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Ende einer Karriere

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03.08.2012
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Ende einer Karriere

Er kam an diesem Herbsttag wieder spät nach Hause und drehte bekümmert den Schlüssel im Schloss der Wohnungstüre. Die halb erleuchtete Wohnung war säuberlich aufgeräumt wie immer, wenn er abends kam. Ein Rascheln verriet ihm, dass eine Zeitschrift umgeblättert wurde. Er gab seiner Frau einen flüchtigen Kuss und machte sich über das Essen her, das sie auf dem Herd warmgehalten hatte. Er beobachtete sie, wie sie an den Kühlschrank ging und sich etwas herausholte. Sie trug ihr langes blondes Haar offen. Es fiel locker auf den Pyjama, der im Halblicht gelblich schimmerte, und unter dem ihre in Stoffpantoffeln steckenden Füße ein Stückchen hervorschauten. Auf dem Tisch lag die geöffnete Zeitschrift mit einem großen Bild, das ein Paar beim Waldspaziergang zeigte, in lässiger Wanderkleidung, sie hatte die Haare nach hinten zusammengebunden und lächelte freundlich, eine Homestory für die Presse, die sie letzte Woche hatten machen lassen.
Am nächsten Nachmittag war er bei Sabine. Sie war zwanzig Jahre jünger als er, aber das war es nicht allein. Ihr sommersprossiges Gesicht war fröhlich, ihr Lächeln geradezu burschikos und frech. Sie trug heute eine blaue Jeans und einen Strickpullover. Aufgefallen war sie ihm bei einem Stehempfang nach einer wissenschaftlichen Tagung, deren Schirmherrschaft er übernommen hatte, die beste Entscheidung seiner Karriere, wie er dachte. Sie standen zusammen mit diesem fetten Kasperski, seinem Parteifreund, den er nicht ausstehen konnte, und der sie ihm als seine Referentin vorstellte. Später bot er ihr an, sie nach Hause zu bringen. So fing alles an vor einem halben Jahr.
Als er an diesem Abend wie üblich spät nach Hause kam, schlief seine Frau schon. Die Zeitschrift lag noch aufgeblättert von gestern auf dem Tisch und er begann zu lesen: „Winterlicher Waldspaziergang – das Eheglück des Ministers und seiner Frau Angelika... seit 23 Jahren glücklich verheiratet... zwei erwachsene Töchter, die in Freiburg und Heidelberg studieren... ‚Politische Standfestigkeit und Treue in der Partnerschaft sind für mich zwei Seiten derselben Medaille‘... ‚Ich liebe meinen Mann noch wie am ersten Tag‘ sagt Angelika und streicht ihm über den Handrücken...“ Er holt sich ein Bier aus dem Kühlschrank und fängt an, nachzudenken. Wie lange wollte er die Fassade noch aufrecht erhalten? Er war sich nicht sicher, ob sie etwas wusste oder ahnte. Schon seit einiger Zeit hatte er das Gefühl, dass sie sich von ihm zurückzog, früh, lange vor ihm ins Bett ging und meistens bereits schlief, wenn er dazu kroch. Auch meinte er festgestellt zu haben, dass ihre Konversation einsilbig geworden war und sie das Interesse an den Worten des anderen verloren hatten. Und was wusste Kasperski? Natürlich war Sabine ein Profi, und wenn sie bei Gesprächen dabei war, liess sie sich nichts anmerken. Aber Kasperski war ein schlauer Hund. War er im Bilde? Er schrieb Sabine noch schnell eine Mail und legte sich dann hin, zu seiner Frau.

Am nächsten Morgen öffnete Sabine im Büro ihr Postfach. Kasperski kam kurz herein, raunzte „Guten Morgen“ und verschwand zu einer Sitzung, zu der er vor Mittag nicht zurückkehren würde. Eilig öffnete sie die Nachricht von Stahlmann und las: „dir noch eine schöne nacht. ich will dich, ich brauche dich. ich liebe deine augen, deine haut, deinen körper. bis morgen.“ Sie ging an ihre Arbeit, tippte einen Brief an den Verband der Zigarettenindustrie ab, als plötzlich Kasperski unerwartet hereinstürmte und sie mit einem triumphierenden Gesichtsausdruck anschaute. Seine dicken Wangen waren leicht gerötet und seine Stirn glänzte fettig.
„Ich hab es gewusst! Ich habe es schon lange geahnt!“
Für einen Moment erschrak sie. In dieser Schrecksekunde durchzog sie ein Gefühl der Wärme und ihr Körper erbebte leise, ganz so, wie wenn sie mit Stahlmann zusammen war. Sie fing sich sofort wieder, blickte zu Kasperski auf und fragte mit teilnahmsloser Stimme:
„Was denn?“
„Sie erinnern sich doch, Stahlmann. Sie haben ihn ja auch persönlich kennengelernt, vor ein paar Monaten habe ich Sie vorgestellt bei dem Sektempfang bei der Gesellschaft für Aussenpolitik.“
„Ja, man kennt ihn ja aus den Medien. Und an die Begegnung kann ich mich gut erinnern.“
„Ich wusste, dass der nicht koscher ist. Noch kann ich nichts beweisen. Aber ich habe einige Hinweise bekommen, dass er im großen Maßstab Schmiergeld angenommen hat.“
„Der Stahlmann?“
„Ja der. Hören Sie, Frau Holl, das ist streng vertraulich. Ich verlasse mich darauf. Die Landesbürgschaft für Berger, der Auftrag an Schmidt und das Geschäft mit der Wagner Holding! Da ne Urlaubsreise, dort mal ne Uhr geschenkt, ne Einladung ins Raffael, ein Kleid für die liebe Frau. Lauter Kleinigkeiten, was? Aber groß genug, um den feinen Herrschaften Millionenvorteile zuzuschanzen. Der feine Minister Strahlemann!“
„Das ist ja unglaublich.“

Am frühen Abend suchte Stahlmann sie wieder auf. Wie üblich hatten sie sich zuerst leidenschaftlich geküsst. Im Hintergrund war das gedämpfte Brausen des Herbstwindes zu hören. Sie warfen ihre Kleider weg. Sabine Holls Pullover und die Hose waren auf dem Boden des Wohnzimmers verteilt, ungeordnet lagen die Teile seines Anzugs daneben, seine Slipper hatte er achtlos unter dem Tisch ausgestülpt und die Krawatte auf die Sofalehne geworfen. Sehr schnell war er diesmal zu Sache gekommen und nun lag er neben ihrem noch erregten Körper und wusste nicht, wie er anfangen sollte.
Der gestrige Abend war anders verlaufen, als er es erwartet hatte. Seine Frau hatte wider Erwarten noch nicht geschlafen. Sie wusste es. Es gab verschiedene Hinweise. Dass sich sein Verhalten ihr gegenüber verändert hatte. Auch war es nicht verborgen geblieben, dass der Minister am frühen Abend häufig in einem bestimmten Haus an der Oststadt ein und aus ging. Sie fand die Adresse heraus und fuhr hin, stiess am Klingelschild auf den Namen Holl, recherchierte unter den Mitarbeitern des Landtags und fand eine Referentin gleichen Namens, angestellt bei Kasperski. Seither wusste sie Bescheid. Es gab eine Szene zwischen ihm und seiner Frau. Er sollte sich entscheiden: Waren die Ehejahre egal, was war mit den Kindern, was dachte er, wie die Presse reagieren würde, der er zum Vorteil seiner Karriere eine fabelhafte Ehe vorgespielt hatte? Er besann sich. Natürlich liebte er seine Frau noch immer. Gut, die Kinder waren alt genug, aber eine Trennung von seiner Frau konnte seine Stellung ernsthaft gefährden, denn dann würde herauskommen, dass die Inszenierung seiner Ehe nichts als ein billiges Theaterstück mit ihm in der Hauptrolle gewesen war. Also beschloss er in der letzten Nacht, die Affäre zu beenden.
Nüchtern erklärte er Sabine den Sachverhalt. Er sprach von der schönen Zeit, die sie miteinander verbracht hatten. Er erklärte ihr, dass er Politiker sei, dass rationales Handeln für ihn Priorität besitze und dass die Sachzwänge ihm keine Alternative liessen, als ihre Beziehung zu beenden. Sie hörte ihm schweigend zu. Sie kam aus kleinen Verhältnissen, hatte in Berlin Politikwissenschaft studiert und war aufgrund ihrer hervorragenden Examensnote an den Job bei Kasperski gekommen. Ihre Arbeit hatte sie mit Leuten und Vorgängen in Verbindung gemacht, die sie als die „große Welt“ empfand. Der Höhepunkt ihres Aufstiegs war das Verhältnis zu Stahlmann, der in der Öffentlichkeit als der erfolgreiche Minister und Familienmensch dastand, und mit dem sie im Kontrast zu diesem Bild ein intimes Geheimnis, ihr gemeinsames Doppelleben teilte. Seine Ausführungen nahm sie zur Kenntnis und erklärte sich mit dem sofortigen Ende der Beziehung einverstanden.

Erleichtert kehrte Stahlmann zu seiner Frau zurück. Die Ehe lebte auf, der Neuanfang schien gelungen. Angelika verzieh ihm. Er kam nicht mehr so spät heim. Die Gespräche am Abendtisch waren wieder so lebhaft wie zu Beginn ihrer Ehe. Beruflich hatte er sich einen Namen gemacht als ein entschiedener Reformer seines Ministeriums. Alte verkrustete Strukturen wurden unter seiner Ägide aufgebrochen und verschiedene Neuerungen eingeführt. Die Medienresonanz war überwältigend gut und er wurde für noch höhere politische Weihen gehandelt.
Anfang Mai hatte er ein paar Tage Luft, die er zum gemeinsamen Ausspannen mit Angelika nutzen wollte. Er rief seinen Freund Berger an und fragte, ob sie seine Villa auf Mallorca nutzen könnten. Das war wie üblich kein Problem. Angelika packte die Koffer. Kurze Zeit später saßen sie auf der Terrasse von Bergers Haus. Die Sonne wärmte ihre halbnackten Körper schon mit sommerlicher Kraft. Zärtlich beugte er sich zu Angelika hinüber und küsste ihre zarte, weiche Wange, sog mit seiner Nase den Duft ihres Parfüms ein und streichelte mit seiner Nasenspitze sanft die gepflegte und schon leicht erschlaffte Haut einer älteren Frau.
Er hatte die Sache mit Sabine schon fast verdrängt, als ihn damals im Mai auf der Terrasse dieser Anruf erreichte. Auf dem Display sah er den Namen: Kasperski! Widerwillig meldete er sich. Kasperski schnatterte sogleich auf ihn los:
„Mensch Wolfgang, wo bist Du? Hier bei uns ist was am Laufen gegen Dich!“
„Was ist los?“
„Die Geschichte mit den Urlauben bei Berger und den Geschenken. Sie sagen, die Bürgschaften für ihn wären wirtschaftlich nicht nachvollziehbar und auf deinen persönlichen Druck zustande gekommen. Es ist von Vorteilsgewährung die Rede! Der Tiefland-Kurier recherchiert in der Angelegenheit. Wolfgang, verdammt, wo bist du?“
„In Bergers Haus auf Mallorca.“
„O Gott!“
„Olaf, ich sage dir, da ist nichts dran. Aber woher wollen die denn die Infos haben?“
„Ich habe eine Referentin, ich habe sie dir mal nebenbei vorgestellt, Sabine Holl ist ihr Name. Sie hat anscheinend von der Sache Wind bekommen und Informationen an den Tiefland-Kurier durchgestochen.“
„Ich kenne sie nicht“, log Stahlmann.
„Du musst herkommen und die Sache aufklären, sonst gibt es hier den großen Skandal.“
Stahlmann erklärte seiner Frau, dass ihn dringende Dienstgeschäfte zwangen, ihren gemeinsamen Urlaub nach nur einem Tag zu beenden und sie unverzüglich aufbrechen müssten.

Noch am Abend befand er sich in jener Straße der Oststadt, wo Sabine wohnte. Es war dunkel geworden. Er machte einen Abstecher in den Park. In der regungslosen Luft stand der Duft von Maiglöckchen. Er liebte Maiglöckchen. Er war auf dem Lande aufgewachsen, den Wald fast vor der Haustüre. An einem Mai hatte er damals, als Gymnasiast von vierzehn oder fünfzehn, für seinen damaligen Schwarm aus der Nachbarschaft, der Anna hiess, genau solche Maiglöckchen gepflückt. Was ihn an der Blume faszinierte, waren nicht nur die weissen Blütenglöckchen, sondern auch der lange, dünne Stiel und die grünen, lanzenförmigen Blätter und vor allem deren Giftigkeit, ein Gift, das muskel- und atemlähmend wirkte. Es war ein spontaner Einfall, einen Strauss Maiglöckchen zu pflücken und ihn Sabine mitzubringen.
Er klingelte, sie öffnete, sie begrüßten sich kurz. Sie gingen ins Wohnzimmer, Sabine nahm auf dem Sofa Platz und Stahlmann liess sich in den Sessel fallen. Den Strauss legte er auf den niedrigen Couchtisch.
„Was willst du?“, sagte sie ruhig.
„Das fragst du noch? Die Geschichte mit Berger.“
„Welche Geschichte mit Berger?“
Sie tut ahnungslos, dieses berechnende Luder, fährt es Stahlmann durch den Kopf. Aber sie weiss nicht, dass ich mit Kasperski gesprochen habe. Sie denkt, ich hätte keine Ahnung von ihrer kleinen schmutzigen Racheaktion gegen mich. Sie spielt weiter ihre Rolle als das kleine unschuldige Mädchen, so perfekt, wie sie immer ihre Rolle gespielt hatte. Aber was war genau ihre Rolle in diesem Spiel? War sie ein Werkzeug Kasperskis, der sie einsetzte, um ihn zu erpressen oder zu stürzen? Stahlmann zögerte, war sich nicht sicher, wie er sich verhalten sollte. Sollte er eine Szene machen, sie anschreien, sie seine Macht spüren lassen? Oder wäre es nicht vielleicht besser, die Ruhe zu bewahren, sie um Verzeihung zu bitten, ihr seine aufrichtige Liebe zu gestehen? Er wusste es nicht und schwieg.
„Deine Frau war bei mir.“
„Ich weiss.“
„Was weisst du?“
Sabine war barfüßig, sie trug wie üblich eine Jeans. Ihren Oberkörper bedeckte nur ein T-Shirt. Sie warf einen Blick auf die Maiglöckchen, deren betörender Geruch ihr in die Nase drang.
„Angelika hat mir alles erzählt.“
„Du nennst sie Angelika? Ich weiss, dass meine Frau hier war.“
„Es war in dieser kalten und nebligen Woche im November, du erinnerst dich. Es klingelte, ich öffnete, vor mir stand eine Frau mit langen blonden Haaren mit ein paar grauen Strähnen. Sie war in einen weiten, beigen Mantel gehüllt, in dessen Taschen sie ihre Hände vergraben hatte. Sie blickte mich mit ihren großen blauen Augen, die von einem dezent geschminkten, von dünnen Falten ziselierten Gesicht eingerahmt wurden, forschend an, gab mir ihre zarte, knochige Hand, die Hand einer schon etwas älteren Dame, und fragte, ob sie hereinkommen dürfe.
Wir setzten uns hier aufs Sofa, und sie erzählte mir ihre Geschichte. Ihr habt euch in München kennengelernt, du hattest gerade deinen Studienabschluss in der Tasche. Mit deinen Freunden, den Parteifreunden bist du jeden Donnerstagabend im Schmidt gesessen, wo sie neben ihrem Studium kellnerte. Ihr habt über Parteisachen gesprochen, die sie nicht verstand. Aber dieser schlanke junge Mann machte auf sie Eindruck. Ihr lerntet euch kennen, der erste Kuss im Englischen Garten, du hast dein Prädikatsexamen gemacht und nach deiner Referendariatszeit habt ihr schliesslich geheiratet.
Als dir eine Stelle als Landesgeschäftsführer deiner Partei angeboten wurde, seid ihr hierher gezogen. Die erste Tochter war gerade geboren worden. Du hast dich ziemlich schnell hier eingelebt, Kontakte geknüpft und an deiner Karriere gearbeitet. Sie hatte ihr Germanistikstudium abgebrochen, um sich um die Kinder und den Haushalt zu kümmern und die Frau an deiner Seite zu sein. In der Partei hast du bald weiter an Einfluss gewonnen, es häuften sich die Einladungen bei einflussreichen, vermögenden Freunden. Sie genoss ihre Rolle neben dir, als die Gattin eines aufstrebenden Politikers mit glänzenden Karriereaussichten. Nach anfänglichen Schwierigkeiten hast du schnell die Regeln des gefälligen Smalltalks, der Selbstdarstellung auf der öffentlichen Bühne und des politischen Strippenziehens gelernt. Sie hat mitgelernt, hat wieder ihre Rolle mit Bravour gespielt und das Spiel genossen.
Anfänglich habt ihr eine glückliche Ehe geführt. Mit deinem Aufstieg stellten sich aber auch erste Probleme ein. Immer seltener hast du Zeit gefunden, mit deinen Töchtern zu spielen oder kleine Ausflüge zu machen. Wochenenden waren oft verplant, du gingst frühmorgens aus dem Haus und kamst erst spät wieder zurück. Die Parties und Empfänge wurden zu Pflichtübungen für sie, die sie tapfer durchstand.“
Stahlmann hatte Sabine ruhig zugehört, die Beine übereinander geschlagen. Er hatte keine Miene verzogen. Schmallippig sagte er:
„Sabine, was soll das? Die zeitliche Beanspruchung, die Pflicht zur Repräsentation, dieses ganze Drumherum ist eben der Preis einer politischen Karriere. Das weiss auch Angelika. Ich habe es ja mit ihr besprochen und sie wollte es auch so. Wir haben gemeinsam die Entscheidung getroffen, diesen Weg zu gehen.“
„Eine besonders enge Freundschaft hat euch mit dem Ehepaar Berger verbunden. Du bewundertest Berger, hattest einen heimlichen, tiefen Respekt vor seinem Erfolg, seinem Reichtum. Du warst geschmeichelt von seinen Einladungen in die besten Restaurants der Stadt, das Zusammentreffen mit den Leuten des Geldes, die sich mit ihren Unternehmen und Subunternehmen ihr eigenes Reich aufgebaut hatten, wo sie walten konnten wie kleine Könige, ohne, wie du, auf die elenden Kleinlichkeiten des politischen Betriebs Rücksicht nehmen zu müssen.
Als du dann Minister geworden bist, wolltest oder konntest du auf diese Gesellschaft nicht verzichten, und diese Leute suchten nun um so mehr den Kontakt zu dir, denn du warst ja ihr Mann, dich hatten sie aufgebaut und auf dich bauten sie. Angelika hat die dunkle Seite dieser Kontakte bald mitbekommen. Es war eine Art Symbiose, wo man sich gegenseitig gab, was man nicht hatte und sich auf einem anderen Weg auch nicht besorgen konnte: Reichtum und Glamour einerseits, die Aura der Macht andererseits. Angelika merkte das und wurde unglücklich, während du in deiner Verblendung weitergemacht hast.
Allerdings blieb es nicht dabei, dass sich die Gestirne der Macht und des Reichtums gegenseitig anstrahlten. Als Berger mit seinen vielen Engagements in der Krise in Bedrängnis geriet, beantragte er Landesbürgschaften. Das war eine halsbrecherische Geschichte. Dir war unwohl bei der ganzen Sache. Du wusstest, dass du deine Karriere damit aufs Spiel setztest, wenn du deinem Freund helfen würdest. Du hattest Zweifel, warst kurz davor, dich von ihm abzuwenden. Da kam Angelika ins Spiel. Diesmal war sie es, die dich dazu drängte, Berger zu unterstützen.“
Was hatte Angelika diesem Luder erzählt, fuhr es ihm durch den Kopf. Was hatte sie preisgegeben?
Sabine lehnte sich indes ein wenig zurück und holte zu ihrem letzten Stoß aus. Sie versuchte jeden Triumph aus ihrer Stimme zu nehmen und einen möglichst monotonen Tonfall zu finden. Sie sagte nur:
„Berger fickt Angelika.“

Während des Zusammentreffens von Stahlmann und Sabine hatte Angelika zunächst in der Küche in ihrer und Wolfgangs Wohnung gesessen. Sie hatte sich all die Jahre einsam gefühlt und vernachlässigt. Sie dachte, durch ihre Beziehung mit Berger dieser Situation entfliehen zu können und zugleich ihrem Mann den Weg zu ebnen. Berger hat viel Einfluss und viel Geld. Ihm war es schliesslich zu verdanken, dass aus Wolfgang Stahlmann das geworden ist, was er heute darstellt, und sie hatte dafür die Weichen gestellt.
Darüber hinaus lief, im Gegensatz zu den ersten Ehejahren hier und erst recht der Zeit des Studiums in München seit langer Zeit nicht mehr viel zwischen ihr und ihrem Mann im Bett. Berger bot ihr einen gewissen Ausgleich. Anziehend fand sie vor allem seine Unabhängigkeit, die Freiheit zur Unkonventionalität, die Freiheit, nicht auf alle und jeden Rücksicht nehmen zu müssen. Zuletzt trafen sie sich fast jede Woche, meist in seinem Haus in der Viktoriaallee, manchmal auch in einer seiner Wohnungen oder im Hotel. Es lief nach dem immer gleichen Ritual ab. Berger gab ihr die Hand, Küsse hatte er untersagt. Dann zog sich Angelika splitternackt aus und entblätterte Berger langsam. Berger war hemmungslos und kannte keine Tabus. Im Vergleich mit ihm war Stahlmann ein hoffnungsloser Langweiler. Zwischen ihr und Berger gab es keine Grenzen und sie erregte es, ihm jeden seiner Wünsche zu erfüllen.
Langsam wählte sie die Nummer Bergers. Sie musste mit ihm Schluss machen, bevor Stahlmann von ihrem Verhältnis erfuhr, ihm, dem sie Vorwürfe wegen seiner Liebschaft gemacht hatte. Sie hatte niemandem davon erzählt, auch nicht dieser Sabine, die sie aufgesucht hatte, weil sie das Bedürfnis verspürte, die junge Geliebte ihres Mannes kennenzulernen und ihre Geschichte zu erzählen. Langsam wählte sie die Nummer Bergers. Als er auf dem Display ihre Nummer sah, legte er das Telefon widerwillig beiseite. Es klingelte wieder und wieder. Insgesamt fünf mal hatte Sabine versucht, ihn zu erreichen, dann war endlich Ruhe.
Berger kam während dieser Anrufe die Erinnerung an eine Begegnung vor drei Jahren. Die Industrie- und Handelskammer hatte zu einem Grünkohlessen geladen. Natürlich gab es reichlich Bier und Schnaps. Danach hatte sich noch eine Gruppe, der auch er angehörte, ins Restaurant Goliath zurückgezogen und weitergetrunken. Übrig blieben lange nach Mitternacht noch er und Kasperski. Das Gespräch kam auch auf Stahlmann. Der Alkohol hatte Bergers Zunge gelöst und so erzählte er Kasperski von der „geilen Alten“ und von seiner langwierigen Affäre mit Stahlmanns Frau.
Nachdem Berger Angelikas Anruf ignoriert hatte – sie wusste, dass er ihn ignoriert hatte, weil er in den letzten Jahren praktisch immer für sie erreichbar war – entschloss sie sich, Sabine abermals aufzusuchen. Sie ahnte, dass es Mitwisser ihrer Affäre gab, schlimmstenfalls wusste Wolfgang selbst Bescheid. Sie wollte noch einmal mit ihr reden, denn die beiden Frauen hatten in ihrem Gespräch gefühlt, dass sie sich zueinander hingezogen fühlten, fast schon wie Freundinnen oder zumindest wie Schwägerinnen.
Bei Sabine fand sie die Wohnungstür halb geöffnet. Sie ging hinein und fand die Wohnung menschenleer. Auf dem Wohnzimmertisch bemerkte sie den Strauss Maiglöckchen, die etwas Wasser nötig hatten und ihre Köpfchen leicht hängen liessen. Die Sofakissen waren zerwühlt. Als sie die Kissen richtete, fand sie zwischen ihnen ein Diktiergerät. Wie man später herausfand, hatte Kasperski Sabine dazu bewogen, im Falle eines Besuchs von Stahlmann ihren Wortwechsel auf diese Weise heimlich zu dokumentieren.
Angelika betätigte die Repeattaste des Gerätes. Mit wachsender Aufregung verfolgte sie Sabines Wiedergabe ihrer Geschichte, ab und zu von kurzen Bemerkungen Stahlmanns unterbrochen, die seltsam fern und blechern klangen. Dann dieser Satz: „Berger fickt Angelika.“ Angelika fuhr kurz zusammen. Das Gespräch verstummte nun. Das Wiedergabegerät gab nur ein leises Rauschen und Rascheln wieder. Dann vernahm sie die Stimme ihres Mannes.
Wer sagt das? - Kasperski.
Langes Schweigen.
Wieder die Stimme Stahlmanns:
Ich, ich...
Das waren die letzten Worte, die von Stahlmann auf dem Tonband zu vernehmen waren. Danach war nur noch Sabine zu hören: Wolfgang, ich will nicht – lass mich los – du tust mir weh – Hilfe. Das letzte Wort verendete jäh in einem schwachen Wimmern. Dann war nur noch ein Klopfen, leiser werdende Schrittgeräusche, ein kurzes weibliches Aufschluchzen, ein Schrei, und dann von Ferne her nur noch dumpfe Schläge. Nach einiger Zeit schliesslich Schritte – offenkundig von Stahlmann – und dann Ruhe.
Angelika öffnete die Tür des Schlafzimmers. Auf dem Bett lag ihre Nebenbuhlerin, tot.

 
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Hallo OliverMohr,

und herzlich Willkommen bei Kg.de!

Das ist eine sehr schwierige Geschichte, finde ich. Schwierig für mich zu kritisieren. Weil ich glaube, dass sich hier ein Autor über seine Geschichte viele Gedanken gemacht hat. Zu viele vielleicht, ich weiß nicht. Oder zu sehr in eine Richtung gedacht.
Du hast ne Menge Konflikte da drin. Da ist die Geschichte mit dem Fremdgehen, Stahlmanns politischen Karriere, das Familienleben, was dadurch auf der Strecke blieb, die Bestechungen, die Frau die sich einen Liebhaber gesucht hat und ein Mord. Das gibt Stoff für einen ganzen Roman.
In einer Kurzgeschichte fehlt natürlich der Raum, wenn man das alles erzählen möchte. Deshalb fässt man sich bei so vielen Themen kurz und tappt in die Berichtsfalle. Man reicht dem Leser die Informationen in kompakter Form, wie bei den Tagesnachrichten. Das liest sich dann auch eher wie Bericht, als wie Geschichte. Auch wenn es Figuren erzählen, so berichten sie doch über die Fakten. Und so kommt man ihnen eben nicht näher. Jedenfalls nicht auf einer emotionalen Ebene. Man leidet und freut sich nicht für sie, man nimmt es zur Kenntnis, was wann wie wem Geschehen ist.
Und dann die Themen selbst. Fremdgehen mit einer Jüngeren, politische Konflikte, Bestechung, Karriere ... klar sind das Themen, aber als reine Schilderung leider auch wenig spannend. Man kennt es halt ;).
Spannend wäre gewesen, wie sich das Netz anfühlt für Stahlmann. Wie er sich da nicht zu positionieren weiß, zwischen Politik und seinem Freund Berger. Allein dieser kleine Moment aus Deiner Geschichte, wäre eine spannende Story gewesen, wenn man ihr Raum geben würde. Oder wie Stahlmann mit seinem Gewissen da hadert, wegen der Geliebten und wie es ihm die Schuhe auszieht, als er erfährt, seine Frau tut es auch - und viel länger schon. Also nur Fokus auf die beiden und wie sie jeden Tag tapfer händchenhaltend in die Kameras der Journalisten lächeln. Also, jeder Deiner Konflikte hätte genügend Stoff für eine KG abgegeben. Nur etwas tiefer gehen. Es mehr menscheln lassen. Charaktere zeigen, mit Stärken und Schwächen. Gleichberechtigte Figuren schaffen. Nicht so schwarz-weiß, wo klar ist, wer hier den schwarzen Peter auf der Hand hält. Deine Geschichte urteilt über die Figuren, und das ist nicht gut.

Das ist so, was mir durch den Kopf ging. Zu viele Probleme aufgeworfen und keines so richtig angefasst. Durch die Vielzahl auch noch in die Berichtsfalle getappt. Und der Mord am Ende, naja - ob es den nun noch gebraucht hätte - weiß nicht. Er ist am Arsch, so oder so.

Aber was mir positiv auffällt, ist, dass da jemand sehr fleißig war und auch wirklich das Bedürfnis hat, etwas seinem Leser erzählen zu wollen, ihn zu unterhalten. Das ist mehr, als was viele hier in ihrem "Erstling" anbieten. Das riecht danach, als wenn es hier wirklich jemand Ernst meint. Und das wäre auch wirklich schön. Weil Du den Mut hast, eine Geschichte länger als über drei Absätze zu erzählen, weil Du durchaus eine Sprache hast, mit der Du solide erzählen kannst. Und weil Du Dir Gedanken zu machen scheinst. Jedenfalls macht der Text auf mich diesen Eindruck :).

Ja, wenn ich auch erst mal nix weiter anbieten kann, als einen Verriss - tut mit leid, und ich bin auch nur eine von Vielen, vielleicht sehen es andere ja anders - so hoffe ich, meine Gedanken helfen Dir irgendwie weiter. Wenn nicht, hau sie weg. Ist Dein gutes Recht.
Wenn es Dir wirklich Ernst ums Schreiben ist, hau Dich unter die Kritiker, dabei lernt man über die Zeit so viel, dass kann kein Lehrbuch bieten und auch keine einzelnen Kritiken zu eigenen Geschichten.

Viel Freude Dir noch hier
Beste Grüße Fliege

 

Danke für den Kommentar

Liebe Fliege,


herzlichen Dank für den ausführlichen Kommentar!

Ich finde, dass du einige Aspekte zur Sprache bringst, die mir einleuchten.
Das erinnert mich an einen Schulaufsatz (literarischer Text) - lange ist es her. Das Problem war damals auch: zu viele Ansätze, im Detail zu wenig ausgearbeitet.
Werde das beherzigen.
Kann im Moment aus Zeitgründen nicht ausführlicher werden. Konstruktives Feedback ist auf jeden Fall immer gut.

Beste Grüße


Oliver

 

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