Ende eines Helden
Müde und abgeplagt. Ich trete in das Zimmer und schüttele innerlich den Kopf. Verwahrlosung trifft den Zustand dieses Raumes nur am Rande. Zwei Pfade ringen in den Bergen von Gerümpel nach Luft und verteidigen - noch - tapfer die letzten freien Stellen des Bodens. Gäbe es sie nicht, mir wäre das Ungeziefer nie aufgefallen.
Ich bin fast überzeugt zu Hause zu sein. Nach einem weiteren Zögern überwinde ich mich tiefer in das Chaos einzudringen und wähle den linken Einschnitt. Nach einer schmerzhaften Begegnung mit was auch immer im Halbdunkel nach meinem Fuß gierte, erreiche ich fluchend die Küche. Ich stütze mich auf den Herd, greife in eine Lache fruchtbar überwachsener Reste – stelle erleichtert fest, dass, was auch immer es war, es mittlerweile eingetrocknet ist. Zwar ist auch der Herd an, doch mein umsichtiger Vermieter nahm mir die Last der Elektrizität schon vor Wochen. Einmal mehr muss ich die guten Seiten eines jeden Übels akzeptieren.
Eine Bewegung hinter mir lässt mich erschreckt zusammenfahren. Ich fahre herum, greife nach einer möglichen Schlagwaffe, die mir jedoch spontan in der Hand zerbröselt. Sollte es Vorsehung geben habe ich beim Glück verpennt. Grade rede ich mir ein spontan keinen Schmerz empfinden zu können, erliege ich doch der Annahme einen meiner Gläubiger zu treffen. Meine Ängste werden Lügen gestraft. Die Erleichterung macht es nicht leichter den sich mir bietenden Anblick zu verarbeiten.
Auf einem Ast, meiner Wand entspringend, sitzt ein junger Mann. Er lässt von seinem Apfel ab, lächelt mich milde an. Seine Augen sind klar und ausdruckstark, sehen mich direkt und unverwunden an. In mir könnte Neugier keimen, wüsste ich nicht, dass man allzu leicht bereut Dinge zu ergründen, die einen offensichtlich nichts angehen.
Wir stehen und sitzen uns gegenüber. Die Minuten versickern im Chaos der Wohnung, geraten in Vergessenheit. Mit ihnen verliere auch ich an Bedeutung. In mir keimen Bilder auf, skurrile Fragmente wirrer Erinnerungen. Ich glaube mich dunkel besserer Zeiten zu entsinnen. Ehe ich endgültig lethargischer Ohnmacht verfalle breche ich wortlos das Schweigen.
Die unausgesprochen im Raum hängende Frage wendet sich meinem Besucher zu, verlangt nach Antwort. Seine Stimme ist eindringlich aber angenehm. Ich erfahre nicht sinnlos hier zu sein - tatsächlich gebe es Bestimmung.
Er erklärt mir, bildlich gesprochen der Quell des Schicksals zu sein. Von Zeit zu Zeit treffe er Menschen wie mich, am Ende ihrer Existenz, scheinbar gescheitert und perspektivlos. Sie alle, mich eingeschlossen, hätten ein schillerndes Leben geführt, von zahllosen Augen beobachtet, und erstaunliches vollbracht. Die Kunde unserer Taten weltweit bekannt, gerate nur selten in Vergessenheit. Oft drohe jedoch das geschaffene Bild zu bröckeln, schaden zu nehmen. Tritt dies ein setze er dem drohenden Verfall ein Ende.
Ich solle mich umsehen. Um mich herum fände ich die Reste meiner Vorgänger. Ein jeder seinem Charakter entsprechend verblieben. Tatsächlich glaube ich zu erkennen. Jeder Gegenstand in diesen Räumen strahlt etwas aus, nicht greifbar. Vereinzelt glaube ich etwas Vertrautes wahrzunehmen. Besorgt wende ich mich an meinen Gast, frage was ich zu erwarten habe.
Unsere Blicke treffen sich erneut. Ich verspüre innere Ruhe - angenehm, nicht matt und passiv wie seither. Entspannt atme ich aus, spüre, wie zu fallen beginne. Der Raum scheint sich zu weiten, ich sinke dem Boden entgegen. Vor meinem Aufprall höre ich ihn noch sprechen: Ich solle unbesorgt sein – lediglich die Hektiker hätten sechs Beine und krabbeln hektisch durch die Gegend.
Er hebt mich auf, lächelt mich an, setzt mich auf die Fensterbank. Ruhig lehne ich an und betrachte den kleinen Ausschnitt der Welt, der sich mir darbietet. Ich bin stolz das erste Plüschtier in diesen Räumen zu sein. Die Sonne kitzelt mir in der Nase und ich lache still, während mein Autor sich aufmacht einen neuen Helden zu schaffen.
Endlich traf auch mich die Gute Seite des Übels. Der Mythos über das Ende einer Märchenfigur, grausam wie er ist, nahm in meinem Falle ein gutes Ende. Ich erinnere mich zurück an die mit mir geschaffenen Sagen und warte auf meine Nachfolger, die auch Teil dieser letzten Erzählung sein werden. Dem Friedhof der Märchenhelden.
[Beitrag editiert von: Neverland am 21.02.2002 um 17:38]