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El Chico - Der Junge
El Chico – Der Junge
Ich komme aus einer nicht sehr wohlhabenden Familie. Meine Eltern wollten aber immer mein Bestes und so gaben sie alles, um mir ein besseres Leben zu ermöglichen. Ich kann sie jetzt nicht enttäuschen indem ich mein Studium hinwerfe. Beide hatten mehrere Jobs um das alles möglich zu machen. Jedoch starb mein Vater vor wenigen Jahren, als ich gerade einmal 17 war, und meine Mutter verdiente nicht genug. Der Tod meines Vaters war der absolute Tiefpunkt in meinem Leben. Nachdem die letzten Ersparnisse aufgebraucht waren, zogen meine Mutter und ich in eine Villa Miseria, wie wir die Armenviertel in Buenos Aires nannten. Es war ein schwieriges Leben. Und so kam ich zum Entschluss in diesen Laden einzubrechen. Ich kannte einige „Geheimgänge“ durch die Villa. Der Laden lag zudem in einer dunklen Ecke und war damit fast perfekt. Als kleines Kind habe ich dort immer Süßigkeiten geklaut, aber ich glaube der Besitzer, Santiago heißt er, wenn ich mich richtig erinnere, hat nie wirklich versucht uns zu fassen. Er hatte Mitleid mit uns. Ich hing immer mit Kindern aus der Villa 31 ab, dem größten Armenviertel in Buenos Aires, da wir in der Nähe davon wohnten. Dadurch dachte er, ich käme ebenfalls von dort. Tatsächlich habe ich den Kindern manchmal Essen gegeben, da sie auch mir leid taten. Jedoch sind die Villa Miserias nicht mit den Favelas in Brasilien vergleichbar. Diese sind wesentlich größer und gefährlicher. Unsere Viertel sind mehr oder weniger einfach nur sehr arme Gegenden in den Großstädten Argentiniens.
Soweit ich weiß, war ich der einzige aus der Villa 31, der studierte. Allerdings war ich auch erst durch das Studium dort hingekommen. Die meisten in der Villa kamen aus anderen Länder Lateinamerikas, wie Paraguay oder Bolivien. Mein bester Freund Javier kam aus Córdoba, weiter westlich von Buenos Aires. Seine Eltern kamen aus Bolivien. Sie flohen Ende 1967 nach der missglückten Revolution und dem Tod ihres Anführers Che Guevara nach Argentinien um den Gräueltaten der bolivianischen Regierung zu entgehen. Ich habe ihnen gerne zugehört, wenn sie alte Geschichten über Che und die Tage als Guerilleros erzählten. Die beiden waren gerade einmal 22, als sie sich entschlossen zu kämpfen. Sie hatten jedoch durch ihre Flucht alles verloren. Ihr Haus, ihr Geld, ihre Freunde, ihr Zuhause. Bei dem Versuch ihre Heimat zu befreien, wurden sie ihr beraubt. Noch immer haben sie Angst vor ihrer Rückkehr oder dass Argentinien sie ausliefert; auch wenn wahrscheinlich niemand mehr weiß, dass sie damals an der Seite Ches kämpften. Jedoch befürchteten sie im Falle einer Festnahme eine Tötung durch die Polizei ohne ein Gerichtsverfahren und so blieben und lebten sie in den Armutsvierteln Buenos Aires.
Javier hat von der Flucht nichts mitbekommen. Er ist Argentinier, wurde in Córdoba im Sommer 1974 geboren, einige Tage nach Neujahr. Als wir beide noch jünger waren, haben wir ausgemacht, sollte einer von uns einmal reich werden, würde er den anderen mitnehmen. Raus aus dem elendigen Leben. Wir haben oft im Schatten der Hochhäuser zusammen Fußball gespielt. Meine Mutter meckerte mich immer an, wenn ich mal wieder eine Hose zerrissen hatte. Aber sie konnte mir nie lange böse sein. Er war der bessere von uns beiden. Ich verlor immer wieder gegen ihn. Allerdings war er auch stärker als ich. Einmal hatte er mich mal wieder etwas unsanft zu Fall gebracht und ich hatte mir dabei meinen Knöchel verstaucht. Wir konnten uns keinen Arzt leisten, also machte meine Mutter einen kleinen Verband darum und nur drei Tage später habe ich wieder Fussball gespielt. Fussball war das einzige, was uns für ein paar Stunden vergessen ließ, dass wir doch eigentlich in sehr armseligen Verhältnissen lebten.
Doch genug von mir und meiner Geschichte.
Ich ging also am immer wieder am Laden vorbei um ihn etwas auszuspähen. Allerdings wusste ich eigentlich alles Wichtige und jetzt wäre es sowieso zu spät gewesen. Unsicher war ich natürlich trotzdem; schließlich ist das mein erster und vermutlich letzter Einbruch. Auch wenn wir früher immer wieder von dort Süßigkeiten geklaut hatten, war dies jetzt etwas ganz anderes. Ich hatte immernoch ein mulmiges Gefühl bei allem, aber ich brauchte das Geld so unbedingt. Niemand wusste von der ganzen Sache, nicht mal mein bester Kumpel Javier, dem ich so gut wie alles erzähle. Immer wieder kamen mir Gedanken in den Kopf, was passieren könnte, wenn ich erwischt werden sollte. Doch nun war es eigentlich schon zu spät. Ich wurde nervös. Immer wieder schaute ich mich um, ob mich wirklich keiner sehen kann. Schließlich sammelte ich meinen Mut zusammen, zog meine Kapuze in mein Gesicht und ging über die Straße. Mein Herz raste und meine Hände schwitzten. Ich stand nun vor der Tür, nahm einen kleinen Draht aus meiner Jacke und stocherte zu Erst total nervös im Schlüsselloch herum. Nach ein paar Versuchen, in denen die Tür nicht auf ging, versuchte ich mich zu beruhigen. Und zu meiner Überaschung funktionierte das sogar recht gut. Mein Puls verlangsamte sich etwas und meine Hände wurden weniger schwitzig. Also probierte ich erneut die Ladentür zu öffnen. Ich stocherte diesmal etwas gekonnter und gelassener im Schlüsselloch und siehe da, es machte „klick“ und ich konnte die Tür endlich öffnen. Eine gefühlte Ewigkeit stand ich davor. Doch ich denke, mich hat keiner gesehen.
Langsam ging die Tür auf und ich trat vorsichtig in den Laden. Es hatte etwas Gruseliges und doch Faszinierendes in diesem dunklen Laden, wie der Mond durch die großen Fenster schimmerte. Ich genoß kurz dieses wunderschöne Bild. So unschuldig. Doch schlagartig fiel mir wieder ein, dass ich gerade hier eingebrochen war. Jetzt war es zu spät um einfach zu gehen. Ich schlich mich durch die Lebensmittelregale zur Ladentheke. Dort angekommen hörte ich plötzlich Stimmen von draußen. Ich erschrak. Mein Herz fing wieder an zu rasen. Die Nervösität kam zurück. Hastig suchte ich die Kasse. Aber ich fand sie nirgends. Hatte er sie ausgerechnet heute mitgenommen? Nein, das kann nicht sein. Irgendwo hier müsste sie sein. Ich schaute überall nach. Aber ich fand sie einfach nicht. Ich wurde immer nervöser. Dann fiel mir eine kleine Holztür im hinteren Bereich ein. Ich rüttelte an der Tür, doch auch sie schien abgeschlossen zu sein. Das musste ein gutes Zeichen sein. Also holte ich wieder meinen Draht raus und versuchte die Tür zu knacken. Doch ich war viel zu nervös und zitterte zu stark als dass ich es auch nur ansatzweise schaffen würde. Immer wieder stocherte ich im Schlüsselloch. Der Draht fiel mir mehrmals runter. Ich konnte jetzt nicht einfach so wieder abhauen. Ich war schon zu weit gegangen. Die Stimmen schienen lauter zu werden. Ich atmete einmal tief ein und versuchte es erneut. Doch auch diesmal ging die Tür nicht auf. Ich bekam Panik. Ich suchte nach etwas um die Tür aufzubrechen. Zurück im vorderen Bereich waren die Stimmen ganz laut zu hören. Ich versteckte mich hinter der Ladentheke und versuchte im Schutz der Dunkelheit zu beobachten, was vor dem Laden war. Ich konnte niemanden sehen. Vorsichtig ging ich nach vorne um mehr sehen zu können.
Und tatsächlich, ich konnte den Ursprung der Stimmen erkennen. Es waren ein paar Jugendliche die wohl etwas gefeiert hatten. Zumindest wirkten sie nicht sehr nüchtern. Ich wiegte mich in Sicherheit und suchte weiter nach einem Gegenstand für die Tür. Aber es schien nicht einen nützlichen Gegenstand im Laden zu geben. Also entschied ich mich, die Tür so aufzubrechen. Ich ging wieder zur Tür, nahm Anlauf und rammte sie. Sie brach durch und ich kam hart auf den Boden auf. Meine Schulter tat etwas weh. Allerdings dämpfte das Adrenalin den Schmerz. Ich stand auf und suchte weiter nach der Kasse. Und dann sah ich sie. Sie stand auf einem Regal in einem offenen Metallschrank. Ich ging zu ihr hin und nahm sie heraus. Soll ich die komplette Kasse mitnehmen oder nur das Geld? Ich versuchte die Kasse zu öffnen, doch es gelang mir nicht. Also entschied ich mich sie mitzunehmen. Ich klemmte sie mir möglichst unauffällig unter meine Jacke. Doch wie unauffällig konnte sowas schon sein. Ich dachte mir, so blöd kann doch keiner sein. Sowas erkennt man doch sofort. Aber mir blieb nichts anderes übrig, als sie so mitzunehmen.
Ich ging über die durchgebrochene Tür. Blieb jedoch an einer Kante hängen und fiel. Jetzt tat auch mein Knie weh. Als ich aufstand spürte ich wie mir Blut an meiner Hose klebt. Doch das war mir egal. Ich wollte nur noch aus dem Laden. Ich hörte wieder Stimmen. Aber diesmal sind es andere. Als ich gerade wieder nach vorne ging, sah ich am gegenüberliegenden Gebäude Licht einer Taschenlampe. Oh Nein! Das durfte jetzt nicht sein! War das Aufbrechen der Tür vielleicht doch zu laut? Ich hatte gar nicht an die Lautstärke gedacht. Ich drehte mich um und suchte im hinteren Bereich ein Fenster. Die Stimmen wurden lauter. Aber ich fand ein Fenster und öffnete es. Ich warf zu Erst die Kasse hindurch und versuchte dann mich nach oben zu hieven. Es war nur ein kleines Fenster im oberen Drittel der Wand. Als ich versuchte mich nach oben zu ziehen, rutschte ich ab. Wild schaute ich mich nach einem kleinen Hocker um. Doch ich fand keinen. Ich versuchte es nochmal. Und tatsächlich, diesmal klappte es und ich zog mich durch das Fenster. Ich passte gerade hindurch. Auf der anderen Seite fiel ich in ein Gebüsch, welches meinen Sturz etwas abdämpfte. Ich stand auf, richtete meine Jacke, nahm die Kasse und schaute nochmal in den Laden. Man konnte schon das Licht der Taschenlampe im Laden erkennen. Ohne weiter nachzudenken, lief ich los. Gerade nochmal gutgegangen.
Mein Weg führte mich durch dunkle, enge Gassen und dreckigen Hinterhöfen. Als ich mich langsam wieder meinem Haus näherte, sah ich Licht hinaus schimmern. Meine Mutter musste aufgewacht sein. Was mache ich jetzt? Mir fiel eine kleine Wiese in der Nähe ein. Dort sollte ich ungestört sein. Also lief ich weiter. An der Wiese angekommen, herrschte Ruhe. Lediglich der Wind, der durch die Blätter strich, und die gedämpften Geräusche der Stadt waren zu hören. Ich setzte mich in den mir in diesem Moment, so herrlich vorkommenden feuchten Rasen. Die Kasse legte ich neben mich. Beruhigt aber müde versuchte ich zum letzten Mal etwas zu knacken. Schon beim zweiten Versuch öffnete sich die Kasse. Langsam schob ich den Deckel nach oben. Ich war voller Vorfreude. Doch als die Kasse komplett geöffnet hatte, war ich total enttäuscht. Nur 2000 Pesos waren darin. Ich war wirklich enttäuscht. Davon könnte ich höchstens einen Monat weiterstudieren. Ich legte mich in die sanfte Wiese und dachte über die Situation nach. Nur 2000 Pesos. Das darf nicht wahr sein. Der Einbruch hat sich überhaupt nicht gelohnt. Im Gegenteil: Meine Situation hatte sich sogar verschlechtert. Es hatte sich nicht gelohnt und nun muss ich auch noch Angst haben, in den Knast zu kommen. Hätte es sich wenigstens gelohnt. Aber so?! Was soll jetzt nur aus dem Studium werden?! Und aus meiner Mutter?! Sie hatte so viel Energie und Hoffnung in mich gesetzt. Ihr Mann gestorben, ihr einziger Sohn im Knast. Das verkraftet sie nicht.
Ich holte etwas Gras und Zigarettenpapier aus meiner Jacke, drehte es zusammen, zündete es an und nahm einen tiefen Zug. So konnte ich mich immer entspannen, wenn ich gestresst war. Ich lag also im Gras, die gestohlene Kasse neben mir und versuchte zu entspannen. Einige Zeit verging und die Wirkung ließ ein wenig nach. Es wurde langsam wieder hell. Ich dachte nochmal über die Kasse nach. Das kann nicht sein, dass nur 2000 Pesos darin sind. Ich drehte mich zu ihr und betrachtete sie. Dann kam mir die Idee, vielleicht hat sie ja einen doppelten Boden. Also versuchte ich den Boden zu heben. Drehte die Kasse um und schüttelte sie. Nichts. Der Boden bewegte sich nicht einen Millimeter. Es waren tatsächlich nur 2000 Pesos. Die Sonne ging auf und die ersten Strahlen trafen meine Augen. Ich beschloss es dabei zu belassen und stand auf. Auf meinem Heimweg ging ich am Río de la Plata entlang und warf irgendwann unbeobachtet, die leere Kasse hinein. Es war noch etwas frisch, jedoch merkte man schon die Wärme der Sonne. Ich ging nach Hause.