- Beitritt
- 19.06.2001
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Emily
EMILY
Meine Frau hatte nicht viel. Am Ende einen Jackpot in Form von Alzheimer und mehreren Tumoren. Und ganz zum Schluss den Tod inmitten ihres geliebten Rosenbeets. Ich glaube, bevor sie mit dem Gesicht voran in die bunt gemischten Rosen fiel, fragte sie sich drei Dinge: Wer sie war. Wo sie sich befand. Und wer der Mann hinter den Gardinen war, der sie dabei beobachtete, wie sie ihre geliebten Rosen hegte und pflegte. Ich rief niemanden an und ließ Emily im Rosenbeet liegen.
Zuvor hatte ich wochenlang dutzende von Formulare unterschrieben, Anträge ausgefüllt, Schecks ausgestellt und zeitraubende Gespräche mit Fachärtzen geführt. An dem Tag, als Emily mich das erste Mal fragte, wer ich sei, ersparte ich uns die fünfzig Meilen mit dem alten Chrysler nach Clayton Fall. Stattdessen fuhr ich einmal in der Woche runter nach Redemption, um das Nötigste einzukaufen. Wir wohnten außerhalb jeglicher Beobachtung. Wenn überhaupt, verirrte sich ab und zu ein Tier aus dem nahe gelegenen Wald zu uns. Verwandte hatten wir keine mehr. Der Wunsch nach Kindern blieb uns verwehrt, was an mir lag: Krankes Sperma. Die Ärzte meinten, es sei wegen der schlechten Luft. Ich stimmte ihnen zu, innerlich jedoch war ich überzeugt, dass meine jugendlichen Sünden Kokain und Alkohol der eigentliche Grund waren. Hätte ich damals nicht Emily getroffen und mich in sie verliebt, ich wäre längst tot. Andererseits, hätte ich sie nicht kennengelernt, so wäre sie vielleicht nicht kinderlos und einsam im Rosenbeet gestorben.
Fast zwei Wochen lag Emily nun schon tot im Rosenbeet. Ich hatte wieder mit dem Trinken angefangen. Jeden Tag Punkt Achtzehn Uhr, wenn die Sonne besonders schön aussah und herrlich bizarre Schatten der Rosen verursachte, sah ich aus dem Küchenfenster hinaus zum Garten. Außer den Rosen gedieh dort nichts mehr. Nun, in den letzten Tagen ihres ereignisarmen Lebens hatte Emily sich auch nur auschließlich um die Rosen gekümmert. Das Rosenbeet war wie ein kleines Wunder. Die Rosen blühten zu jeder Jahreszeit. Emily hatte nie nach dem Warum gefragt. Und ich schon gar nicht. Ich war froh, dass sie wenigstens ihre Blumen gehabt hatte, an denen sie sich Tag für Tag erfreuen konnte. Die Haut an ihrem toten Körper wies bereits einige dunkle Flecken aus, und an manchen Stellen konnte ich Bissspuren erkennen. Wahrscheinlich hungrige Marder aus dem Wald. Und natürlich die unzähligen Fliegen, die über Emily elegant um die Rosen schwirrten. Interessiert verfolgte ich die fließenden Übergänge von hell nach dunkel an ihrer Haut. Sie sah wie ein Kunstwerk aus. Ein sich stetig wandelndes Kunstwerk der Natur. Irgendwie war ich sogar stolz auf mich, sie einfach da im Beet liegen gelassen zu haben. Ein Schluck kühles Bier bekräftigte mein imaginäres Schulterklopfen gegenüber mir selbst. Knappe dreizehn Stunden und vierzehn Flaschen billiges Bier später erwachte ich mit hämmernden Kopfschmerzen auf dem schmutzigen Küchenboden. Zunächst noch etwas orientierungslos dauerte es einige Minuten, bis ich mich an der Heizung hochgezogen hatte. Benommen sah ich aus dem Fenster. Richtung Rosenbeet. Richtung Emily. Ich sah ein zweites Mal hin. „Scheiße!“ Emily war weg. Und für mich begann mein ganz persönlicher Alptraum...
Natürlich bin ich sofort rausgerannt. Natürlich hatte ich immer noch einen üblen Kater. Und ich stank aus jeder Pore nach Alkohol. Keuchend stand ich vor dem Rosenbeet. Alles, was von Emily übrig war, lag in Form ihres verrotteten Kleides vor mir. Ich sah die Schleifspuren und Fußabdrücke im Erdboden, dazu umgeknickte Rosen. Und auch der kaputte Holzzaun entging mir trotz meines miserablen Zustandes nicht. „Scheiße!“, fluchte ich leise. Fieberhaft überlegte ich, was wohl passiert war. So sehr war ich in Gedanken versunken, dass ich zu spät bemerkte, wie eine warme Flüssigkeit an meinen Beinen herunterlief. Nicht nur, dass ich einen Mordskater hatte und die Leiche meiner Frau verschwunden war, nein, wie ein kleiner Junge hatte ich mir auch noch in die Hosen gepinkelt. „Scheiße!“ Schwankend stapfte ich zurück zum Haus.
Ich stopfte meine versifften Klamotten in die Waschmaschine. Anschließend stellte ich mich unter die Dusche. Den kalten Wasserstrahl hielt ich vielleicht eine Minute durch, dann drehte ich schnell das verrostete Rädchen mit der roten Markierung auf. Seufzend reckte ich mein Gesicht dem heissen Wasser entgegen. Es tat gut. Es half auch irgendwie beim Nachdenken. Immerhin kombinierte ich messerscharf, dass Emily nicht durch größere wilde Tiere weggezerrt worden war. Denn noch brauchten Wölfe oder Bären keine Militärstiefel, um sich im Wald fortzubewegen. Immerhin. „Du bist ja ein richtiger Held, Lenny...“, murmelte ich kopfschüttelnd, als ich mich mit dem weichen Handtuch abtrocknete. Tiere und Militärstiefel... „Oh Mann!“ Den Pelz von meiner Zunge entfernte ich nach mühsamen, endlosen zehn Minuten Zähneputzens. Die Augenringe nahm ich schulterzuckend in Kauf, und das Zittern meiner Hände stellte für mich persönlich noch nie ein Problem dar. Vielleicht damals. Für Emily. Für andere. Für mich nicht. Ich hatte gekokst und gesoffen. Da interessierte man sich nicht für ein bisschen Händezittern. „Scheiße!“ Ärgerlich sah ich in den Spiegel. Irgendwann zwischen Achtzehn und Sieben Uhr hatte sich aus welchem Grund auch immer irgendjemand meine tote Frau geschnappt und sie mitgenommen. Fast zwei Wochen, nachdem sie gestorben war und friedlich zwischen den Rosen verweste. „Scheiße!“
Später hatte ich Reifenspuren nahe unseres Grundstücks entdeckt. Davor saß ich zwei Stunden vor dem Fernseher und ließ mich mit hirnrissigen Sendungen des Kabelnetzes berieseln. Ich schaffte nur zwei Bier, aber auf mehr hatte ich auch kein Verlangen. Während meiner Zeit als Fabrikarbeiter in Rummingen, drei Meilen von Redemption entfernt, hatte ich mir ein Hobby zugelegt, was Emily damals als ‚Zeitverschwendung‘ brandmarkte: Spurenlesen. Nicht nur Tiere. Autos, Schuhe und was es sonst noch gab. Ich mußte mich nicht großartig anstrengen, um zu erkennen, dass es sich bei den Spuren um einen Brubakerreifen handelte, der hier im Süden des Landes bevorzugt bei Luxusautos genommen wurde. „Scheiße!“ Weder in Redemption, noch sonst im Umkreis von zwanzig Meilen war mir irgendein Mensch bekannt, der sich einen Wagen der höchsten Preisklasse leisten konnte. Und ich kannte so gut wie jeden. Schließlich war ich acht Jahre lang stellvertretender Chef des hiesigen Ku Klux Klans gewesen. Dass mein Rücktritt zufällig in der selben minimalen Zeitspanne lag, als man zwei tote Nigger in den Wäldern fand, war rein zufällig. Mir, und schon gar nicht Emily, hatte man deswegen auch nur eine einzige unangenehme Frage gestellt. Ich kniete über den Reifenspuren und zog mit meinen Fingern kleine Furchen durch die dunkle Erde. Und was war mit den Fußabdrücken? Eindeutig Militärstiefel! Kopfschüttelnd stand ich auf und stellte fest, dass ich unwillkürlich das Zeichen des Klans gezeichnet hatte. „Scheiße!“ Schnell verwischte ich das Symbol mit meinen Füßen. Ich schloss die Augen, atmete tief durch und ging anschließend zum Haus zurück. Mehr konnte ich auch nicht machen.
Selbstverständlich hatte ich die Möglichkeit in Betracht gezogen, nach Redemption zu fahren und Fouwlers, dem schlaksigen Sheriff, alles zu erzählen. Aber das hatte ich schnell wieder aus meinem Gedächtnis verbannt. Ich meine, wie sollte das denn abgehen? „Es ist WAS passiert, Lenoard?“ „Ja, Fouwlers. Man hat mir meine Emily aus dem Garten geklaut. Dabei ist sie gerade mal zwei Wochen tot.“ „Lenoard?“ „Ja, Sheriff?“ „Sie bleiben jetzt erst einmal hier, einverstanden?“ „Oh, klar. Kein Problem.“ Ein geradezu absurder Gedanke.
Schließlich fuhr ich statt einmal in der Woche jeden zweiten Tag nach Redemption. Man war zwar erstaunt, dass ich so oft in das kleine Kaff kam und viel Bier und Fertiggerichte einkaufte, aber sonst war alles wie immer. Da ich Emily stets an der kurzen Leine gehalten hatte, fragten die Leute, die sich für Emily interessierten, auch nicht weiter nach. Das kam mir sehr entgegen. Ich hatte die Chance, die Leute zu beobachten. Wer sich mir gegenüber vielleicht verdächtig benahm, oder nicht so wie sonst. Aber alles verlief wie immer. Tristesse, wo man hinsah. Redemption war wie die ganze Gegend ein zum Aussterben verurteiltes Kaff reaktionärer Südstaatler. Kann sein, dass dies nur mir auffiel. Normalerweise war ich ja nicht so oft in der Stadt.
Bevorzugt hielt ich mich nach dem Einkaufen im ‚Jimbos‘ auf, nippte am Bier und warf mir ab und zu geröstete Sonnenblumenkerne in den Mund.
„He, Lenny? Noch ein Bier?“, fragte mich Lou, der Besitzer des ‚Jimbos‘.
„Klar.“
Lou war ein Gott, wenn es darum ging, ein Bier zu zapfen. Die meisten Wirte füllten das Glas bis knapp unter dem Rand, aber Lou... Zufrieden betrachtete ich die schneeweiße Krone. Fast hatte ich den Eindruck, dass sie noch mehr glänzte als das saubere Glas. „Du setzt immer noch auf Importbier, was?“, fragte ich lächelnd und trank einen Schluck.
„Klar“, sagte Lou. „Die Deutschen machen gutes Bier.“
„Klar. Und sonst?“
„Lenny?“
Ich stellte das Glas ab und wischte mir den Schaum aus dem Bart. „Irgendwelche ungewöhnlichen Sachen passiert in letzter Zeit?“
Er legte den Kopf etwas quer. „Nein, eigentlich nicht. Warum fragst du?“
„Nur so.“ Ich zuckte mit den Schultern und winkte ab. „Nur so.“
„Nur so, was?“ Lou schüttelte den Kopf. „Da fällt mir ein... Emily! Wie geht es denn Emily?
Ich verschluckte mich beinahe an einem Sonnenblumenkern. „Oh...“, antwortete ich mit Tränen in den Augen. „Oh... Sie...“ Ich mußte erst meinen Hustenanfall abwarten. „Sie ist in einer Spezialklinik in Dallas. Wegen dem Tumor, weißt du? Kostet ´ne Menge Geld, aber wer weiß...“
„Ja“, sagte Lou. „Wer weiß... Sag ihr ´nen Gruß von mir, wenn du wieder mal nach Dallas runter fährst, ja?“
„Klar.“
„Klar.“ Lou sah mich etwas komisch an. Es gefiel mir überhaupt nicht. „Sag mal, Lenny...“
„Lou?“ Ich rechnete mit dem Schlimmsten.
„Kommst du jetzt öfters? Ich meine, so alle zwei Tage?“
„Nur wenn du es zuläßt, Lou“, antwortete ich sichtlich erleichtert. Gleichzeitig hoffte ich, dass niemand meinen tiefen Seufzer gehört hatte. Ich beschloss, die Mücke zu machen. „Es wird Zeit!“
„Man sieht sich, Lenny!“ Er gab mir sogar die Hand zum Abschied. Das hatte er noch nie gemacht.
„Klar.“ Kaum, dass ich aus dem ‚Jimbos‘ raus war, kaufte ich mir eine Packung Zigaretten und rauchte zwei Stück hintereinander. „Scheiße!“ Unglücklich sah ich mir die Schachtel in meiner Hand an. Trinken... Rauchen... „Was kommt als nächstes, Lenny?“ Schnell steckte ich die Schachtel weg, lief zum Wagen und fuhr nach Hause. Den Strafzettel wegen falschen Parkens, den mir vermutlich Fouwlers persönlich hinter die Scheibenwischer geklemmt hatte, ignorierte ich. Noch nie in meinem Leben hatte ich Geld wegen Strafzetteln verschwendet. Schließlich hatte ich so etwas wie Stolz.
Zu Hause angekommen blieb ich eine Weile im Wagen sitzen. Aus dem Radio kamen sinnlose Sprechgesänge von weißen Rappern aus dem Norden, unterlegt mit dumpfen Bässen und kreischenden E-Gitarren-Riffs. Frustriert und angenervt schaltete ich das Radio aus. „Scheiße!“ Ich warf einen Blick aus dem Fenster. Überall in der Garage lagen leere Bierflaschen, Kartons von Fertiggerichten und weiterer Müll. Ich hatte mich seit Emilys Tod ziemlich gehen lassen, stellte ich ernüchternd fest. „Du mußt aufräumen, Lenny!“ Ich stieg aus dem Wagen aus. Dabei sah ich eher zufällig zu den Reifen. „Was zum...“ Meine Beine verwandelten sich zu Gummi und ich landete unsanft zwischen Bierflaschen und Hamburgerschachteln. „Brubaker?“ Seit wann fuhr ich mit Brubakerreifen durch die Gegend? „Brubaker?“ Und dann sah ich die verschmutzten Militärstiefel in der Ecke stehen. „Scheiße!“ Ich weiß nicht, wie lange ich abwechselnd zu den Reifen und den Stiefeln starrte, aber als es draußen dunkel wurde, rappelte ich mich vor Schmerzen ächzend auf, schloss das Garagentor, schnappte mir die Einkaufstüten vom Beifahrersitz und ging ins Haus. Ich machte mir nicht die Mühe, das Bier kalt zu stellen. Ich saß auf dem Sofa und soff mich einem seeligen Zustand entgegen.
Das Telefon klingelte mich aus dem Schlaf. Benommen öffnete ich meine Augen und registrierte, dass ich vor dem Sofa auf dem Wohnzimmerteppich lag. In meiner rechten Hand hielt ich ein halbvolles Bier, in der linken eine zusammengerollte Zeitung. Ich wollte gar nicht wissen, was ich womöglich damit angestellt hatte. Das Telefon klingelte immer noch. Ich trank einen Schluck. „Das gibt’s doch nicht!“ Ich versuchte aufzustehen, scheiterte aber an meiner durch zuviel Alkohol verursachten Grobmotorik. Inzwischen tat das Geräusch, wenn das Telefon klingelte, richtig weh. Also kroch ich zu dem kleinen Schränkchen neben der Tür und nestelte umständlich den Hörer von der Gabel. „Ja? Hallo?“ Gott, hatte ich Kopfschmerzen.
„Lenoard Kudrow?“
Die Stimme klang seltsam, irgendwie metallisch, aber eindeutig männlich. „Ja... Wer ist denn da?“
„Wenn er kommt, streiten Sie alles ab und widerrufen Sie das Geschäft!“
„Ähm...“ Einen Moment hielt ich inne. „Was?“
„Sagen Sie einfach Nein, Leonard!“
„Mit wem spreche ich denn, verdammt!“
„Jesaja Bowman. Sie müssen...“
Das reichte. „Kenne ich nicht! Rufen Sie mich nie wieder an!“ Verärgert knallte ich den Hörer wieder auf die Gabel. „Scheiße!“ In meinem Magen rumorte es. Ich sah mich um. Das Wohnzimmer, vermutlich das ganze Haus, sah zum Kotzen aus. „Du mußt unbedingt aufräumen, Lenny! Unbedingt!“ Es klingelte an der Tür. „Na großartig...“ Ich rappelte mich auf und schleppte meinen nach Schweiß und Suff stinkenden Körper zum Eingang. Wer, um Himmelswillen, wollte ausgerechnet jetzt etwas von mir? „Bitte, lieber Gott, lass es nicht diesen elenden Fouwlers sein...“, betete ich murmelnd und öffnete die Tür.
Ich werde nie meinen ersten Eindruck vergessen, als ich den Mann sah, der vor mir stand und mich anlächelte. ‚Poltergeist 2‘, dieser irre Prediger, der diese armen Kinder mit in den Tod nahm... Ein Scheißfilm! „Ähm... Ja?“ Ich versuchte, einen halbwegs normalen Zustand vorzutäuschen.
„Guten Tag, Mister Kudrow“, sagte der Mann mit einer geradezu eklig klingenden hohen Stimme.
Ich nickte unsicher. „Und Sie sind?“
„Oh...“ Er streckte mir seine Hand entgegen. „Jeremia Bowman, Mister Kudrow. Aber eigentlich müßten Sie mich doch noch kennen?“ Er wartete eine Antwort von mir nicht ab, sondern schob mich einfach zur Seite und ging an mir vorbei ins Haus.
„He! Einen Moment mal, Mister!“ Ich lief schwankend hinter ihm her und erwischte ihn im Wohnzimmer. „Was wollen Sie, verdammt?“
Kopfschüttelnd stand Bowman im Wohnzimmer und zeigte mit seinen dünnen Fingern auf die Flaschen. „Sie sollten hier unbedingt aufräumen, Leonard!“
„Also wenn Sie nicht augenblicklich...“
„Was, Leonard? Was dann? Werden Sie Gewalt anwenden? Mir gegenüber?“ Er fing an zu lachen und zog sich seinen dunklen Mantel aus. „Klar, wenn man zuviel trinkt, dann kann man schon einiges vergessen, nicht wahr?“ Bowman schob leere Flaschen auf dem Sofa zur Seite und setzte sich. „Also, kommen wir zum geschäftlichen Aspekt meines Hierseins.“ Er grinste mich an. Seine Zähne waren eine farbliche Mischung aus gelb und braun. Widerwärtig. „Machen Ihnen die Brubaker Freude?“
„Was?“ Ich mußte mich an die Wand anlehnen, um nicht umzukippen. „Was?“
„Oh...“ Bowman neigte seinen Kopf etwas zu Seite. „Jetzt sagen Sie bloß nicht, dass Sie sich an gar nichts mehr erinnern können, Leonard.“
„Was...“ Hilflos hob ich meine Arme nach oben. „Wer sind Sie? Was wollen Sie?“
Bowman murmelte irgendwas in sich hinein, was ich nicht verstehen konnte. Dann sah er zu mir. „Also, Leonard. Was ist das letzte, an das Sie sich erinnern können, seit Emily im Rosenbeet gestorben ist?“
Ich gab auf. „Ich weiß nicht, wovon Sie reden, Mister.“ Suchend sah ich mich nach einer vollen Flasche Bier um.
„Nehmen Sie diese hier“, sagte Bowman, stand auf, kam zu mir rüber und reichte mir eine Flasche. „Importbier... Ja, die Deutschen verstehen was von der Kunst des Bierbrauens...“
„Sie mich auch!“, murmelte ich zerknirscht und griff nach der Flasche. Sekunden später hatte ich den liebgewonnenen Geschmack im Mund.
„Na, da helfen wir wohl Ihren Erinnerungen ein wenig nach, nicht wahr?“
Ich zuckte mit den Schultern. „Wenn Sie meinen.“
Ich hörte diesem komischen Bowman kaum zu, während er ohne Unterlaß auf mich einredete. Das meiste ging in ein Ohr rein und zum nächsten wieder raus. Im Sekundentakt nippte ich an der Bierflasche, gurgelte ein paar mal und schluckte anschließend die warme Brühe runter. Ab und zu zuckte ich zusammen. Besonders, als Bowmann erwähnte, dass ich es war, der Emily aus dem Rosenbeet geschleift, über den Holzzaun gewuchtet und auf den Rücksitz meines Chryslers gelegt hatte. Er faselte was von Militärstiefeln, Brubakern und höherer Gewalt. Von einem Gegengeschäft war die Rede. Dass ich dreizehn Tage nach dem Tod meiner Frau mit ihm einen Vertrag ausgehandelt hatte. Ich konnte mich an absolut nichts erinnern. Bowman ging vor mir auf und ab. Er redete ununterbrochen, zitierte Paragraphen aus einem Regelwerk, welches ich nicht kannte. Er zeigte mir Unterschriften, die von mir stammten, von denen ich jedoch nichts wußte. Und jedes Mal, wenn die Flasche leer war, reichte er mir eine neue, die ich mit zitternden Händen dankbar annahm. Sogar ein Aschenbecher stand neben mir. Soviel ich weiß, hatten wir sämtliche Aschenbecher vor Jahren entsorgt. Aber trotzdem stand neben mir auf dem Boden des Wohnzimmers ein Aschenbecher, in den ich unbeholfen die Glut der Zigaretten abstreifte. Bowman stolzierte vor mir herum und redete und redete. Es nahm kein Ende. Und dann, plötzlich...
„Leonard!“, brüllte Bowman mich an.
Erschrocken sah ich zu ihm. Es dauerte etwas, bis ich die vier Personen zu zweien vereinigen konnte. „Hm? Was?“ Ich drückte die Zigarette einige Zentimeter neben dem Aschenbecher auf dem Teppich aus. „Was?“
„Haben Sie mir zugehört?“, wollte Bowman wissen. „Das Paket! Emily!“
„Was... Was ist mit Emily?“
Bowman grinste und machte mit Daumen und Zeigefinger eine Geste, die ‚Okay‘ darstellen sollte. „Warten Sie hier!“
Meine Handbewegung war sinnlos, aber in dem Moment für mich irgendwie wichtig. „Keine... Keine Angst... Ich... Ich lauf schon nicht weg... weg... Keine Angst.“ Gott, war mir schlecht. Ich beugte mich zur Seite und übergab mich.
„Sehr schön“, sagte Bowman und rannte aus dem Wohnzimmer.
„Klar.“ Noch nie in meinem ereignisreichen Leben fühlte ich mich so elend.
Ich hörte, wie Autotüren zugeschlagen wurden, dann ein Knirschen und Schaben, so als ob etwas schweres über den Kies vor unserem Haus geschoben wurde. Neben mir lag eines der unzähligen Blätter, die Bowman mir während seines Vortrages immer und immer wieder vor mein verquollenes Gesicht gehalten hatte. Mühsam kniff ich die Augen zusammen und konnte unter größten Anstrengungen einen dicken, fetten Schriftzug als ‚Bowman Puppen & Bowman Seelen‘ entziffern. In meinem Kopf rumorte es. Tausende kleine Hämmerchen schlugen von innen gegen meine Schädeldecke und wollten nach draußen. Bowman Puppen? Bowman Seelen? „Oh Gott, was...“ Ich konnte nicht weiter darüber nachdenken.
Plötzlich stand Bowman wieder im Wohnzimmer, zerrte mich hoch und schleppte mich raus auf die Veranda. „Oh, das wird Ihnen gefallen, Lenny.“ Er grinste mich an. „Ich darf Sie doch Lenny nennen, oder?“ Mit einem Fuß hielt er die Tür auf und stieß mich nach draußen.
Ich landete unsanft auf den Holzdielen. Im Fallen hatte ich eine große Kiste gesehen, die rechts neben der Tür stand. Das Hämmern in meinem Kopf wurde stärker. Paket? Emily? Bowman Puppen? Ich blieb erst einmal liegen, drehte meinen Kopf etwas nach links und kotzte die letzten Reste Hamburger aus, die ich noch in mir hatte. Ich brauchte dringend vierundzwanzig Stunden Schlaf. Vielleicht sogar eine Woche. Oder ein ganzer Monat. Ja, dachte ich, einen Monat durchschlafen und dann...
„He, Lenny!“ schrie Bowman. „Los, stehen Sie auf!“
„Wer sind Sie, verflucht?“ Ich wischte mir Erbrochenes aus dem Gesicht und sah ihn wütend an. Dann fiel mein Blick auf die große Kiste. „Und was, zum Teufel, ist das?“
Er machte eine beruhigende Handbewegung und nickte Richtung Kiste. „Das ist Ihre Bestellung, Lenny. Deswegen bin ich doch hier.“
„Ich habe nichts bestellt bei Ihnen“, murmelte ich leise und versuchte aufzustehen. Nach mehreren Anläufen klappte es und ich stand mit wackeligen Beinen vor ihm. Ich mußte mich am Geländer festhalten. „Ich... habe... nichts... bestellt!“
„Oh doch, Lenny.“ Bowman nestelte etwas aus der Hosentasche seiner schwarzen, verstaubten Hose. „Selbstverständlich haben Sie die Bestellung abgeben. Sie müssen nur noch unterschreiben. Dann wäre das Geschäft perfekt, und Sie und Ihre geliebte Emily können ein fröhliches Leben führen. Gemeinsam den Sonnenuntergang beobachten, die Play-Offs im Fernsehen anschauen, ein neues Rosenbeet hinten im Garten anlegen...“ Er grinste mich an. „Ein Leben, so schön wie nie zuvor.“ In der Kiste begann sich etwa zu bewegen. Man konnte eine Art mechanisches Rasseln hören, dazu seltsame Zischgeräusche und ein tiefes Grunzen. „Es wäre in der Tat äußerst unfair, wenn Sie jetzt das Geschäft widerrufen würden, Lenny. Immerhin... Die ganze Mühe. Sie hätten umsonst Emily zu Ihrem Wagen geschleift. Sie müßten mir die teuren Brubakerreifen erstatten. Also kommen Sie, Lenny.“ Er streckte mir einen Zettel entgegen. „Die Unterschrift kommt da unten rechts hin.“
Wie versteinert starrte ich zu der Kiste, aus der immer noch diese furchtbaren Geräusche kamen, sich aber jetzt auch minimal hin und her bewegte. Als ob etwas raus wollte. Raus an die Luft. Raus zu... mir? „Was sagten Sie?“, fragte ich leise.
Bowman kam einen Schritt auf mich zu. „Wenn Sie dann bitte unterschreiben würden...“
„Nein!“ Ich wiech zurück. „Das meinte ich nicht. Davor! Was haben Sie davor gesagt?“ Ich stellte fest, dass mein Rausch wie durch ein Wunder merklich nachgelassen hatte. „Das Geschäft widerrufen?“
Bowman schien verunsichert zu sein. Jedenfalls gefror das fiese Grinsen in seinem dünnen, hässlichen Gesicht. „He, Leonard. Sie werden doch jetzt keinen Rückzieher machen wollen? Das Geschäft ist so gut wie abgeschlossen!“
„Der Anruf...“, sagte ich leise. „Da war ein Anruf, kurz bevor Sie hier erschienen sind.“
Das hatte wohl gesessen, denn Bowmans Hand, in der er den Zettel hielt, verkrampfte sich dermaßen, dass er den Zettel mit seinen langen, schmutzigen Fingernägeln beinahe zerriss. „Was?“, bellte er sichtlich getroffen. „Was für ein Anruf?“
Für einen winzigen Moment glaubte ich, hinter seinen strahlend blauen Augen eine dunkle Leere zu erkennen, die mit brennenden Blitzen durchzogen war. Überhaupt verschwamm seine Gestalt für den Bruchteil einer Sekunde zu einer undefinierbaren Masse aus Flammen und eitrigen Geschwüren, nur um einen Lidschlag später wieder wie dieser kranke Prediger aus diesem miesen Film auszusehen. Angewidert wendete ich mich ab. „Ich werde nicht unterschreiben!“, keuchte ich.
Bowman sprang auf mich zu und riss mich zu Boden. „Was? Was werden Sie?“ Er saß auf mir. Gott, er wog mindestens zehn Tonnen...
„Jemand hat angerufen...“, presste ich angestrengt hervor. „Er hat mich gewarnt... Ein... Ein... Jesaja. Ein Jesaja Bowman!“ Ich versuchte, ihn von mir runterzustoßen. Keine Chance.
Jeremia Bowman sah mich mit wütend funkelnden Augen an. „So ist das also. Hintergehen willst du mich? Mich um meinen verdienten Lohn bringen? Ist es das?“ Er schlug mir hart ins Gesicht. „Ist es das?“ Wieder wollte er zuschlagen, doch kurz, bevor seine Faust mein blutendes Gesicht erreichte, stoppte sie einige Milimeter vor mir. „Er hat dich also angerufen, ja? Also gut. Fein!“ Seine Hände packten meinen Kopf und drehten ihn mit brutaler Härte so, dass ich die Kiste sehen konnte. „Du willst sie also nicht haben? Deine geliebte Emily soll nicht an deiner Seite dein elend langweiliges und stinkendes Leben ertragen? Dabei ist sie doch so schön geworden...“ Unverhofft ließ er mich los. „Aber gut...“ Er stand auf. „Du willst es nicht, Lenny. Du hast dich für die andere Seite entschieden. Für ein Leben, was es nicht wert ist, gelebt zu werden.“ Suchend sah Bowman sich um und hob dann den Zettel auf. „Also gut, Lenny.“ Er zerknüllte den Zettel und warf ihn achtlos weg. „Weißt du was?“, fragte er mich.
Unfähig, mich zu bewegen, blinzelte ich mit den Augen. „Was?“
„Du hast auf den falschen Bowman gesetzt!“ Er ging in die Knie, ballte seine Hand zu einer Faust und rammte sie in meinen Bauch.
„Oh Gott, nein!“ Um mich herum wurde es dunkel.
Ich erwachte und hatte einen mörderischen Kater. Ich lag auf dem schmutzigen Boden in der Küche. Überall standen leere Bierflaschen und Verpackungen. „Du mußt unbedingt aufräumen, Lenny!“, befahl ich mir. Mit meiner linken Hand griff ich nach dem dünnen Heizungsrohr und zog mich mühsam hoch. „Oh Scheiße!“ Kurz überlegte ich, wann ich das letzte Mal mich so hatte gehen lassen, was das Trinken betraf. „Scheiße, Lenny!“ Schließlich hatte ich es geschafft. Ich sah aus dem Fenster. Zu Emily, die inmitten den blühenden Rosenbeets lag. Gott, wie lange war das jetzt schon her? Fast zwei Wochen? Seufzend wischte ich mir einige Tränen aus dem Gesicht. „Scheiße, das wars wohl“, sagte ich leise zu mir. Ich ging torkelnd zum Telefon, welches auf dem kleinen Schränkchen im Wohnzimmer stand. Es wurde wirklich Zeit, diesen elenden Fouwlers anzurufen...
Ich zahlte fünftausend Dollar Strafe und verbrachte sieben Tage im Gefängnis, wo ich mit Fouwlers Angestellten Schach spielte und mit Fouwlers selbst abends einige Bierchen trank. Er war im Grunde genommen gar nicht so ein Arschloch, wie ich immer gedacht hatte. Im Gegenteil. Er hatte interessante Ansichten. Die Tatsache, dass er ein Farbiger war, störte mich bald überhaupt nicht mehr. Fouwlers hatte wirklich einen bemerkenswerten Verstand. Kaum, dass ich wieder draußen war, räumte ich das Haus auf. Und anschließend pflanzte ich in einem neuen Beet Rosen an. Leider muß ich zugeben, dass sie nicht gerade schön aussehen. Aber dafür blühen sie das ganze Jahr. Ein Wunder...
ENDE
copyright by Poncher (SV)
07.03.2003