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Emotionen
Der Wagen stand am Ende der Straße.
Sie sah ihn sofort, als sie, den Mantelgurt festzurrend, die Einfahrt hinunterkam. Gemäßigten Schrittes, nicht zu schnell ging sie zu ihm, der inneren Unruhe, dem Tumult im Kopf mutig die Stirn bietend.
Kurz bevor sie nach dem Türöffner griff, entgleisten ihr dann doch die Gesichtszüge und mit einem ungewollten Lächeln beugte sie sich in den Wageninnenraum.
Sie grüßte übertrieben höflich, er tat überrascht und erfreut, als hätten sie sich zufällig irgendwo auf der Straße, bei einem Stadtbummel getroffen, als wäre nichts von dem, was hier geschah, geplant. Herbeigeführt. Arrangiert.
"Setz Dich doch", forderte er sie auf.
Wie selbstverständlich nahmen sie ihre Rollen ein, tauschten ein paar Höflichkeiten aus, musterten sich. Seine unmittelbare Nähe traf sie wie immer. Obwohl er seine Arbeitskleidung trug und unrasiert war, bekam sie dieses beklommende Gefühl, das sie beinahe handlungsunfähig machte, wie eine Maus, die vor der Schlange hockt. "Erzähl", sagte er. Sie redete zu schnell, mit einer zu hohen Stimme, verhaspelte sich. Er spielte mit dem Schlüssel, nickte, stellte ein paar Fragen.
Er wirkte ruhig und ausgeglichen, aber sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass es nicht so war. Das in seinem Inneren der Vulkan bereits brodelte. Als sie beiläufig von ihren Bekanntschaften mit verschiedenen Männern erzählte, nichts ernstes, nur etwas Unterhaltung, eigentlich suche ich nichts, nahm sie für einen Sekundenbruchteil seine Reaktion darauf wahr. Obwohl er sich weiterhin im Griff hatte, konnte sie es an einem kurzen Aufflackern in seinem Blick erkennen. Es stimmte sie froh.
Mit keiner Silbe erkundigte sie sich nach ihr.
Auch er machte keine Anstalten, von ihr zu erzählen.
Sie legte den Kopf auf seine Brust und spürte den rauhen Wollstoff an ihrer Wange. Er streichelte ihr den Nacken, strich ihr durchs Haar, verursachte leichte Schauder.
Sie stützte das Kinn auf und musterte ihn. Er hatte die Augen halb geschlossen und grinste, als sie begann, mit dem Finger Linien in den Bartstoppeln zu ziehen.
"Nicht im Gesicht", murmelte er abwehrend.
"Wo denn?", erkundigte sie sich sanft.
Er schwieg. Die Frage hing zwischen ihnen. Die Fenster waren jetzt so beschlagen, dass man die Außenwelt nur noch schemenhaft wahrnahm.
Du weißt, wo.
Sie erschrak über seine Stimme in ihrem Kopf. Zögernd streckte sie die Hand nach ihm aus, obwohl es ein Tabu war. Er machte keine Anstalten, sie abzuwehren. Nach einer Weile hielt sie inne, betrachtete ihn. Er bat sie, fortzufahren, sah sie mit einem schwer zu deutenden Blick an. Also nahm sie wie selbstverständlich ihren alten Platz ein. Er atmete schwer, raunte ein paar Worte, die sie nicht verstand.
Dann war es vorbei.
Er startete den Motor, um die Scheiben zu befreien, die Lüftung rauschte, kühlte sie ab und brach die eintretende Stille.
Er starrte ins Leere, plötzlich ernüchtert. Sie konnte sein schlechtes Gewissen förmlich sehen, wie es sich verzweifelt gegen seine Schädeldecke stemmte. Sie jubelte innerlich, ihre Euphorie stieg, je leerer sein Blick wurde.
Schließlich sah er sie an.
Er sah aus, als würden ihm gleich Tränen in die Augen steigen.
Sie streichelte liebevoll seinen Nacken und flüsterte ihm ins Ohr: "Das bleibt unser kleines Geheimnis!" Am liebsten hätte sie laut gelacht, der böse Dämon Enttäuschung war endlich vom Thron in ihrem Herzen gestoßen.
Sein trauriges Jungengesicht mit dem Hundeblick rührte sie plötzlich. "Ich...werde jetzt besser gehen, ja?", schlug sie vor. Empfand er wirklich Reue? Spielte er ihr etwas vor?
Er nickte stumm, griff beim Aussteigen nach ihrem Arm: "Wir hören voneinander?" Sie lächelte ihn an. Innerlich gratulierte sie sich zum Sieg. Obwohl er ihr fast leid tat, hatte sie die Bestätigung, die sie brauchte.
Federnd ging sie zum Haus zurück, während er den Wagen startete und langsam losfuhr. Sie wußte, dass er ihr nachsah, und es steigerte das mächtige Gefühl in ihr nur noch mehr.
Er brauchte sie, obwohl er eher sterben würde, als es zuzugeben.
Ja, sie würden voneinander hören.