End-Fremdungen
Ich war 20 Jahre alt, als ich mich an meine Vergangenheit erinnerte, bis dahin habe ich daran geglaubt, real zu sein und in einer Zeit zu leben, die Gegenwart heißt. Ich hatte damals nicht darüber nachgedacht, was Zeit ist.
Ich glaubte daran, daß es Menschen gibt, daß eine bestimmte Ordnung besteht und daß die Dinge, die ich sehe, real existieren.
Erst als ich meine Kindheit und meine Jugend abgeschlossen hatte, begann ich zu begreifen, daß ich nicht existierte. Man hatte mir immer gesagt ich habe einen Namen, einen Wohnort und eine Familie. Das war nach meiner Geburt. Später erzählten sie mir Geschichten über mich, so daß ich nach und nach zu einer Person wurde. Ich war zu klein um mich zu erinnern und konnte sie noch nicht entlarven. Es wäre müßig, all das mitzuteilen, was ich über mich von ihnen weiß – es ist nicht wahr.
Wenn ich es erzähle, würden Sie glauben, daß ich existiere. Sie hätten jemanden mit einer Vergangenheit vor Augen. Sie können nicht anders als daran zu glauben. Ich möchte keine Zeit darauf verschwenden, das, was Ihnen bereits bekannt ist, aufrechtzuerhalten. Ich möchte erzählen, was sie gemacht haben mit der Zeit.
Ich bin ein böser ‚Mensch‘.
Es gibt keine Worte für das, was wir sind. Ich bin böse, weil ich rede und mich mitteile.
Ich zwänge Ihnen damit mein Schicksal auf. Es ist mir dennoch nicht möglich, zu schweigen, wenn ich es nicht teile, ist das was ich geworden bin sinnlos.
Ich kann Sinnlosigkeit nicht ertragen, weil es keinen Sinn gibt.
Eine Negation dessen, was nicht existiert, ist der Superlativ von ‚Nichts‘ und in allerletzter Konsequenz unlogisch.
Logik existiert nicht.
Ich bin gefangen in Worten, sie schnüren mir die Luft ab - es tut weh - so weh, daß ich den Schmerz kaum ertragen kann.
Es ist eine Mißgeburt – sie haben mir die Sprache gegeben, damit ich schweige.
Sie werden mich nicht verstehen können.
Sie werden es nicht ertragen.
Sie werden mir nicht glauben.
Es ist mir gleichgültig, so gleichgültig wie mir die gesamte Welt geworden ist.
Warum glauben Sie daran zu existieren?
Was wäre eine Nichtexistenz mit einer Vergangenheit?
Sie behauten, daß man die zweite Frage nicht beantworten kann, denn die Antwort, die Ihrer Logik folgt, wäre „Existenz“.
Auf die erste Frage würden Sie antworten, daß sie sich wahrnehmen, spüren, denken und bewegen können.
Tatsache ist, daß Sie es nicht wissen.
Sie glauben es nur, weil Sie eine Vergangenheit haben.
Mit absoluter Sicherheit haben Sie nicht die gleiche Vergangenheit bekommen wie ich. Wäre das so, dann bräuchte ich mich nicht zu quälen, ihre Worte auszuspeien um es zu sagen.
Sie mußten die Wahrheit verhindern.
Es war notwendig – nicht schwierig- sie brauchten nur ein paar hundert Vergangenheiten zu denken. Der Rest geschah von selbst. Jeder gab ein Teil weiter und schuf neue Ereignisse, gab diese wieder an die Kinder weiter. Es gibt keinen Menschen auf dieser Erde, der die gleiche Vergangenheit hat
Es ist eine Art Schneeballsystem mit den Vergangenheiten - es hat den Effekt, daß sich Teilerlebnisse überschneiden und es den Menschen möglich machen, sich auszutauschen. Auf diese Weise bestätigen sie sich gegenseitig in ihren Erfahrungen und versichern sich ihrer Existenz.
Niemand kommt jemals auf die Idee, daß er nicht existieren könnte
– niemand außer ich, als ich die Stabilität der Zeit verlor.
Ich erinnerte mich nicht mehr und glaubte alles verloren zu haben. Je mehr ich um frühere Ereignisse bettelte, desto mehr verstand ich, daß ich keine Vergangenheit hatte, es war einfach nur ein kleiner Fehler, der es ans Licht brachte, der mich über das Programm hinaushob und mir die Wahrheit darbot.
Ein Fehler, der in der Evolution schon öfter passiert war und die ‚Menschheit zu ihrer Weiterentwicklung führte.
Eine Mutation, die mich zu anderem machte als den Rest. Ich weiß nicht, ob ich darüber glücklich sein soll
– es ist lediglich meine Pflicht, die Wahrheit mitzuteilen.
Mich interessiert nicht, ob es gelesen wird. Ich möchte nur meinen Auftrag erfüllen.
Es wird nichts verändern.
Ich erinnerte mich nicht mehr und wurde aufgrund dieser mehr als fürchterlichen Umstände dazu gezwungen, mich über meine Person zu informieren.
Ich hatte in Gegensatz zu den anderen eine große Chance. Ich konnte mein Leben von außen betrachten und hören, was die anderen über mich erzählen.
Ich konnte es aufnehmen ohne in der Zeit zu sein, das eröffnete mir die Möglichkeit, zu fragen wer ich bin und wer ich war.
Die Chance war, daß ich ohne weiteres zwei Identitäten hatte, ich nahm die vergangene in mich auf und wurde die Person, deren Charakter ich detailliert über meine Eltern studieren konnte.
Ich wurde nach außen der Mensch und ließ meine zweite Identität koexistieren.
Das was ich ohne meine Vergangenheit bin, ist meine Nichtexistenz.
Ich hätte sie niemals wahrnehmen können, wenn ich die Vergangenheitsperson nicht integriert hätte.
Man gab ihr die Fähigkeit wahrzunehmen.
Ich kann das, was in mir nicht existiert, meine Koexistenz, mein eigentliches Wesen nicht beschreiben.
Die Sprache verschließt mir den Mund und lähmt meine Finger. Man hat mir die Zunge abgeschnitten.
Es macht keinen Sinn, daß sie mir eine Zunge gegeben hatten.
Meine Chance war, daß ich erkannte, daß es mich ohne das Nichtsein nicht geben konnte.
Verflechte ich beides miteinander, so bin ich in einem Zwischen, was es unter den Umständen der gedachten Zeit nicht geben kann.
In diesem zeitlosen Zwischen bin ich frei - freier und leichter, als es Sprache jemals ausdrücken könnte.
Das Erkennen meines Gegenpols befähigte mich, für ein paar der Weltsekunden die Vergangenheit auszuschalten.
Das ist mir nur aufgrund meines Fehlers möglich, der mich vergessen ließ.
Es ist so, als habe man die Zeit für einige Sekunden angehalten. Ich lebe dann nicht – ich bin frei.
Freiheit schließt Existenz aus.
Ich wurde süchtig nach dem Zustand der Zeit- und Existenzlosigkeit.
Es wurde so schlimm, daß ich mein Dasein in Form meiner Existenz hier auf der Erde nicht mehr ertrug.
Ich entwickelte immer perfektere Techniken, wie ich mich von meiner Person lösen konnte. Ich elemenierte meine Vergangenheit, es wurde immer deutlicher, daß meine Erinnerungen nur in den Köpfen der anderen existierten, daß sie ihre Erinnerungen an mich zum Überleben benötigten, um ihr Dasein zu bestätigen.
Ich bin ein gedachtes Wesen, was sie am Leben hält. Sie brauchen mich als Nahrung – sie sind Parasiten, Menschenfresser - bedauernswerte Geschöpfe. Sie glauben sie müßten existieren um zu sein.
Existenz ist kein eigentlicher Wert, er wurde von denen, die existieren wollen, geschaffen. Menschliches Leben wurde vom Menschen zum höchsten Gut erkoren, zum Preis der Unfreiheit.
Jeder will existieren.
Es macht keinen Sinn.
Sie sind sich der Existenz nur sicher, weil sie die Nichtexistenz nicht kennen.
Es ist ihr Todesurteil.
Sie müßten sterben, wenn Sie es erkennen wollten.
Ich kann nicht mehr sterben,
ich starb als ich 20 war.
Ich bin zum ewigen Leben verdammt, weil ihr mir eine Vergangenheit gegeben habt.
Jetzt bin ich süchtig nach dem Nichtsein – verdammt für Euch zu sein und allein, einsamer als es einem Menschen möglich ist.
Es ekelt mich, in Euren Bildern gefangen zu sein.
Wenn ihr mich loslassen würdet, wäre ich frei –
aber ihr würdet nicht mehr existieren, Ihr könntet es nicht ertragen.
Mein Erwachsensein läßt die Sekunden des außerhalb der Zeit Seins immer mehr verschwinden.
Sie versickern in der Erde, der Berg meiner Erfahrungen wird immer größer. Er erdrückt mich. Bald werde ich für immer hier sein müssen. Ich werde es vergessen, daß was ich nicht bin und werde nicht sterben können, weil meine Nichtexistenz meine Vergangenheit kennt. Es war meine Schuld, sie ineinander zu verweben.
Ich bin die Geschichte, die sie erzählen - das andere bin ich nicht.