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Else, Corona und ich
Ich schenke mir gerade eine Tasse Kaffee ein, als das Telefon klingelt. Ein Blick auf das Display. Es ist meine Freundin.
„Guten Morgen, Kirsten. Ich habe einen Coronatest gemacht. Er ist positiv. Euch habe ich als Kontaktpersonen genannt. Ihr werdet einen Anruf vom Gesundheitsamt bekommen."
Schweigen. Ich schlucke trocken.
„Wann hast du den Test gemacht?“
„Gestern, mir ging es am Wochenende schlecht. Gliederschmerzen, Kopfweh, ich hatte Atemnot. Mein Hausarzt hat mich sofort zum Test geschickt."
„Das tut mir leid. Wie fühlst du dich jetzt?"
„Mir tut einfach alles weh und ich bin ständig müde. Kirsten, wahrscheinlich habe ich mich bei euch angesteckt. In Martins Pflegeeinrichtung gibt es doch einige Coronafälle.“
„Er wird jeden zweiten Tag getestet", werfe ich ein.
„Auch, wenn sein Test negativ war, kann er Überträger sein. Außerdem, die Schnelltests sind nicht zuverlässig."
Ich überlege. Könnte das sein? Am Mittwoch vielleicht? Wir saßen gemeinsam vor dem Bildschirm. Mit Martin, Julia und Anna. Auf ARTE wurde eine Doku gezeigt. Über diese Stadt in den USA, wo LKWs mit Kühlcontainer Dutzende von Coronaleichen in Krematorien transportierten.
„Ist wohl eine Strafe Gottes." Entsetzt hatte ich Anna angeschaut, das konnte nicht ihr Ernst sein.
„Wohl kaum", hatte Martin erwidert. „Wenn man den Medien glauben darf, fing das Ganze in China an. Da gibt es fast nur Atheisten."
Anna unterbricht meine Gedanken:
„Mach dir keinen Kopf, zehn Tage Quarantäne, dann ist es vorbei."
„Ich weiß nicht, was ich sagen soll, es tut mir so leid. „Muss ich jetzt auch einen Coronatest machen?“
„Wahrscheinlich!"
„Jetzt brauche ich erst Zeit, um das zu verdauen. Wenn wir etwas für dich tun können, sage es bitte. Danke für deinen Anruf. Gute Besserung!"
Ich laufe wie ein Tiger im Käfig auf und ab.
Warum warten, bis das Gesundheitsamt anruft?
Ich google, suche nach der Teststelle.
Nach dreimal Klingeln nimmt jemand ab.
„Guten Tag, ich möchte ein Coronatest machen."
„Wurden Sie vom Gesundheitsamt angerufen?"
„Nein."
„Dann können Sie auch keinen Test machen."
„Hören Sie, mir geht es nicht so gut, ich muss wissen, ob ich mich angesteckt habe. Meine Freundin wurde positiv getestet."
Es ist still in der Leitung, die Frau scheint zu überlegen.
Dann: „Was haben Sie denn für Symptome?"
Ich zähle auf: „Kopfweh, Gliederschmerzen."
„Stopp! Ich frage Sie und Sie antworten nur mit ja oder nein."
Wir arbeiten die Frageliste ab.
„Morgen um 9:30 Uhr."
„Mein Mann hat auch Symptome, er hustet. Kann er den Test morgen auch machen?"
„Nein, er muss warten, bis sich das Gesundheitsamt bei ihm meldet.
Auf Wiederhören."
Peter ist mit vielen Arbeitskollegen zusammen, die zum Teil keine Masken tragen. Was, wenn er sie ansteckt? Ich rufe ihn an. „Anna hat Corona, bitte komm nach Hause! Vielleicht hast du es auch. Dein Husten könnte ansteckend sein.“
„So eine Scheiße! Mein Chef reißt mir den Kopf ab, wenn ich meine Kollegen angesteckt habe."
„Wir wissen es ja noch nicht sicher", beruhige ich ihn.
„Okay, du hast Recht, es ist besser, ich komme heim."
Wieder zu Hause ruft er bei seiner Hausärztin an. „Nein, Sie dürfen nicht in die Praxis kommen. Ich schreibe Sie krank. Die Krankschreibung müssen Sie abholen lassen. Morgen sollten Sie dann bei einem Kollegen einen Coronatest machen."
Er kommt zu mir, lässt sich in einen Sessel fallen. „Wir haben kein Corona, ich habe doch gar kein Fieber."
Ich springe auf. Verblüfft schaut Peter mich an, als ich nach dem Telefon greife.
„Hallo Mama", höre ich die Stimme meines Sohnes. „Ich wollte dich eben auch anrufen. Mein Test heute war positiv. Wir sind unter Quarantäne."
„Und Julia?"
„Das wissen wir noch nicht. Sie wird morgen getestet."
Ich erzähle ihm von Anna. Teile ihm mit, dass auch wir einen Coronatest machen werden. Er atmet tief, seine Stimme klingt belegt. „Mama, es tut mir leid, wenn ich euch angesteckt habe. Die arme Anna."
„Ihr geht es so weit gut. Sie hat kein Fieber. Es ist kein schlimmer Verlauf", versuche ich ihn zu trösten.
Es beherrscht mich nur noch der Wunsch, ins Bett zu gehen. Ich halte mich am Treppengeländer fest und langsam, Stufe um Stufe gelange ich in den oberen Stock. Ein Gefühl wie nach einem 100-Meter-Lauf. Kurzatmig und total erschöpft. Ich schlafe sofort und habe einen seltsamen Traum. Martin sitzt als kleiner Junge auf dem Wohnzimmerteppich und sieht sich eine Doku über den Golfkrieg an. Die Bombardierung Bagdads durch amerikanische Kampfflugzeuge. Es sind viele Verletzte zu sehen. Er dreht sich zu mir, hat Tränen in den Augen. „Mama, jetzt weiß ich, warum der liebe Gott sich nicht mehr sehen lässt." Aus seinem Mund fliegen kleine Bälle mit roten Tentakeln.
„Komm runter, Abendessen!“ Die Stimme meines Mannes holt mich zurück. Er steht neben dem Bett und schaut mich besorgt an. Ich möchte nicht aufstehen, meine Muskeln sind ohne Kraft. Mein Kopf besteht nur aus Schmerz. Ich greife nach den Ibuprofen.
„Du solltest Aspirin nehmen." Er nimmt mir die Tabletten aus der Hand. „Ibuprofen verursacht Atemnot."
„Das sind Fake News", widerspreche ich.
„Meine Arbeitskollegin Nina war eine der Ersten mit Corona. Ihre Atembeschwerden fingen an, nachdem sie Ibu eingeworfen hatte. „Außerdem", triumphierend schaut er mich an,„ habe ich gelesen, dass Patienten, die Ibuprofen genommen haben, viel öfter beatmet werden müssen, als Kranke, die Aspirin geschluckt haben." Ich wälze mich aus dem Bett. Nehme ein Aspirin.
Ungläubig beiße ich ein Stück von der Essiggurke ab, das kann doch nicht wahr sein, ich schmecke nichts. Ich atme tief ein, halte die Gurke unter die Nase. Versuche etwas zu riechen.
„Die sind noch gut, habe ich gestern erst aufgemacht.“
„Darum geht es nicht, mein Geschmacks- und Geruchssinn sind weg."
Er greift nach dem Gurkenglas. „Also, ich hab kein Problem, die sind gut."
Ich kaue auf einem Stück nichtsschmeckendem Käsebrot. „Elschen!“ Das Brot und der Rest des Satzes bleiben mir im Hals stecken.
“Hm … Was?" Peter schleckt sich die Brotkrümel aus den Mundwinkeln und schaut mich an.
Ich schlucke. Ein Versuch, die aufkeimende Angst wieder hinunterzuwürgen. Hustenanfall, keuchend, lang. „Sie war auch hier!"
„Stimmt. Und?" Er nimmt sich ein Brot.
„Wir … könnten Sie angesteckt haben!" Sorgsam, jede noch so winzige Stelle seines Brotes mit Butter bestreichend, antwortet er: „Wir … wissen noch gar nicht, ob wir Corona haben!“
„Wo ist das Telefon?"
Freiton. „Else ist nicht zu Hause."
Er beißt vom Brot. Kleine Brotkümelwörter fliegen aus seinem Mund „Dann musst du es eben später noch einmal versuchen.“
„Ich kann mir gar nicht vorstellen, wo Elschen um die Zeit noch sein könnte. Sie ist abends immer zu Hause."
Wir hatten sie vor Jahren kennengelernt. Im Laufe der Zeit war aus einer flüchtigen Bekanntschaft Freundschaft geworden.
Else lebt zur Miete in einem Geschäftshaus. Im Erdgeschoss ist ein Blumenladen. Bis vor zwei Jahren bewohnte sie die Wohnung darüber. Der Hausbesitzer meldete Eigenbedarf an. Else musste nach vierzig Jahren in die kleine Wohnung unters Dach ziehen.
Zwei Etagen und achtundzwanzig Stufen höher. Vieles, was sie an Erinnerungen von ihrem verstorbenen Mann und den beiden Kindern hatte, fand in der schrägen, winzigen Dachwohnung keinen Platz mehr. Ich staunte, wie wenig nach zweiundachtzig Jahren von einem Menschen noch bleibt.
Selten verlässt Else die Wohnung, das Treppensteigen strengt sie zu sehr an.
Wieder nehme ich das Telefon
Freiton. Else geht nicht ran.
Sie hat nicht viele Kontakte. Die Kinder von Else leben in Amerika. Ihr Mann ist schon seit zwanzig Jahren tot. Wenn sie hier ist, erzählt sie von ihrer Arbeit im Krankenhaus. vierzig Jahre hatte sie da geputzt. Komm halt nirgends mehr hin. Hab nie Geld für den Führerschein gehabt. Sie erzählt und wir hören zu. Geschichten und Anekdoten aus der Zeit, als sie noch gebraucht wurde.
Am Sonntag war ihr Besuch kürzer ausgefallen. Ohne Umarmung. Kaffeetrinken auf Abstand.
Peter und ich räumen den Tisch ab. Im Hintergrund das Radio. Der Moderator spricht von Querdenkern und Impfgegnern.
„Ich würde mir wünschen, die lägen jetzt im Krankenhaus und müssten künstlich beatmet werden." Wütend schalte ich aus.
Mein Mann nimmt mich in den Arm. „Du weißt doch, viele sind falsch informiert."
„Ja, und wir, wir wissen, wie gefährlich es ist, und laden eine 82jährige zum Kaffee ein."
Vielleicht liegt sie schon im Krankenhaus. Oder sie ist umgefallen und liegt in ihrer Wohnung.
Telefon.
Freiton. Else geht nicht ran.
„Ich werde jetzt bei ihrem Vermieter anrufen."
Freiton. „Gröllmann."
„Entschuldigen Sie bitte die Störung …"
Herr Gröllmann zeigt Verständnis und verspricht, nach Else zu sehen und zurückzurufen.
Erschöpft lege ich mich aufs Sofa, die Kopfschmerzen sind wieder da. „Können wir die Terrassentür aufmachen? Es ist so stickig."
Peter öffnet die Tür. „Das hat ja Minusgrade." Fröstelnd reibt er sich die Arme.
„Nur ein paar Minuten!" Ich greife nach der Couchdecke und ziehe sie bis unter das Kinn.
„Ich gehe Duschen. Das Telefon lege ich dir hier aufs Kissen, sollte der Gröllmann anrufen."
„Danke."
Tief atme ich die kühle Abendluft ein.
Unbarmherzig schrill das Telefon, es hat nur einmal geklingelt. Mein Ohr an den Hörer gepresst, höre ich die aufgeregte Stimme. „Hallo, hören Sie, ich habe Frau Baum gefunden und den Krankenwagen gerufen."
Das Wort Krankenwagen lässt mich aufspringen. Aufgeregt warte ich auf die nächsten Worte.“Sie liegt im Treppenhaus. Sie ist mit ihrer Einkaufstasche ausgerutscht und zwischen dem ersten und zweiten Stock die Holztreppe hinuntergestürzt. Ihr Fuß ist im Geländer hängen geblieben. Der Krankenwagen kommt gleich. Ein Nachbar ist jetzt bei ihr. Ich wollte Ihnen Bescheid geben."
„Wie geht es ihr?"
„Ihr Knie tut weh und sie hatte schreckliche Angst, dass keiner sie finden würde. Eine Stunde hat sie um Hilfe gerufen. Ich höre das Martinshorn, der Krankenwagen ist da. Ich muss raus. Auf Wiederhören."
Ich schließe die Terrassentür.
„Hallo, meine Liebe, ich bin wieder zu Hause. Wieso Corona? Sie haben gesagt, ich brauche ein neues Knie. Ich hab Schmerzmittel bekommen. Operiert wird erst im August. Ja, ich habe im Krankenhaus einen Test gemacht.
Ob der negativ war? Klar, was denkst du denn!"