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Empfinden
Ich betrete den Raum.
Es sind so schrecklich viele Menschen hier.
Ich fühle mich unwohl.
Allen reden, lachen.
Ich sehe hinter mich, um mich zu vergewissern, dass sie noch da ist.
Wir gehen vor und ich lasse meinen Blick durch den Raum schweifen, um nach freien Plätzen zu suchen.
Ein Mädchen aus meiner Klasse meint, ich kann mich neben sie setzen.
Sie setzt sich ein paar Plätze weiter.
Ich sitze mitten im Raum.
Nicht im Eck, wo ich mich wohler gefühlt hätte.
Nicht bei ihr, wo ich mich sicherer gefühlt hätte.
Ich sitze allein unter fremden Menschen.
Ich unterhalte mich mit dem Mädchen neben mir.
Plötzlich läuft er an mir vorbei.
Ich hatte gehofft, dass er kommt, habe aber nicht damit gerechnet.
Er nimmt sich einen Stuhl, setzt sich vor, neben die anderen beiden Lehrerinnen, die die Veranstaltung leiten.
Er setzt sich so hin, dass er die Schüler ansehen kann, setzt sich ausgerechnet so, dass ich ihn ansehen kann.
Ich werde nervös. Ganz langsam steigt in mir das Gefühl von Nervosität hoch.
Ich fühle mich taub. Ich fühle mich gelähmt.
Was stellt er mit mir an?
Ich sehe ihn nicht an. Ich zwinge mich, ihn nicht anzusehen.
Ich bekomme Angst.
Ich merke wie mir die Hitze langsam in den Körper kriecht. Ich friere.
Ich hebe etwas vom Boden auf, weil ich nicht weiß, wohin mit meinen Blicken, wohin mit meinen Händen.
Ich greife nach meinem Ordner, hebe meinen Blick, schaue direkt in seine Augen, die auf mir ruhen.
Er lächelt mich an.
Oh Gott, dieses Lächeln füllt mich komplett aus.
Ich lächle zurück, und sehe weg.
Ich ertrage es nicht. Ich fühle mich so schrecklich unwohl.
Dennoch habe ich noch nie mehr empfunden als jetzt.
Ich möchte schreien vor Freude, möchte all diese Gefühle auskotzen.
Nichts macht mich glücklicher, nichts macht mich trauriger, als er.
Ich versuche ihn nicht anzuschauen. Ich spüre die Hitze in meinem Gesicht.
Ich sehe zu der Lehrerin, die mit dem Reden beginnt.
Ich sehe ihn in meinen Augenwinkeln.
Ich starre aus dem Fenster.
Ich denke an ihn, während er ein paar Meter von mir entfernt sitzt.
Ich bin traurig. Mein Blick ist traurig.
Ich sehe zu ihr, bettle in Gedanken, dass sie auch zu mir sieht.
Ich brauche ihren Blick, der mich wieder beruhigen soll.
Sie starrt nach vorne.
Ich tue so, als würde ich gedankenverloren aus dem Fenster sehen.
Ja, ich bin in meinen Gedanken verloren.
Ich schaue auf den Boden.
Ich sehe die Lehrerin an, die redet.
Ich versuche ihr zu folgen, meine Blicke wandern wieder aus dem Fenster.
Ich weiß nicht, ob er zu mir sieht, aber ich fühle mich beobachtet.
Ich darf ihn nicht ansehen.
Ich kann nicht.
Ich habe keine Kontrolle über mich, meine Gefühle, und meine Blicke.
Ich sehe zu ihm. Er blickt mich an.
Dieser Blick saugt an mir, zieht mir die ganze Kraft aus meinem Körper.
Er schaut weg.
Er tappt auf meiner Seele.
Nein, er trampelt darauf. Ohne es zu merken.
Ich sehe aus dem Fenster.
Ich bin traurig.
Mein Herz brennt.
Merkt er etwas?
Wie kann er es nicht merken?
Es macht mich krank. Wenn er mich ignorieren würde, wenn ich ihn nicht so oft erwischen würde, wie er mich ansieht, wäre es vielleicht nicht so intensiv und es wäre nie so weit gekommen.
Man merkt diesen kleinen, wunderbaren Unterschied, ob sich Blicke zweier Menschen treffen, oder ob man davor schon von einer Person angeschaut wurde.
Fast bin ich mir sicher, dass er den Kummer in meinen Augen sieht.
Wenn nicht er, wer dann?
Endlich ist es vorbei. Ich stehe schnell auf, ich will hier weg.
Kurz bevor ich durch die Tür gehen will, drehe ich mich noch einmal und sehe ihn an.
Er sieht mich nicht, lacht.
Ich verlassen den Raum, verlasse ihn.
Eine große Woge an Leere überfällt mich überraschend schnell.
Ich halte es nicht in seiner Gegenwart aus, aber ohne ihn noch weniger.
Ich habe minutenlang so intensive Gefühle gespürt, wie sonst selten.
Nur er ist dazu fähig, dass ich das Gefühl habe zu spüren, zu empfinden.
Kaum sitzen wir uns nicht mehr gegenüber, fühle ich wieder das gewohnte Nichts.
Es macht mich traurig, verwirrt mich, erschöpft mich.