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Empfänger
Silke konnte es einfach nicht glauben. Wie lange schon wollte sie so einen haben? Immer kam etwas dazwischen, oder das Geld war knapp. Jetzt stand er endlich auf der Kommode, so wie sie es sich vorgestellt hatte. Auf einem Flohmarkt hatte sie ihn heute Morgen entdeckt: So einen alten Radioempfänger, mit fetten Knöpfen und beleuchteter Senderleiste. Sie mit ihrem Faible für alte Sachen, keiner in ihrem Freundeskreis konnte es verstehen. Doch was wussten die schon.
Sie fragte sich, ob er noch funktionierte. War ihr eigentlich egal, er sollte ja nur als Deko dienen. Und der Stecker sah auch nicht gerade wie der sicherste aus. Versuchen konnte sie es ja Mal. Hinter dem Schrank war eine Steckdose, und rein damit.
Aus dem Lautsprecher rauschte es und eine grüne Zierleiste wurde beleuchtet. Ihre Augen funkelten, denn das sah jetzt noch viel besser aus. Sie drehte am Knopf, bekam aber kein Signal rein. Nur das ewige Rauschen. Sie lauschte hinein in dieses Rauschen. Es hatte sie schon immer fasziniert. Es klang wie ein Regenschauer oder das Meer. Sie hatte sich immer vorgestellt, damit tief in die Unendlichkeit des Alls vordringen zu können, dort wo noch nie ein Ohr zuvor gewesen war. Oh Mann, sie ertappte sich gerade dabei, einem Radio ohne Empfang zuzuhören, wie albern! Als sie ausschalten wollte, hörte sie, wie von weiter Ferne ihr Name gerufen wurde. Verdutzt hielt sie inne, hatte sie sich nur getäuscht? Natürlich hatte sie das. Trotzdem horchte sie noch eine Weile. Es rauschte. Sie stellte ihn ab und zog zusätzlich noch den Stecker.
Eines Morgens nach dem Aufstehen bemerkte Silke, dass das Radio eingeschaltet war. „Moment mal“, dachte sie sich, „war jemand in ihrer Wohnung gewesen?“ Panisch blickte sie umher, fand aber alles an seinem Ort. Nach einer Weile beruhigte sie sich wieder. Vielleicht war es ja mal wieder passiert. Seit ihrer Kindheit kam es nämlich ab und zu mal vor, dass sie schlafwandelte und dabei ziemlichen Unfug anstellte. Einmal war sie sogar im Schlafanzug aus dem Haus gegangen. Ihre Mutter war ihr gefolgt und musste zusehen, wie ihre Tochter schnurstracks zum Friedhof ging, sich vor das Grab einer wildfremden Person stellte und anfing zu reden. Es war noch dazu in einer Fremdsprache gewesen. Nach einer Weile hatte sie aufgehört sich mit wem auch immer zu unterhalten und war wieder zurück nach Hause in ihr Bett gegangen. Silke fröstelte bei dem Gedanken.
Gestern bei der Arbeit hatte sie Petra, eine Kollegin von ihr, die sie nicht besonders gut leiden konnte, auf das Radio angesprochen. Wie man sich so einen alten Kasten, der nicht mal funktionierte, ins Wohnzimmer stellen könne, fragte sie vor den anderen. Sie habe auch so einen geerbt und ihn schleunigst als Sperrmüll entsorgt. Silke versuchte zu erklären, dass solchen alten Gegenständen eine Art Seele innewohnte. Alles was dieses Radio erlebt habe, alle Unterhaltungen, Streitereien, oder vielleicht auch, wie zwei Menschen verliebt mit einander getanzt haben, wäre nun ein Teil von ihm geworden. Und es konnte ja sein, dass es von dem Erlebten etwas zurückgeben könne. Die anderen schauten sich nur an und verzogen hämisch grinsend die Gesichter.
Sie stellte das Radio ab. Dann machte sie es nochmal an und drehte auf. Es rauschte wieder.
Es war Winter geworden. Schneeflocken schwirrten wie kleine Insekten durch die Luft. Der Stadtverkehr verwandelte die Straße zur Matschpiste. Tanja betrat das Bekleidungsgeschäft. Es lief eine Musik, die die junge Kundschaft zum Verweilen einlud. Sie lief zur Kassentheke.
„Entschuldigung, arbeitet Silke heute nicht?“ fragte sie die Verkäuferin. „Sorry, die ist krankgemeldet, seit zwei Wochen. Wir wissen auch nicht, was sie hat.“
„Danke.“
Sie wählte Silkes Nummer auf ihrem Handy. Keiner ging ran. Sie schaute auf die Uhr und da sie noch Zeit hatte, beschloss sie, bei Silke vorbei zu schauen. Die Wohnung lag nicht weit entfernt.
Tanja kannte Silke schon seit dem Kindergarten, aber im Alter von sechszehn, hatten sich ihre Wege getrennt. Silke war anders als die anderen Mädchen gewesen, irgendwie eigentümlich. Silke zog alte Klamotten an, manche waren schon ziemlich vergammelt. Sie sammelte allen möglichen Krimskrams, von Knöpfen über Bierdeckel bis hin zu alten Büchern, solche Bücher die kein Mensch je gelesen hat und auch jemals lesen wird. Schrieb Gedichte und hörte alte Platten. Das alles hatte Tanja eigentlich an ihr gemocht, aber was sollten die anderen dazu sagen, wenn sie mit ihr abhing? Es passte einfach nicht. Aber jetzt war man ja reifer geworden und die Wogen hatten sich geglättet. Man wusste, was wirklich zählt, dass es um mehr ging, als um nur aufgesetzte Dinge. Und deshalb pflegte Tanja seit einiger Zeit wieder den Kontakt zu Silke, denn sie betrachtete ihre Freundschaft als eine Bereicherung und Abwechslung für ihr eigenes Leben.
An der Wohnungstür angekommen drückte Tanja den Knopf. Es summte eine alte nervige Klingel. Niemand da. Sie hatte sich schon wieder umgedreht, als Silke die Tür dann doch öffnete.
„Hi, das ist aber eine Überraschung!“ Silke strahlte.
Nachdem sie sich ausgiebig begrüßt hatten, betraten sie die Wohnung.
„Ich hol uns was zum trinken, geh doch schon ins Wohnzimmer!“
Sofort fiel Tanja ein seltsamer Geruch auf, aber so war es halt bei Silke. Sie ließ sich auf die Couch fallen. Ihr Blick wanderte umher.
“Oh man, hier scheint schon lange nichts mehr gemacht worden zu sein“, dachte sie sich. Da fiel ihr der Radioempfänger auf, der neu zu sein schien. Er war angeschaltet, aber rauschte nur. Nach einer Weile stand sie auf um einen Sender einzustellen, fand aber keinen. Nur irgendwelche Stimmen aus der Ferne waren zu hören. Sie stellte ihn ab und setzte sich mit einem Seufzen wieder aufs Sofa.
Silke brachte einen Tee. Wie selbstverständlich schaltete sie im Vorbeigehen das Radio wieder an. Dann schenkte sie ein und setzte sich lächelnd.
„Wie geht’s dir denn so, Silke. Weißt du, ich war bei deiner Arbeit und die haben mir gesagt, du wärst krank und da hab ich mir Sorgen gemacht.“
„Mir geht’s ausgezeichnet! Nö, die von der Arbeit…“, sie winkte ab, „die haben doch keine Ahnung!“
„Ach so, du gehst dort gar nicht mehr hin?“
„Ja klar, ich hab jetzt was Besseres gefunden. Eine neue Aufgabe sozusagen.“ Sie blickte zu ihrem Radio. „Weißt du, eigentlich hab ich gewusst, dass du zu mir kommst.“
„Ach ja,… von wem denn?“
„Das würdest du mir jetzt sowieso nicht glauben, aber ich habe eine Überraschung für dich, gib‘ mir mal deine Hand!“
Tanja zögerte, irgendwas an Silkes Art ließ sie schaudern. Sie streckte dennoch ihre Hand hin. Blitzschnell packte Silke Tanjas Hand, zog ein Küchenmesser hervor und schnitt ihr in den Arm.
Tanja schreckte zurück. Erstarrt beobachtete Sie, wie das Blut den Arm herunter lief und auf den Teppich tropfte. Silke stürzte sich auf sie. Aber Tanja warf den Tisch um und fiel rücklings über die Lehne der Couch. Sie rappelte sich auf, wollte nur raus, weg von hier!
„Warte doch Tanja, es tut auch bestimmt nicht weh. Es wird dir gleich viel besser gehen, bitte glaube mir!“ rief Silke ihr nach.
Tanja war schon an der Wohnungstür angekommen, aber sie war verschlossen! Sie war ihr ins Netz gegangen. Tanja schrie in Todesangst. Silke kam langsam auf sie zu. Dabei drehte sie das Messer in ihrer Hand.
„Lass mich in Ruhe! Was willst du von mir?“
„Ich will gar nichts von dir, meine Liebe. Es ist nur so, dass ich meine Anweisungen habe und du bist von ihnen auserwählt worden. Deine Seele ist zu Höherem als zu deinem erbärmlichen Dasein bestimmt. Nun komm schon, ich bring’s zu Ende.“
Tanja merkte, wie ihr die Kräfte schwanden. Ihr wurde schwarz vor Augen….
Silkes Mutter war den weiten Weg aus Rumänien gekommen, um nach ihrer Tochter zu sehen. Sie hatte sie schon lange nicht mehr telefonisch erreicht und machte sich nun Sorgen, auch weil Silke beim letzten Telefonat so eigenartig geklungen hatte. Von Stimmen, einem Portal und kranken Seelen hatte sie gesprochen. Silkes Mutter war ja einiges von ihrer Tochter gewöhnt, aber nun war sie zu weit gegangen. Sie machte sich ernsthaft Sorgen um Silkes Geisteszustand. Nachdem sie einige Male geklingelt hatte, öffnete sie die Tür mit ihrem Zweitschlüssel. Ein fauliger Geruch wehte ihr entgegen. Mit vorgehaltener Hand und einer bösen Vorahnung schlich sie den Gang zum Wohnzimmer entlang. Ein altes Radio rauschte mit voller Lautstärke vor sich hin. Keine Spur von Silke. Sie betrat das Bad. Überall waren Fliegen. Der Vorhang der Badewanne war zugezogen. Sie wollte ihn nicht öffnen, aber sie musste es tun. Als sie ihn zur Seite geschoben hatte, erblickte sie einen Berg modriger Leichenteile, die in einer schwarzen Brühe schwammen. Darüber, am Haken der Brause, hing ihre Tochter, die mit einem nachdenklichen Lächeln ihr Werk zu betrachten schien. Die Mutter kippte um und fiel auf die kalten Fliesen.
Es klang fast so, als ob das Summen der Fliegen mit dem Rauschen des Radioempfängers übereinstimmte.