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Elisabeth Sophie
Wolfenbüttel im Sommer 1748
Im Ratszimmer des Schlosses hatten sich Herzog Karl Ferdinand, Hofmarschall von Werttemberg, Kanzler von Hallen mit einem Schreiber, Herzogin Elisabeth Sophie sowie Frau von Merker, die derzeitige Mätresse des Herzogs, versammelt.
Der Herzog eröffnete die außerordentliche Sitzung: „Vor nunmehr zehn Jahren wurde mir Elisabeth Sophie angetraut. Einen Erben konnte Ihre Hoheit mir in dieser Zeit nicht schenken. Vielmehr inkommodiert Madame den Hof mit spitzen Reden und unangemessenem Intrigen. C’est fini. Ich erlasse die Order, dass Ihre Hoheit fürderhin in Schloss Wendhausen residieren wird.“
Niemand sprach, der Schreiber brachte die Order zu Papier und der Herzog subskribierte. Dann erhoben sich die Herren. Karl Ferdinand verließ mit seiner Favoritin den Raum. Frau von Merker warf der verbannten Herzogin noch einen triumphierenden Blick zu und wäre beinahe gegen den Türpfosten gerannt: „Wieso schaut sie so glücklich?“, murmelte sie, vergaß dann aber bald wieder diese Szene.
Wolfenbüttel im Frühjahr 1751
Herzog Karl Ferdinand wurde von seinem Kanzler im Privatkabinett aufgesucht: „Soeben ist Nachricht aus Schloss Wendhausen eingekommen. Eure Gemahlin ist guter Hoffnung.“
„Was für ein Elend. Der Bankert ist nicht von mir. Ich habe diese Person die letzten drei Jahre gar nicht gesehen. Ich bezichtige sie der Untreue. Leitet alle erforderlichen Schritte in die Wege.“
„Das könnte diffizil sein. Ihr habt Euch im Winter mehrmals in Wendhausen aufgehalten.“
„Weil die Belange des Gutes meine Anwesenheit erforderten. Ich bin nicht im Schloss gewesen.“ Karl Ferdinand echauffierte sich zunehmend.
„Ich befürchte, ein förmliches Verfahren hätte bei diesem Sachverhalt geringe Aussicht auf Erfolg. Ich rate Euer Durchlaucht sehr eindringlich von immediaten Schritten ab. Zunächst wissen wir noch nicht, ob es ein Knäblein sein wird. Und wenn dies eintritt, bitte ich Euer Durchlaucht, zu bedenken, dass Euer Durchlaucht bisher keinen Stammhalter haben. Das Volk ist bereits beunruhigt, aber sobald das freudige Ereignis bekannt wird, dürfte wieder eitel Ruhe eintreten. Ich rate Euer Durchlaucht dringlichst, bis zum dritten Wiegenfest zu attendieren. Dann wird sich die Abkunft erkennen lassen.“
Wendhausen im Sommer 1754
Am Ende eines verregneten Sommers versammelte sich eine illustre Gesellschaft im blauen Salon von Schloss Wendhausen, um das dritte Wiegenfest des Kronprinzen zu feiern. Herzog Karl Ferdinand war mit Frau von Merker und Mademoiselle Philine d’Aincourt bereits am Mittag angereist und lustwandelte mit den Damen durch den Barockgarten. Hofmarschall von Werttemberg, Kanzler von Hallen und Hofmedicus Geheimrat von Steege waren mit dem Notarius von Wolfenhan sowie zwei Schreibern am frühen Nachmittag eingetroffen. Zur Geburtstagstafel waren auch der Hofkaplan von Wendhausen, der hochwürdige Vater Eberhard sowie die Hofdame der Herzogin, Frau von Mallenberg, gebeten. Drei Dienstmädchen bedienten vom Kämmerer überwacht die Gäste. Der kleine Prinz lag in einem weißen, mit Spitzen und Rüschen besetzten Kleid und einer roten Weste gewandet in seinem Bettchen und schlief, während seine Mutter mehr nach ihm als nach den Gästen schaute. Die halblaut geführten Gespräche schienen den Knaben nicht zu stören.
Schließlich erhob sich der Herzog und beendete so die Kaffeetafel. Hofmarschall von Werttemberg verkündete: „Ich darf nunmehr höflichst die Damen bitten, uns Männer für eine kurze Weile alleine zu lassen.“
„Und der Prinz?“, wagte Elisabeth Sophie zu fragen.
„Nun, da Seine Hoheit auch ein Mann ist, darf er bleiben“, lächelte der Hofmarschall. „Ich denke, er ist bei Seiner Exzellenz, Hofmedicus Geheimrat von Steege, in erfahrenen Händen.“
Elisabeth Sophie sah ihrem Mann an, dass er weitere Widerworte nicht hinnehmen würde.
„Meine Damen, folgen Sie bitte in den gelben Salon. Dort werden Erfrischungen gereicht, bis die Herren wieder zu uns stoßen.“
Der Kanzler hatte bereits vor Beginn der Feier die Zugänge überprüft und schloss nun alle drei Türen ab. „Wir sind jetzt ungestört.“
Geheimrat von Steege nahm den Prinzen aus dem Bett und entkleidete ihn mit sicheren Griffen bis auf die Windeln, die er immer noch trug. Der Hofmarschall nahm währenddessen die Unterlage aus dem Bettchen und platzierte sie auf einem Beistelltisch am großen Fenster, das in den Garten hinausging. Dann legte der Hofmedicus das Kindlein auf die Unterlage. Alle Herren versammelten sich vor dem Tisch und betrachteten den kleinen Jungen, der nunmehr wach war und seinerseits neugierig die vielen Gesichter betrachtete.
„Also scheu ist Seine Hoheit überhaupt nicht“, meinte Notar von Wolfenhan.
„Alle Kinder aus der Linie von Herzog Karl Gustav waren aufmerksam und neugierig und keineswegs schüchtern“, konstatierte der Hofmarschall und fuhr fort. „Bitte beachten Sie die hellbraunen Augen, das schon in diesem jungen Alter ausgebildete kantige Gesicht und das vorspringende Kinn.“
Die Herren betrachteten erst den kleinen Prinzen und richteten dann ihren Blick auf den Herzog, der ein wenig abseits am Fenster stand und in den Garten schaute. Seine hellbraunen Augen fielen allen sogleich auf. Der Herzog hatte in den letzten Jahren offenbar gut gelebt, sein Gesicht war voller und weicher geworden, aber sein Doppelkinn sprang immer noch deutlich hervor.
„Das kann nicht mein Sohn sein. Schafft ihn in seine Gemächer und lasst uns einen guten Tropfen konsumieren.“ Auf Karl Ferdinands Stirn bildeten sich Schweißtropfen und seine Schläfenadern traten deutlich hervor.
„Eine kleine Weile noch, Euer Durchlaucht. Wir kommen zum Abschluss“, verkündete der Hofmarschall, öffnete die Windeln und zog sie mit Schwung unter dem Prinzen hervor. Er verneigte sich leicht vor dem Kind und wies mit seiner rechten Hand auf die freigelegten Partien.
„Eindeutig ein Junge“, murmelte der Hofmedicus.
„Ist das ein Muttermal?“, fragte der Notarius und wies auf eine kleine dunkle Erhebung unter dem Bauchnabel, die wie eine Rosenknospe geformt war.
„Dieses Mal weisen alle Nachkommen von Herzog Karl Gustav auf. Da es üblicherweise unter der Kleidung liegt, ist es den wenigsten Menschen bekannt.“
„Und ein eindeutiger Beweis. Seine Hoheit ist zweifellos ein Abkömmling der herzoglichen Linie. Sollen wir jetzt etwa Nachforschungen anstellen, ob Herzog Karl Ferdinand oder einer seiner Brüder der Erzeuger ist?“ Der Notarius schaute fragend in die Runde.
„Halten Eure Durchlaucht es für opportun, zu untersuchen, ob einer der Prinzen der Urheber des Kronprinzen ist? Wünschen Eure Durchlaucht diesen Skandal?“
Der Hofmarschall schaute erwartungsvoll auf den Herzog. Dessen Gesicht hatte inzwischen die Farbe einer überreifen Tomate angenommen. Dann brüllte er: „Ich habe keine Kinder. Ich verbitte mir diese Unterstellung! Hinaus mit euch allen!“ Er ergriff den kleinen Prinz und öffnete das Fenster. Der Kanzler und die beiden Schreiber eilten herzu und hielten den Herzog davon ab, den Prinzen aus dem Fenster zu stürzen. Schließlich konnte der Kanzler das Kind an sich nehmen und der Herzog sank ohne ein weiteres Wort zu Boden. Hofmedicus und Hofkaplan eilten herzu und beugten sich über ihn. Der Geheimrat richtete sich nach kurzer Zeit wieder auf und verkündete: „Der Herzog ist verstorben.“ Der Kaplan kniete weiter neben der Leiche und betete.
Alle Anwesenden verfielen in tiefes Schweigen. Nach zehn Minuten beschloss der Kaplan seine Gebete.
Der Hofmarschall erhob seine Hand und unterband die einsetzenden Gespräche. „Kein Wort wird von diesen Ereignissen nach außen dringen. Wir werden ein kurzes Bulletin veröffentlichen.“
„Der Verstorbene war schon seit mehreren Monaten in schlechter Kondition. Wir mussten zu jeder Zeit mit einem letalen Ausgang rechnen“, verkündete der Hofmedicus.
„Der Prinz ist zu klein, um den Thron einzunehmen. Und angesichts der Ereignisse vor sechs Jahren scheint mir eine Regentschaft der Herzoginwitwe nicht opportun“, gab der Kanzler zu bedenken.
„Der nächste Thronfolger wäre Prinz Ludwig Ernst. Er studiert noch in Halle, aber ich denke, wir sollten ihm die Regentschaft andienen.“ Der Vorschlag des Hofmarschalls stieß auf allgemeine Zustimmung und so brachen die Herren auf, um den Damen die traurige Kunde zu überbringen.
Die Damen schauten erwartungsvoll auf. Geheimrat von Steege übergab den Jungen an Frau Mallenberg. Elisabeth Sophie bat die Herren, sich zu den Damen zu setzen, aber sie blieben stehen und Hofmarschall von Werttemberg verneigte sich: „Eure Hoheit, verehrte Damen, in tiefer Trauer habe ich Ihnen mitzuteilen, dass Seine Durchlaucht, Herzog Karl Ferdinand von Braunschweig-Wolfenbüttel, von uns gegangen ist.“ Er ging zur Herzoginwitwe, verneigte sich tief und fuhr fort: „Ich spreche Euer Hoheit mein tiefstes Mitgefühl aus und versichere Euch meine unverbrüchliche Ergebenheit.“
Elisabeth Sophie neigte leicht den Kopf: „Eure Exzellenz, Ich bin Euch zu Dank verpflichtet.“ Sie senkte ihren Blick und schaute unbewegt auf den Tisch. Auch Frau von Merker nahm die Nachricht sehr gefasst auf, während Frau von Mallenberg leise schluchzte und den kleinen Prinzen an sich drückte. Mademoiselle Philine zerfloss geradezu in Tränen. „Quel malheur. Certainement je dois voyager. Je suis peur de mon père“ war zwischen ihren Schluchzern zu verstehen. Elisabeth Sophie wandte sich an sie: „Ihr seid nicht gehalten, zurück zu Eurem Vater zu reisen, wenn Ihr Euch so fürchtet. Frau von Mallenberg hat mich schon vor Monaten um ihren Abschied gebeten. Seid Ihr gewillt, das Amt meiner Hofdame zu übernehmen?“ Die Tränen versiegten, Philine erhob sich, knickste dankbar und ging zu Frau von Mallenberg, die ihr anstandslos den kleinen Prinzen überreichte.
Frau von Merker schien gar nicht erfreut über diese Entwicklung. Und so wandte Elisabeth Sophie sich ihr zu: „Nun, ich werde meinen Sohn nicht alleine lassen und deshalb mein Domizil wieder nach Wolfenbüttel verlegen. Aber ich habe mich hier sehr wohl gefühlt und ich würde mich freuen, wenn Ihr künftig diese Räume nutzen würdet.“
Es fiel Frau von Merker schwer, die Contenance zu wahren. „Euer Wunsch ist mir Befehl. Ich bin sehr bekümmert und bitte, mich zurückziehen zu dürfen“, presste sie schließlich hervor und verließ den gelben Salon. Die anderen Gäste folgten ihr. Nur der Hofmarschall blieb mit der Herzoginwitwe zurück. „Wir sollten frühzeitig das weitere Procedere besprechen.“
Elisabeth Sophie nickte und murmelte: „Der Herzog ist tot. Es lebe der Herzog!“
Herbst 1754
Ihre strenge Trauerzeit wurde auf drei Monate begrenzt. In dieser Zeit führten Elisabeth Sophie und Ludwig Ernst mehrere streng vertrauliche Gespräche mit ihrem Bischof, der dann auch ihre Eheschließung in einer stillen Zeremonie leitete. Die Heirat stieß am Hof auf Erstaunen. „Impossible“, raunte es hier und da, aber dann kam das on dit auf, Karl Ferdinand habe nie die Ehe vollzogen.
Acht Monate nach ihrer zweiten Hochzeit wurde Elisabeth Sophie von ihrer ersten Tochter Marianne Sophie entbunden. Daraufhin verbreitete Frau von Merker, der Regent habe sich schon Jahre vor dem Tod des Herzogs häufig auf Schloss Wendhausen und kaum an der halleschen Universität aufgehalten. Unerwartet stieß ihre Indiskretion auf kein Interesse und so sprach sie auf dem Tauffest von Marianne Sophie den Regenten direkt an: „Durchlaucht haben sich ja in Wendhausen immer sehr wohl gefühlt?“
Ludwig Ernst überhörte deutlich ihre Anspielung und erwiderte leise lachend: „Verehrte Frau von Merker! Ihr wisst doch aus eigener Erfahrung, wie gemächlich und wohltuend das Leben auf Schloss Wendhausen dahinfließt. Sobald ein Semester in Halle abgeschlossen war, habe ich mich zur Erholung nach Wendhausen zurückgezogen. Die anderweitigen Vergnügungen der Kommilitonen sagten mir nicht zu und schienen mir vielmals gar zu frivol. Es mag durchaus Menschen geben, denen savoir vivre eine Sequenz von Lustbarkeiten und Festen bedeutet. Aber ich habe für diese Lebensart wenig Verständnis.“ Ludwig Ernst verneigte sich und ließ Frau von Merker im Saal stehen.
Sie blieb dann den Tauffestlichkeiten für die beiden nachgeborenen Töchter des Herrscherpaares lieber fern, aber als Organisatorin rauschender Feste und femme fatale von Wendhausen wurde sie im eher behäbigen Wolfenbüttel auch nicht vermisst.
Wolfenbüttel im Sommer 2015
„Wir befinden uns nun im Ratszimmer. Dieser intime Raum befindet sich zwischen dem Thronsaal und den Gemächern des Herzogs. An zwei Seiten befinden sich jeweils drei große Fenster, so dass das Zimmer zu den hellsten Räumen des Schlosses gehört. An dem runden Eichenholztisch in der Mitte tagte der herzogliche Rat. Hier sehen Sie ein Gemälde von Johannes Balkmesser aus dem Jahr 1754. Es zeigt die Herzoginwitwe Elisabeth Sophie mit ihrem dreijährigen Sohn, Herzog Karl Ferdinand II. und dem Regenten Ludwig Ernst. Er war der jüngere Bruder des 1754 verstorbenen Herzogs Karl Ferdinand. Dessen Porträt hängt rechts daneben. Es wurde 1750 ebenfalls von Johannes Balkmesser gemalt. Wir begeben uns jetzt zum Thronsaal.“
Meine Ehefrau tippte dem Führer auf die Schulter: „Ich hätte gerne noch eine Frage gestellt!“
„Ja, bitte?“
„Auf dem Bild hat der Regent seine Hand auf die Schulter der Herzoginwitwe gelegt. Dadurch entsteht bei mir der Eindruck, sie seien ein Paar.“
„Nun, Ludwig Ernst hat Elisabeth Sophie drei Monate nach dem überraschenden Tod seines älteren Bruders geheiratet. Ihre Ehe dauerte vierunddreißig Jahre und sie wurde mit drei Töchtern gesegnet.“
Der Schlossführer eilte seiner Herde nach, während meine Frau vor den Gemälden stehen blieb. Ich fragte sie: „Was findest Du daran interessant? So außergewöhnliche Gemälde, um eine Geschichte über sie zu schreiben, sind es doch wohl nicht.“
„Schau dir doch mal die beiden Männer an. Ihre Verwandtschaft sieht man auf den ersten Blick, obwohl der Herzog recht beleibt ist und der Regent eher hager.“
„Nun ja, wenn ich mir deinen Bruder anschaue.“
„Papperlapapp - sieh dir doch mal die Kleidung an. Die beiden Bilder sind im gleichen Jahrzehnt gemalt worden. Die prunkvolle, farbenreiche Gewandung des Herzogs und dagegen der Regent mit schlichtem, schwarzem Rock und schwarzer Weste. Und die Herzoginwitwe? Ich habe schon einige Kleider aus dem Rokoko gesehen und ich muss sagen: Sehr schlicht, kein Schmuck, kein Zierrat. Ob das Herzogtum verarmt war? Das sollte der Herr Professor doch wissen.“
„Darüber habe ich leider nichts gelesen. Lass uns weitergehen, vielleicht beantwortet dir der Führer ja noch eine Frage.“
Meine Frau folgte mir und murmelte: „Da steckt mehr dahinter. Eine Witwe durfte den Bruder ihres verstorbenen Ehemannes nicht heiraten: Ich wittere ein dunkles Geheimnis.“
Ich blieb lieber stumm, denn die Skandalwitterung meiner Ehefrau ist hervorragend ausgeprägt und führt in der Regel zu der Erstellung eines neuen Romans.