geht zu Ende«, denkt er. Aber mein Leben war die schönste Zeit meines Lebens. Er legt den Rückwärtsgang ein und fährt Kuchen kaufen. Erdbeerkuchen, der ist der beste bei der Konditorei Conrad. Er kennt den Inhaber seit dem Kindergarten. Er hat sich erstaunlicherweise genauso gut gehalten; vielleicht sogar etwas besser. Trotz dem Alkohol und den Zigaretten. Sie halten einen kleinen Plausch und für ein paar Minuten entrinnt er diesem unerträglichen Strudel aus Schmerz und Erinnerungen.
Als er die Konditorei verlässt fällt ihm ein, dass die Sahne vielleicht alle ist. Zu einem guten Stück Erdbeerkuchen gehört aber nun einmal ein Klacks Sahne!
Er fährt in den Supermarkt und schlendert durch die Regalreihen. Natürlich weiß er, wo die Sahne steht, sie steht schon seit 1985 dort, als der Supermarkt eröffnet hatte. »Du kommst nicht daran vorbei, nach Hause zu fahren«, denkt er. »Du musst irgendwann nach Hause fahren. Und das tust du besser, bevor die Kinder kommen. Die suchen dich nämlich und machen sich Sorgen. Aber ich ertrage es nicht, zu Hause zu sein. Zu viel Erinnerung, zu viel Realität. Wie wunderschöne Musik, die viel zu laut ist.«
Die Regalreihen, akkurat und sauber. Halten alles bereit, was man braucht und noch viel mehr. Wie oft ist er zwischen ihnen herumgeschlendert, einen Zettel mit Marias krakeliger Handschrift darauf. Meistens hat er Bekannte oder Nachbarn getroffen, ein wenig geplaudert, seine Liste weiter abgearbeitet, während Maria zu Hause aufgeräumt und geputzt hatte. Das war ihr Alltag. Die letzten dreißig Jahre. Alles zu Ende. Aber es muss enden. Es muss.
Er kauft Sahne und fährt nach Hause. »Bin wieder da«, ruft er von der Terrasse aus. »Soll ich draußen decken?«
»Ja, natürlich, bei dem schönen Wetter«. Sein Herz verkrampft sich, als er das hört. Es war, als hätte seine Seele plötzlich ein Fenster zum Himmel bekommen. Der Gedanke kam ihm, dass man das Sterben und den Tod vielleicht gar nicht wahrnahm. Vielleicht spürte man einfach nichts. Vielleicht gab es eine Kopie dieser Welt in der man einfach weiterlebte und alle glücklich sind…
»Hallo Opa!« rief es von unten.
Er blickte hinab. Die nächste Generation. Der Kreis, der wieder von vorne beginnt. »Ich lebe…schade«, denkt er.
»Hallo, Mäuschen«, sagt er und hievt seine Enkelin hoch um ihr einen Kuss auf die Wange zu drücken.
»Hallo Paps«, sagt Holger und umarmt seinen Vater, gefolgt von seiner Schwiegertochter.
»Ist Mama beim Weißdorn?«
»Ja.«
»Ich seh mal nach ihr.« Er nimmt seine Frau bei der Hand und zerrt sie liebevoll hinter sich her. Die junge Frau kichert. Das Herz sticht ihm. Gott, wie war das alles so schön.
Holger schreit: »Papa, Mama ist tot!«
»Ich weiß«, denkt er. »Seit letztem Montag schon«. »Was?«, schreit er und rennt zum Weißdornbusch.