Was ist neu

Elelent - eine Nachkriegsgeschichte

Beitritt
05.03.2013
Beiträge
558
Zuletzt bearbeitet:

Elelent - eine Nachkriegsgeschichte

Elelent

Elelent - eine minimalistische Erzählung aus der Nachkriegszeit

Nach dem Besuch des Münchener Zoos sagte ich mein erstes Wort:
Elelent,
eine Abkürzung für Elefant.
Mein zweites Wort war Mama!
Mein drittes Wort war Papa!
Daraus wurden bald Mutter und Vater;
der Elelent blieb draußen vor.
*
Vater schaffte das Geld heran,
Vater schenkte mir die Eisenbahn.
Vater beschimpfte mich.
„Ich war für euch in Russland.“

Mutter schaute zu, schwieg und las Romane.
*
Vater wanderte mit mir in den Bergen.
Vater ging mit mir schwimmen.
Vater beschimpfte und verfluchte mich.
„Ich war für euch in Russland.“

Mutter schaute zu, schwieg und las Romane.
*
Vater besuchte mit mir Kirchen.
Vater ging mit mir in Wirtshäuser.
Vater beschimpfte, verfluchte und ohrfeigte mich.
„Ich war für euch in Russland.“

Mutter schaute zu, schwieg und las Romane.
*
Vater erzählte mir vom Krieg.
Vater weinte sich bei mir aus.
Vater beschimpfte, verfluchte, ohrfeigte und verprügelte mich.
„Ich war für euch in Russland.“

Mutter schaute zu, schwieg und las Romane.
*
Vater trank Bier und Schnaps mit mir.
Vater torkelte hängend an mir nach Hause.
Vater beschimpfte, verfluchte, ohrfeigte, verprügelte und würgte mich.
„Ich war für euch in Russland.“

Mutter schaute zu, schwieg und las Romane.
*
Vater versprach mir das Geschäft.
Vater hat es mir nicht gegeben.
Vater beschimpfte, verfluchte, ohrfeigte, verprügelte, würgte und verwundete mich.
„Ich war für euch in Russland.“

Und sah mich nie mehr wieder.

Mutter schaute zu, schwieg und las Romane.
*
Der Vater starb.
*
Ich las:
Zweihundertzwanzigtausend deutsche Nachkriegskinder hatten amerikanische Väter.
„Mutter, hast du mir etwas zu sagen?“
Mutters Gesicht wurde rot, Mutters Gesicht wurde grün, Mutters Gesicht wurde blau, Mutters Gesicht wurde weiß.
*
Zweihundertzwanzigtausend deutsche Nachkriegskinder hatten amerikanische Väter.
„Mutter, wer war mein Vater?“

Mutter floh aus dem Zimmer.
*
Mutter starb.
*
In einem ihrer Romane fand ich das Bild eines Mannes in amerikanischer Uniform.
Quadratischer Kopf, dichtes Haar, nach oben gebogene Nase,
spöttisches Lächeln.

Als wär‘s ein Bild von mir.
*
Nun konnte ich endlich auch Elefant sagen.​

 

Als ich den Titel gerade entdekcte,

lieber Wilhelm,

dachte ich weniger an einen Elefanten als ans Elend. Das entwickelte sich aus dem ahd. elilenti und die Vokale wurden bereits im mhd. abgeschliffen beim ellende, das neben dem Fremden heimatlos/nicht zuhause sein bedeutete. Wenn also ein Ritter ins elende zog, ging es in die Fremde. So war es also auch mit dem biologischen Vater, aber auch mit dem Vater in der (sozialen) Vaterrolle, dem mutmaßlich die schönste Zeit des Lebens geklaut wurde und sein erfahrenes Elend nicht anders abarbeiten konnte, wie Du es schilderst. Und wer's besser gewusst hätte, hüllt sich in Schweigen.

So viel oder wenig für heute vom

Friedel

 

Hey Wilhelm Berliner,

das ist eher ein Gedicht, als eine Kurzgeschichte. ;)

Das Thema ist sicher gut, die Wiederholung mit Russland auch. Aber ich bin kein Fan von Gedichten, kann folglich auch wenig zu sagen. Und fürs Forum solltest du eh eine Kg drauß machen.

Gruß,
Kew

 

Hallo Wilhelm

Ich hatte diesen Text bereits gestern gelesen, als noch keine Kommentare vorlagen und meine Gedanken wie folgt festgehalten:

Nach dem ersten Abschnitt überlegte ich, welcher Textgattung diese minimalistisches Werk zuzurechnen ist? Der Lyrik, auch wenn in Versform verfasst, kaum. Ich weiss es (noch) nicht. Einen Annäherungswert dünkte mich noch die Ballade des historisch-(gesellschafts)politischen Gehalts wegen. Aber ob Tanzen passt dazu passt?

Die Idee und die Aussage, die in diesem Text stecken, fand ich köstlich. Nicht dass der verköstigende Vater bei seiner Russlandabwesenheit gehörnt wurde. Nicht dass der genetische Vater ein Ami war. Aber es zeichnet einen historisch-gesellschaftlichen Sachverhalt mit wenigen, dafür konzentrierten Inhalten, die nahe an der Parodie die wiedererwachende Lebens- und Liebesfreude der Nachkriegszeit erleuchtet.

Auch wenn es in der Versform grenzwertig wirkt, nahm ich es zunehmend als Erzählung wahr, an der ich mich erfreute.

Schöne Grüsse

Anakreon

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Wilhelm,

da tastet sich einer heran, an die Grenzen dessen, was geschrieben werden muß (und was nicht), fast ein privater Lebenslauf im Tunnel statischer Existenzen.
Das Elefanten-Elend sprang mir auch sofort in den Sinn, man möchte hier nicht von einem Zufall ausgehen.
Die Form, Mantra passt wohl nicht, oder doch?, schmerzhaft komprimiert und nicht ohne Momente tragische Erheiterung, und am Ende die Befreiung aus der Umfessellung sich stetig gesteigert habender Aggression und der lähmenden Kontinuität der müttlerlichen Verdrängung

Ein Gedicht? Nein. Eher ein erzählendes Verdicht, das eine Vita auf den Punkt bringt, ein zehntausendfach gelebtes Klischee angemessen formatiert.

Gern Gelesen
Gruß
7miles

 

Hallo Friedel,

das Elend war groß in dieser Zeit, es dauert an bis heute. Das Stichwort heißt: Traumatisierung. Erlebt bei der Bundeswehr gerade wieder eine Renaissance. Man meint, man ist tapfer, danach kommt das heulende Elend oder es kommen die Gewaltausbrüche. Untersucht wurde die Kriminalität bei den Vietnamveteranen, von denen 1972 300000 im Gefängnis saßen.
So agieren die Betroffenen in der Geschichte: fight, flight and stillstand: Vater schlägt, Mutter schweigt, Sohn flieht.
Dass Elelent und Elefant miteinander korrespondieren, mag dem Kind geschuldet sein, das mit Elefanten sicher mehr anfangen kann als mit Elend.
Danke fürs Lesen und kommentieren.
Der unelendigliche
Wilhelm

Hallo Kew,

dass Du schreibst

das ist eher ein Gedicht[,] als eine Kurzgeschichte.
zeigt mir, dass auch Du Elemente von einer Kurzgeschichte darin findest.
Dass die Form der Geschichte nicht der Norm angepasst ist, ist klar. Ich fand, dass es ästhetisch netter „mittig“ aussieht als linksbündig.

Das Thema ist sicher gut, die Wiederholung mit Russland auch.

Schön, dass Du das schreibst. Den Russlandsatz akzeptierst Du. Aber welche Sätze in dem Text sind Gedichtsätze, Erzählsätze, Dramasätze?
Das Minimalistische reduziert auf das Notwendigste, um dem Leser Freiheit zu geben zu eigenen Vorstellungen.
Ein Beispiel für minimalistische Literatur:
An zwei gegenüberliegenden Wänden hängt je eine Schale mit einem Buch darin. Auf einem steht der Titel: „Schlimmer kann es nicht mehr werden“. Auf dem anderen: „Es kann noch schlimmer kommen“. (http://www.richardjochum.net/oldsite/einstein.html, 19.05.2013)
Gedicht? Drama? Erzählung?
In der Zeit, in der Cross-over stattfindet oder fächerübergreifend geforscht wird, ist die strenge Einhaltung von Formen aus vergangenen Zeiten vielleicht nicht ganz so wichtig.
Wenn die Form das inhaltliche Verstehen des Lesers fördert, ist es gut, wenn nicht, ist es schlecht.
Vielen Dank, Kew, für die Anregung, mich mit der Form auseinanderzusetzen.
Herzliche Grüße
Wilhelm


Hallo Anakreon

auch Du sprichst die Einordnung in eine der gängigen literarischen Formen an. Beim Schreiben hatte ich es einfacher: Es ergab sich die Form automatisch beim Denken über den Inhalt.
Sehr treffend hast du die Kurzform der Nachkriegsgeschichte beschrieben. Das Generationenproblem, das mit „1968“ nur eine Ausdrucksform zeigte, ist hier zusammengefasst. Man fragt sich doch, wann dieser Krieg endlich zu Ende ist. Aber ich möchte jetzt nicht über die transgenerationale Traumatisierung schreiben.
Vielen Dank für die so schmeichelhafte Einschätzung
Herzliche Grüße
Wilhelm

Hallo 7miles,

Deine Bemerkungen verschlugen mir die Sprache bzw. Schreibe. Heute sagt man dazu wohl: „Bingo!“
Das wäre aber zu flapsig. Denn die kongeniale Erfassung meines Textes ist schon bewundernswert. Vor allem Dein Hinweis auf die Mantras ist ja auch ein Hinweis auf die Form und Funktion von Sprache, die vielleicht vor der Erfindung von Lyrik, Prosa und Drama stand: eine Anrufung, ein Bannspruch, eine Erregung (TB), eine Beschwörungsformel. Damit kommt man dem Inhalt des Textes vielleicht näher als mit der Einteilung in Gedicht oder Kurzgeschichte. Denn darin liegt der Ursprung aller Literatur. Der Minimalismus versucht gerade ja das. Ein Verdicht? Verdichtung und Minimalismus sind sich wohl ähnlich: verdichtende Erzählung oder erzählendes Verdicht?
Jedenfalls hast Du den Formalismus beiseitegelassen und den Inhalt auf den Punkt gebracht: eine tausendfach gelebte Vita in der Nachkriegszeit in Deutschland.
Vielen Dank für Kommentar und Bewertung
Herzliche Grüße
Wilhelm

 

Ich bin's nochmal.

Gedicht? Drama? Erzählung?
Vielleicht seh ich das, wirklich etwas eng. Die anderen stört es ja nicht, ist folglich kein Problem. Und nächstes Mal verkneif ich mir die Regelkeule. :)

Gruß,
Kew

 

Hallo Kew,

was zu einer offenen und guten Diskussion führt und Gedanken produziert, das ist gut. Eine Keule ist ja nur eine Schlag- und keine Hieb- oder Stichwaffe. Insofern bewerten wir eine Keule als Motivationswerkzeug.
Herzliche Grüße
Wilhelm

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Wilhelm,

durch die Sprache ist man schnell im Thema, wo so reduziert und wiederholend erzählt wird, geht es um Trauma. Die Benennung der Form ist mir dabei gleichgültig; ich empfinde es als Auflösung der Sprache unter das prosaische Niveau, nicht als Steigerung in das Lyrische. Durch die Wiederholung des Satzes "Mutter schaute zu, schwieg und las Romane." wird es noch nicht Lyrik.
Treffend erzählt wird der Umgang mit dem Unfassbaren, Unausweichlichen: Flucht aus der Gegenwart, aus der Beziehung, in die Phantasie, in Krankheit und Tod.
Man kann dies auch in Dialogform darstellen, die Erkenntnis "Als wär‘s ein Bild von mir" nur andeuten, den Abgrund in der Ahnung aufziehen lassen. Es wär nicht besser, nur anders, eine gewohnte Form.
Fatal das Ende; es gibt keine Erlösung. Niemand spricht diese Menschen frei und erlöst sie von einer Schuld, die nicht ihre ist, die oft nur Schwäche angesichts einer Katastrophe ist, die sie nicht zu verantworten haben. Die Mutter war einsam und hilflos, glaubte vielleicht nicht mehr, dass der Mann noch lebt, kann aber nicht zu diesem Leben stehen, das so im Gegensatz zum Versprechen steht, das sie vor dem Altar gegeben hat.
"Zweihundertzwanzigtausend deutsche Kinder haben amerikanische Väter", wer hat die gezählt? Wieviele stammen aus Flirts, wieviele aus Vergewaltigungen? Wieviele haben russische Väter?
Wie schwer wiegt dieses Leben, und wie leicht dagegen ein heutiges, wo ein Kind einem Flirt entspringt und der Vater nichts merkt; das Leben geht fröhlich weiter.
"Jedes fünfte bis zehnte Neugeborene in Deutschland soll ein Kuckuckskind sein, besagen Schätzungen, das wären 25.000 bis 40.000 jedes Jahr. Eine offizielle Statistik gibt es nicht. Eine in der "Ärztezeitung" 2005 veröffentlichte britische Studie hat eine Kuckuckskinder-Rate von 3,7 Prozent in Europa ausgemacht. Die Verunsicherung unter den Männern ist groß: 40.000 Väter in Deutschland lassen jedes Jahr testen, ob ihre Söhne und Töchter wirklich von ihnen stammen. In 25 Prozent der Fälle ist die Skepsis berechtigt und das Kind kein leibliches.....Kuckuckskinder berichten davon, dass sie immer gespürt haben, dass "in der Familie etwas nicht stimmte", dass es "da etwas gab, das strikt geheim gehalten wurde". Das treibt Kuckuckskinder um, sie suchen nach etwas, ohne überhaupt zu wissen, wonach. Sie sind gehetzt durch eine innere Unruhe, die sie sich nicht erklären können. Und durch den Teil ihrer Biografie, den sie nicht kennen." schreibt der Spiegel am 17.04.2008. Ist das wirklich so dramatisch? Ich denke, die Thematik Deiner Geschichte ist zusätzlich aufgeladen durch das ganze unbewältigte Elend, das mit dem Krieg verbunden ist und in dem Kind des Besatzungssoldaten sichtbar und gegenwärtig bleibt.

Gruß Set

 

Hallo Set,

beeindruckt las ich Deine Sätze. Natürlich, ja, so ist es. Was ich in der Sprache der Betroffenen dargestellt habe, hast du in der Sprache des Fachmanns ausgedrückt, und zwar treffend und mit mir in großer Übereinstimmung. Es ist immer wieder zu merken, dass der Krieg immer noch nicht aufgehört hat, seine Schatten auf Menschen bedrohlich zu werfen. Die Holocaustforschung zeigt dies bis ins Kleinste.
Kuckuckskinder, Scheidungskinder, wohlstandsverwahrloste Kinder - manchmal habe ich den Eindruck, dass in der Geschichte Kinder am meisten leiden mussten. Sie waren wehrlos und ermöglichten leichte Siege.
Ich danke dir für die wertvolle Ergänzung meiner Geschichte.
Herzliche Grüße
Wilhelm

 

Es ist immer wieder zu merken, dass der Krieg immer noch nicht aufgehört hat,

Ja, Wilhelm,
so denke ich auch, der Krieg dauerte nur wenige Jahre, aber es ist die Arbeit vieler Generationen, ihn zu überwinden. Die erste Phase, die Verdrängung, hast Du beschrieben, die zweite, den Versuch einer Klärung und den Beginn einer Bearbeitung, fällt schon den Kindern zu, in diesem Fall Dir, aber es geht immer weiter, und sechzig Jahre später gehen die Enkel in Therapien, die Mechanismen der "transgenerationellen Traumatisierung" werden beschrieben in ihren psychologischen und epigenetischen Komponenten. Wieviel Glück, wie lange Frieden sind nötig, um das alles aufzuheben? Wir arbeiten immer noch daran, jeden Tag, und inzwischen führen wir wieder Krieg, ohne es bewusst wahrzunehmen geschweige denn zu protestieren, kommt wohl etwas früh für die verwundeten Seelen.
Was Deine Geschichte auch berührt: die Lüge bindet und blockiert, der Widerspruch zwischen wahrnehmen und gesagt bekommen verhindert die Entwicklung der Lügner und der Belogenen, der Kinder. Deswegen ist dieser erste Schritt so wichtig, der die Lüge aufhebt, denn mit ihm wird die Entwicklung wieder möglich. So verstehe ich diese Geschichte.

Gruß Set

 

Hallo Setmenides,

man arbeitet auch nicht einen Krieg nach dem anderen ab, das potenziert sich. Es wäre interessant, en detail nachzuforschen und zu dokumentieren, wie der Dreißigjährige Krieg heute noch nachwirkt, welche Wirkungen Afghanistan, Kosovo u. a. haben, wie Fantasien über Krieg unser Leben gestalten: Kriegspielzeug für Kinder, Kriegsspiele am PC, Waffennarren, Strategiespiele ... Ist das Kriegsdenken die Matrix für unsere Gesellschaft? Krieg der Kulturen, Krieg der Götter?
Wann kommen die, die von Kriegen dominiert werden, zu der Sprachfindung der Wahrheit?
Vielen Dank für Deine Hinweise!
Herzliche Grüße
Wilhelm

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom