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Emily
Emily hielt mit ihrem in die Jahre gekommenen Auto am Rand der Landstraße, auf der sie seit gut zwei Stunden unterwegs war, an und stieg aus, um sich ein wenig die Beine zu vertreten.
Ein Mann, dessen gesunde Gesichtshaut verriet, dass er viel an der frischen Luft ist, kam auf seinem Fahrrad vorbei und nickte ihr grüßend zu. Ein schwarzweißer Hund lief schwanzwedelnd neben ihm her. Emily sah sich um und die Landschaft um sie herum begeisterte sie, jetzt wo völlige Stille war, noch mehr. Die Wiesen und Felder waren noch ein wenig mit Schnee bedeckt, aber die ersten grünen Halme suchten sich bereits ihren Weg dem Frühling entgegen.
Emily schloss ihren Wagen ab, um ein paar Schritte über den schmalen Feldweg entlang zu gehen.
Sie beobachtete eine kleine Anzahl Rehe, die sich in den Morgenstunden ihre Nahrung suchten. Etwas weiter entfernt stand ein altes Bauernhaus, aus dessen Schornstein der Rauch in den blauen Himmel stieg. Die Fenster waren hell erleuchtet und Emily stellte sich vor, dass die Bewohner gemütlich am Tisch beisammen säßen,sich Geschichten erzählten und lachten. Sie zog sich den Kragen enger am Hals zu. Es war doch noch kälter, als sie vermutete und hier auf dem ungeschützten Gelände merkte sie, wie der Wind durch ihre Jacke pfiff. Ein heißes Getränk würde ihr jetzt gut tun. Sie war bereits sehr früh von zu Hause losgefahren und der Tee in ihrer Thermoskanne war bereits leer. Emily kommt aus der zweihundert Kilometer entfernten Kleinstadt, in der sie aufgewachsen war. Dort hatte sie eine Ausbildung als Hauswirtschafterin gemacht und auch ein paar Jahre in ihrem Beruf gearbeitet.
Sie ist in einer intakten Familie aufgewachsen, ihr Vater Harry, arbeitete bei einer Versicherungsfirma im Außendienst, und Ihre Mutter ist Hausfrau und war immer für sie und ihre jüngere Schwester da. Sie hatte den beiden Mädchen gezeigt, wie man eine Familie mit viel Respekt und Toleranz zusammenhält. Sie zeigte ihnen, wie der beste Apfelkuchen der Welt gebacken wird und hörte sich ihre kleinen und großen Sorgen an.
Mit neunzehn ist Emily dann in ihre eigene kleine Wohnung gezogen und nach der Arbeit traf sie sich mit Freunden, um ins Kino zu gehen, sie spielten im gleichen Sportverein Badminton und im Sommer fuhren sie zum Badesee. Sie saßen dort am Lagerfeuer, sangen gemeinsam Lieder zur Gitarre und schwammen um die Wette oder fuhren mit einem kleinen Boot hinaus.
Dort lernte sie dann auch Jonas kennen, die beiden wurden ein Paar.Gemeinsam bezogen sie auch kurze Zeit später eine größere Wohnung, die sie sich gemütlich einrichteten. Jonas war bei einer Fluggesellschaft als Pilot angestellt. Er war viel unterwegs, aber die beiden nutzten die gemeinsame Zeit, um all das zu machen, was ihnen Spaß brachte. Sie besuchten Museen, gingen tanzen, fuhren zum Shoppen in die Stadt oder spazierten einfach nur am Ufer des Flusses entlang. Sie erzählten sich gegenseitig ihre Erlebnisse und konnten über die gleichen Dinge lachen. Weihnachten vergangenen Jahres hat Jonas ihr einen Heiratsantrag gemacht, den sie freudestrahlend und überglücklich angenommen hatte. Sie fuhren gleich zu ihren Eltern, um ihnen die Nachricht zu überbringen. Ihre Mutter war ganz aus dem Häuschen und fing sofort mit der Planung des Festes an. Die Gästeliste musste erstellt werden, das Hochzeitskleid wollte sie selber nähen, das Buffet sollte von einem renommierten Catering-Service geliefert werden...
Im Januar musste Jonas auf eine längere Reise nach Frankreich aufbrechen um dort an einer Fortbildung teilzunehmen. Emily brachte ihn zum Flughafen und schaute ihm mit Tränen in Augen nach, bis er nicht mehr zu sehen war. Es ging ihr noch immer jede Trennung von ihm sehr nahe und sie freute sich schon jetzt auf das Wiedersehen mit ihm.
Den Rest des Tages hatte sie frei und wollte ihn nutzen um die Weihnachtsdekoration aus der Wohnung zu entfernen und den Haushalt in Ordnung zu bringen.Für abends hatte sie sich mit ihrer Freundin zum Essen verabredet.
Sie schaltete in der Küche das Radio ein, und begann wieder einigermaßen fröhlich mit ihrer Arbeit. Emily kam gut voran, bis sie plötzlich bemerkte dass der Radiosprecher die Musik unterbrach um eine aktuelle Meldung durchzusagen“.Ein Flugzeug ist über dem Mittelmeer aus bisher ungeklärter Ursache in Brand geraten und abgestürzt. Wir werden sie über weitere Details in den Nachrichten zur vollen Stunde informieren“
Emily starrte das Radio an.“Nein“schrie sie”das kann nicht sein“.Dann merkte sie, wie sich der Raum,in dem sie sich befand, anfing zu drehen und Emily fiel in eine Ohnmacht, aus der sie erst erwachte als sie merkte, wie eine Hand ihr Gesicht leicht tätschelte. Ihre Eltern saßen neben ihr, Harry nahm sie in den Arm und Emily konnte weinen. Die Mutter hatte die Nachricht auch im Radio gehört und sie haben sich sofort auf den Weg zu ihrer Tochter gemacht. Sie fanden sie auf dem Boden liegend, das Staubtuch noch in der Hand, aber sie war unverletzt. Sie trugen sie auf das Sofa, wo Emily erst langsam wieder zu sich kam.
Nachdem sie noch eine lange Zeit im Unklaren war und sich dann doch ihre schlimmste Befürchtung bewahrheitete, war Emily lange nicht in der Lage irgendwelche Dinge zu erledigen. Ihre Schwester, ihre Eltern und Freunde waren ihr in den nächsten Wochen eine große Hilfe. Nachbarn und Bekannte kamen um ihr Beistand zu leisten und sie zu trösten. Emily erlebte das alles wie durch einen Schleier. Nach der Beerdigung kam sie etwas zur Ruhe und versuchte wieder klare Gedanken zu fassen, um zu überlegen, wie ihr Leben nun weitergehen sollte. Sie dachte oft: Was hätte Jonas getan... was will ich?Es gingen ihr so viele Möglichkeiten durch den Kopf, aber eine Entscheidung musste sie bald treffen, das wusste sie ganz bestimmt.
Und heute ist sie auf dem Weg in das kleine Dorf, zweihundert Kilometer entfernt von ihrer Heimatstadt, in dem sie im letzten viertel Jahr mit Jonas oft gewesen ist. Sie haben dort ein kleines Haus, das zum Verkauf angeboten wurde, entdeckt und sich spontan beide darin verliebt. Jonas nutzte jeden freien Tag um einige Renovierungen und Umbauten an dem Haus vorzunehmen. Emily nähte Gardinen und suchte die Einrichtung in den umliegenden Möbelhäusern aus. Sie konnte es kaum erwarten den Garten nach ihren Vorstellungen zu gestalten, sie wollte eigenes Gemüse sähen, ernten und freute sich schon auf die blühenden Stauden im Vorgarten. Sie malten sich aus, wie es ist, wenn sie abends gemeinsam auf ihrer Terrasse sitzen und dem Zirpen der Grillen zuhören und wie ihre Kinder durch den Garten toben oder in den alten Bäumen klettern.
Emily stieg wieder in ihren Wagen um das letzte Stück zu ihrem Haus zu fahren. Sie hatte sich entschieden, es zum Verkauf anzubieten. Es war ihr klar, dass sie es alleine finanziell schwer hätte, es zu halten. Sie konnte sich auch kaum vorstellen, ohne Jonas dort zu wohnen.
Emily öffnete die quietschende Gartenpforte und ging noch ein letztes Mal durch das kleine Haus, das nach frischer Farbe roch. Da entdeckte sie einen Pullover, den Jonas getragen hatte. Sie nahm das Kleidungsstück in die Arme und drückte es ganz fest an sich.
Mit Tränen in den Augen strich Emily sich über ihren kleinen Bauch und verließ das kleine Haus, ein letztes Mal...