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Eiswind
Ich lese das neongrüne Wort „Unimatio“ auf der elektronischen Anzeige über der Tür. Ich blicke das Wort, dass sich im Feld hin und bewegt, solange an, bis meine Augen anfangen zu brennen. Ich zupfe meine Haare zurecht, stapfe mit meinen Eskimoschuhen die schneeverwehten Stufen hinauf und trete ein.
Hunderte Schüler stehen im Gang zu zweit oder in Gruppen zusammen. Der Blick einiger Schüler huscht über mein Aussehen, von Scheitelpunkt bis zur Sohle, und flüstern hinter der vorgehaltenen Hand und beschäftigen sich wieder mit ihrem Spind. Keiner wagt es, laut zu reden. Alle Schüler unterhalten sich flüsternd, weshalb ein leises Summen in der Luft schwingt. Ich stehe da und komme mir viel zu klein vor. Die Schüler holen rasch Brillen und technische Geräte aus den Spinden. Ich zucke zusammen, weil ein Spind in der Erde verschwindet und nur eine Stange zurück bleibt und der nächste Schüler die Stange antippt und wieder ein Spind nach oben rauscht. So etwas habe ich noch nie gesehen und auch nicht so viele Menschen auf einem Gang. Trotz des geringen Lärmes, bedrückt mich die Enge und die Geräusche und ich dränge mich so schnell wie möglich zwischen den Körpern hindurch, bis ich zu der nächsten elektronischen Tafel ankomme. „Sekretariat“. Ich trete ein.
„Setzen Sie sich auf den Stuhl“, schrillt die Frau hinter der Theke. Ihr Finger zeigt auf den einzigen freien Stuhl. Vorsichtig setze ich mich auf den Stuhl neben einem Typen, dessen tiefschwarze, lange Haare in sein Gesicht fallen und nur sein Kinn heraus lugt. Aus dem Haargesicht kommt ein leises „Hallo“, aber ich war mir nicht ganz sicher, ob ich es mir nicht eingebildet habe. Mir gegenüber sitzt ein blonder Junge mit eisblauen Augen. Ich fing an, auf dem Stuhl hin und her zu rutschen. Der Junge betrachtet mich kurz und wendet sich mit einem Stirnrunzel von mir ab. Meine Wangen fangen an zu glühen und ich senke meinen Blick, um auf den Boden zu starren. Die Tür vom Flur öffnet sich und lilafarbene Turnschuhe huschen über den Boden. Ich blicke nach oben. Ein Mädchen mit roten Locken und bauchfreiem Top. Am liebsten hätte ich in diesem Moment die Stirn gerunzelt und gesagt, „Sind es nicht Minus drei Grad? „. Ich bin irritiert. Sie hat meinen verdutzten Blick bemerkt und zwinkert mir zu. Schnell blicke ich wieder auf den Boden. Die Sekretärin summt: „Babsy warum sind sie denn schon wieder hier?“. „Sie wissen doch meine Eltern!“. Ich schiele nach oben und sehe wie sie ihre Augen hin und her rollt. „ Der Stuhl wird gleich frei“, und ihre Greifer zeigen auf den Stuhl mit dem langhaarigen Typ. „ Ferdinand Roller bitte“, kreischt sie und lächelt Babsy an. „Wird es wohl Ferdinand Roller!“ .Hektisch schultert er seinen Rucksack und schleicht in das Zimmer mit den elektronischen Ziffern „Direktor“. Die Babsy lässt sich auf den freien Platz neben mich plumpsen und wippt mit dem Fuß auf und ab. „He bist du neu?“. Ich ignoriere ihre Worte und starre weiter auf den Boden. Sie beugt sich weit nach vorne, sodass ihr weißes Gesicht vor mir auftaucht. „He, ich meine dich!“, sie grinst breit „Noch ein bisschen schüchtern, was? Das legt sich bald, glaub mir“, dabei tätschelt sie meinen Rücken. Ich richte mich gerade auf und starre sie an. „He Brutos, Haare wieder geschniegelt und gelackt, siehst wie aus dem Playboy aus“, und zieht eine Ecke einer Zeitschrift aus einer regenbogenfarbenen, glitzernden Tasche. Sie kichert. Die Sekretärin blickt mit verengten Augen auf, die Weichheit blitz davon „ Fräulein Tieftal, beherrschen sie sich oder ich muss..“, die Sekretärin lässt eine Stille entstehen, in der die Luft zu bröckeln beginnt. Babsy Tieftal zuckt die Schulter. Der Blonde zischt „Wer hat den heute noch Locken? Wohl kein Geld für Proxmox?“ Zufrieden lehnt sich der Junge nach hinten und genießt seine Worte. Er starrt sie mit seinen eisblauen Augen an und wartet. „Ich…“, beginnt Babsy und wird von einem harschen „ Geh jetzt zum Schulleiter oder ich muss…“, wieder lässt die Sekretärin den Satz in der Luft hängen. „ Tschüßii“, sagt sie zu mir, während sie sich umdreht, neben den Blonden hüpft, ihre Hand hebt , einen Kussmund macht und ein Klick ertönt, und der Blonde zischt ihr hinterher, dass wird ein Nachspiel haben. Der Ferdinand kommt aus der Tür geschlürft, die Haare hängen noch tiefer in seinem Gesicht. Er legt ein Blatt auf dem Tresen und die Sekretärin grabscht sich das Schreiben und kreischt „Ferdinand Roller was haben wir denn da?! Aha, hmm aha. Sie gehen erst einmal von der Schule, weil ihre Muutter sie von zuhause unterrichten möchte, weil sie nicht die entsprechenden Leistungen errrbringen. Ein Versager auf der ganzen Linie!“. Ein Wutklos bildet in meiner Kehle, was fällt dieser Frau ein? Ich habe noch nie gesehen wie ein Mensch so gemein sein kann. Doch ich wusste, dass ich am ersten Tag noch nichts riskieren darf. Die Frau fing an, entschlossen auf ein leuchtendes Gebilde in der Luft herum zu drücken, es sah aus wie eine Tastatur, aber ich war mir nicht sicher. „ Was stehen sie noch so herum? Sie sind entlassen“, bellt sie Ferdinand an. Ferdinand schlürft nach draußen. In mir wütet ein Orkan, der wild in meinen Bauch schlingert. Ich habe das Gefühl, mich gleich übergeben zu müssen.
Die unangenehme Stille, die sich nach Ferdinands Abgang, ausbreitet, macht es nicht viel erträglicher. Nur das Klappern der Ketten der Sekretärin war zu hören, die weiterhin energische Handbewegungen in der Luft macht. Nach einer Weile wird der Blonde aufgerufen und Babsy hüpft aus der Tür des Direktors heraus. Sie beugt sich weit über die Theke und schiebt mit der verdeckten Hand etwas über den Schreibtisch der Sekretärin: „ Eine kleine Aufmerksamkeit“, sagt Babsy. „Aber doch nicht hier“, zischt die Sekretärin mit einem Blick zu einer Glaskugel an der Deckenecke. Gleichzeitig breitet sich ein schmallippiges Lächeln über das Gesicht der Frau aus. „Danke“, flüstert sie. Und schiebt das Etwas unter den Tisch. „Gern geschehen“, flüstert Babsy zurück und verschwindet aus den Raum. Die Sekretärin verschwindet hinter einer anderen Tür. Stille. Mein Magen beruhigt sich und kommt zum Stillstand. Die digitale Uhr an der Wand sagt mir, dass Mikrobiologie schon begonnen hat. Ich schaue mich genauer um, doch dann springt die Tür des Schulleiters auf und ein wütender, blonder Junge kommt heraus gestürmt. Sein langer Mantel weht hinter ihm her, als er an mir vorbei rauscht. „Das kann ja heiter werden“, murmele ich. „ Venatia Flose“, ertönt es aus den Zimmer des Schulleiters.
Die Tür ist weit geöffnet, doch es ist dunkel in dem dahinter liegenden Zimmer und ich kann nichts weiteres erkennen. Erst ich durch die Tür getreten bin, ein Windzug und Licht flutet das Zimmer. Das muss doch ein Trick sein, dachte ich. Doch ich hatte keine weitere Zeit, den Gedanken weiter zu denken, denn der Mann hinter dem Schreibtisch hat eisblaue Augen und blondes Haar. Scheint sein Vater zu sein, denke ich. „Setze dich Venatia!“. Seine Stimme erfüllt jede Ecke des Raumes. Es ist sein Reich. Ich setze mich und warte darauf, dass er etwas sagt. Der Schulleiter wischt auf einem Lichtbild in der Luft herum, doch auf kontrollierte und genau überlegte Art und Weise. Hinter ihm liegen Glaswände, die einen weitläufigen Blick auf die Stadt ermöglichen. Ich bin verwirrt. Sind wir nicht im ersten Stock? Der Ausblick lässt vermuten, dass wir uns mindestens im zehnten Stock befinden. „Du kommst aus Grönland, aus der Siedlung Siorapaluk, richtig?“, sagt der Schulleiter und starrt mich an. Ich nicke. „Das war bestimmt eine nette Erfahrung, aber das ist hier vorbei. Hier geht es darum Leistung zu zeigen.“ Weiterhin wischt er auf dem Lichtbild herum, ohne mich anzuschauen. „Hier geht es darum, gute Noten und gutes Benehmen zu beweisen und damit zu zeigen, dass du ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft bist. Hast du das verstanden?“. Er starrt mich wieder an. „Verstanden“, antworte ich heiser. Er überreicht mir ein graues Buch. „In diesem Buch stehen alle Regeln der Schule. Lies es sorgfältig und genau. Solltest du auf die Idee kommen, eine davon zu brechen, werden wir uns schnell wieder sehen und sie werden umgehend entlassen “. Er blickt mich mit seinen eisblauen Augen an. „Verstanden“, bekräftige ich seine Aussage. „Sie können gehen“. Der Direktor tippt Bildpunkte in der Luft an und beachtet mich nicht weiter. Wütend stopfe ich das Buch in meine Tasche und verschwinde aus dem Zimmer. Ich drehe mich noch einmal um, jedoch hat mich schon ein Vorhang der Dunkelheit eingehüllt und lässt mir keine Möglichkeit in das Innere des Zimmers zu schauen. Die Dunkelheit und die Stille erinnern mich an meiner Heimat. An Grönland. Meine Mutter und ich sind aus Grönland geflohen, weil wir dort nicht mehr sicher waren. Einst war es der sicherste Platz auf Erden, verschont von Gammarobotern, die die Kälte nicht vertrugen. Doch der Überlebenskampf im meinen Dorf wurde immer härter, weil die Eiszapfen immer länger wurden und die Sonne immer mehr ausblieb. Deshalb entschloss meine Mutter zu gehen. Doch in der Zeit, in der ich, meine Mutter und meine Gemeinschaft gegen immer schärfere Winde und Kälte kämpfen mussten, haben sich die Menschen hier zu einer größeren Bedrohung entwickelt, als es je ein Sturmwind sein wird. Der Überlebenskampf ist noch nicht vorüber, dass erkenne ich in diesem Moment. Eine kreischende Stimme dringt in meinen Kokon von Gedanken vor. „Venatia, bist du taub? Kommen Sie wohl aus dem Korridor?“. Ein Windzug und ich trete in grelles Licht ein. Die Sekretärin schnippt eine Karte über die Theke. Dann lehnt sie sich zurück und schließt die Augen. Ich hatte keine Lust, noch an der gleichen Stelle zu stehen, wenn sie ihre Augen wieder öffnet. Deswegen flüchte ich schnell aus dem Zimmer. Ich blicke auf die Karte in meiner Hand und lese Venatia Flose - Stämmig: Siorapalukin in der Obhut der Schule“ Unimatio“ in der Stadt New Hamm.