Ende
Er wusste schon lange, dass er anders war. Früher – in der Volksschule – war es noch nicht so schlimm gewesen, nicht bei den Kindern. Dass ihn so manche Eltern oft komisch angeblickt hatten, war ihm schon aufgefallen, aber lange hatte er nicht verstanden, warum. Doch jetzt wusste er es. Eines Tages hatte er sich im Spiegel betrachtet, und da hatte es ihn wie ein Blitz getroffen: Sein Gesicht war anders. Anders als das seiner Mutter, seines Vaters, seiner Geschwister, überhaupt anders als die Gesichter aller, die er kannte, aller, die er je gesehen hatte.
Seitdem war es nur mehr bergab gegangen. In der Hauptschule war er gehänselt worden, in der Handelsakademie ignoriert. Die Entscheidung, die engstirnige Provinz zu verlassen und in die weltoffene Großstadt zu gehen, war ihm nicht schwer gefallen. Hier war er nicht alleine, es gab viele wie ihn, alles Menschen, nach denen man sich auf der Straße umdreht, alles Menschen, die Blicke auf sich ziehen, weil es so wenige sind. Schnell hatte sich ein Gefühl breitgemacht, das er noch nicht gekannt hatte: Er war stolz, stolz darauf, so zu sein, wie er war. Mit diesem Stolz wuchs auch sein Selbstbewusstsein, aber vielen gefiel es nicht, jemandem selbstbewusst über die Straßen gehen zu sehen.
Der erste Schlag hatte ihn ins Gesicht getroffen, der zweite in den Bauch, der dritte hatte ihm eine Rippe gebrochen. Seitdem verließ er seine Wohnung nur mehr am Tag. Seine Tür war mit mehreren Schlössern verschließbar, seine Fenster vergittert. Viele wussten, wo er wohnte.
Es war ein Tag wie jeder andere. Wie immer verließ er sein Haus um sieben Uhr, um rechtzeitig zur Arbeit zu erscheinen. Es war Herbst, langsam wurde es kalt, die Vögel waren schon weg, die Sonne wärmte nicht mehr. Trotzdem war es ein angenehmer Spätherbsttag, viele Leute waren schon auf der Straße. Das pulsierende Leben in der Stadt gefiel ihm und es gab ihm ein Gefühl von Sicherheit. Wo viele Leute waren, da würde man ihm nichts tun, da könnte er unbeschadet durch die Straßen gehen, getroffen nur von Blicken, die dich in seinen Rücken bohrten und nicht annähernd so schmerzten wie Fäuste.
Trotz all der Dinge, die er erlebt hatte, liebte er das Leben. Es war für ihn ein Geschenk. Oft ging er durch die Straßen, nur achtend auf die Sonne, auf das Grün, das sich hier und da durch den Beton kämpfte. Er war dann mit seinem Leben zufrieden.
Auch als er in die kleine Gasse einbog, durchlebte er einen dieser Momente der Glückseligkeit, einen der Momente, für die allein er lebte. Als er spürte, wie zwei Hände ihn nach hinten rissen, war er unfähig zu reagieren. Er hatte nicht damit gerechnet, war darauf nicht vorbereitet gewesen. Am helllichten Tag!
Man werde ihm helfen, er war fest davon überzeugt. Die Gasse war zwar eng und es gingen nicht viele Leute hindurch, doch es GINGEN Leute durch sie hindurch. Er öffnete seine Augen, schloß sie jedoch gleich wieder, weil ein unbeschreiblicher Schmerz ausgehend von seiner Hand durch seine Körper fuhr. Er hörte ihren Atem über sich, ihr Gelächter, wie sie weiter und weiter auf ihn einschlugen. Er sah ihre Schuhe, die Spitzen verstärkt mit Metallplatten, das Profil tief gefurcht. War denn keiner da? Keiner da, ihm zu helfen?
Die Schläge hörten plötzlich auf. Er bewegte sich nicht, vielleicht würden sie glauben, er sei tot. Würde er sich bewegen, dann wäre er es bald. Das wusste er.
Durch die Tränen, die ihm der Schmerz in die Augen getrieben hatte, sah er sie nur verschwommen, gesichtslos, konturlos. Die Menschen, die ihm gegenüberstanden, drehten sich weg. Ein Fußtritt traf sein Gesicht, brach seine Nase, sein Kiefer, seine Wangenbein, brach alles, brach nicht nur das, was Knochen war, sondern all das, was eine Menschen ausmacht: sein Herz, seine Geist, seine Liebe, seine Seele und seine Willen, seinen Willen zu leben. In einem letzten Moment vollkommender Klarheit begriff er, dass er vorhin so deutlich wie noch nie gesehen hatte, so deutlich wie man bloß sehen kann, wenn man an der letzten Schwelle des Lebens steht. Er hatte die Menschen gesehen, wie sie wirklich waren, und es erfüllte ihn mit Glück, denn er verstand nun alles. Es war nicht seine Schuld gewesen.
Er hatte all das, was sich die Menschen ihr Leben lang aufgebaut hatten, durchschaut, er hatte durch ihre Masken und ihre Verkleidung gesehen und war dort auf das gestoßen, was sie wirklich waren: blaß, verschwommen, konturlos und ohne Gesichter.