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Ende der Durchsage
Monatelang hat er sich intensiv auf diese eine Nacht vorbereitet und dennoch verspürt er jetzt ein flaues Gefühl in der Magengegend. Als er nach seinem Stofftaschentuch greifen will, um damit die Stirn von den lästigen Schweissperlen zu befreien, stösst er mit seinem Handrücken gegen den Revolver. Das kalte Eisen auf seiner verschwitzten Haut lässt ihn kurz zusammenzucken, doch dann zieht er, ohne sich etwas anmerken zu lassen, das Tuch hervor und tupft die Stirn. In Gedanken beschimpft er die amerikanischen Krimifilme, in denen die Protagonisten solche Situationen ohne jegliche Nervosität meistern.
Er spürt, dass sie ihn beobachten. Er fühlt sich wie ein Korken, der in einer grossen Wasserschüssel alleine oben aufschwimmt, für alle sichtbar. Auch der alte Mann, der da hinten auf der Bank sitzt und scheinbar nur die Zeitung liest, alle starren sie ihn an. Und da ertönt schon wieder diese gemeine, zischende Männerstimme aus allen Lautsprechern: „Achtung Achtung, ein potentieller Mörder, aufgepasst!“ Die Worte hallen und surren beinahe unerträglich in seinen Ohren. Er geht schneller, das Perron erscheint wie ein endlos langer, schmaler Korridor. Er bewegt sich schon fast im Laufschritt vorwärts, da dröhnen die Lautsprecher schon wieder aus allen Ecken: „Ein geplanter Mord, ein Mann, ein Koffer. Stoppt ihn!“ Er versucht den Stimmen davonzulaufen. Woher wissen die das mit dem Koffer? Woher wissen die von seinem Plan? Er muss den Zug erreichen. Erst einmal weg vom Bahnhof, da würde ihn niemand mehr stören. Er versucht noch schneller zu laufen, obwohl er schon langsam am Ende seiner Kräfte ist. „Wir werden dich kriegen!“, die Lautsprecher scheinen ihn auf eine gemeine Art und Weise auszulachen, ja gar zu verspotten. Er rennt weiter in Richtung Gleis 18, bloss nicht zurückschauen. Mit einem gekonnten Griff lädt er seinen Revolver während dem Laufen. Sicher ist sicher, so könnte er sich wenigstens verteidigen, wenn es eng werden sollte. Als er den Zug endlich erreicht hat und in einen der hinteren Wagen eingestiegen ist, setzt er sich in ein leeres Abteil. Noch immer bis aufs Äusserste angespannt, drückt er seinen Rücken gegen das Sitzpolster. Er atmet schnell. Die Waffe in der Hand gibt ihm Sicherheit, er hält sie fest, seitdem er sie auf seinem Horrorlauf hierher geladen hatte, den Finger immer am Abzug. Die Wagentüren haben sich inzwischen geschlossen, es ist still im Abteil. Er kneift die Augen zu, um sich auf seinen Plan zu konzentrieren, die Stimmen und die Leute zu vergessen. Da wird er abrupt von einer Männerstimme aus den Gedanken gerissen: „Guten Abend“, sagt dieselbe trocken. Zu Tode erschrocken drückt er reflexartig den Abzug und ein lauter Schuss hallt durch den ganzen Zug.
Seine letzten Gedanken drehen sich um seinen Plan, in welchen er so viel Zeit investiert hat, den er aber niemals durchführen konnte. Der Schaffner steht schockiert neben dem toten Fahrgast mit dem schwarzen Hut. Der Nachtexpress rollt langsam aus dem Sackbahnhof, die Lautsprecher sind verstummt. Ende der Durchsage.