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Eiskalter Tod
Ihre Füße berühren kaum den Boden. So scheint es jedenfalls, denn sie hinterlässt nur eine schwer erkennbare Spur im weißen weichen Schnee. Neuschnee. Und es schneit immer noch. Schneeweiße, dicke, eiskalte Eiskristalle.
Sie bleibt für einen kurzen Moment stehen und streckt ihre zierliche, schon fast zerbrechlich wirkende blasse Hand aus.
Eine Schneeflocke berührt sie und bleibt liegen, aber schmilzt nur sehr langsam, so als ob die Hand keinerlei Wärme enthalten würde.
Die junge Frau zieht die Hand zu sich heran und hält sie dicht vor ihr schmales bleiches schönes Gesicht, damit sie die Eiskristalle besser betrachten kann.
Ihre großen dunklen Augen starren das weiße Etwas wie gebannt und voller Faszination an.
Schmale zarte, fast durchsichtige, unsichtbar wirkende zerbrechliche Balken sind zu einem wunderschönen und doch gleichzeitig auch verwirrenden Muster zusammengefügt.
Niemand wird diese Schneeflocke je verstehen und ergründen können, denkt sie, niemand.
Sie spitzt ihre Lippen, die wie geschminkt aussehen - blau - und bläst dann vorsichtig auf ihre Hand.
In einer Seelenruhe, in der keine Eile und Hektik bemerkbar ist. Und doch muss sie weiter, genauso schnell, wie die Schneeflocke auf ihrer Hand schmilzt, bis nur noch eine kleine Wasserpfütze übrig bleibt. Sie lacht.
Das ist wie Zauberei!
Langsam neigt sie ihren Kopf und leckt den Tropfen mit der Zunge auf.
Zufrieden schließt sie die Augen und zieht die eiskalte klare Nachtluft in sich auf.
Pumpt ihre Lungen damit voll, bis sie fast platzen, findet sie.
Es tut weh, aber das ist gut, alles was weh tut ist gut!
Die Kälte, die durch die Luft in ihren Körper gedrungen ist, tastet sich langsam vor. Erst packt die eiskalte Hand ihre Lungen und will sie zerdrücken und auffressen, aber noch kann sich die Frau wehren - noch.
Aber die kalte Hand weiß:
Nicht mehr lange!
Und so greift sie um sich, die langen Finger schlängeln sich durch ihren Körper, tasten sich immer schneller vorwärts, winden sich wie in einem entsetzlichen Rausch durch die Blutbahnen, durch jede einzelne Röhre, die sie finden können.
Sie wollen alles beherrschen, alles in Besitz nehmen - alles.
Und sie rennt und rennt.
Ihr Atem rasselt und geht unregelmäßig.
Sie spürt die Kälte kaum, die ihren Körper versucht einzunehmen. Sie kann sich noch widersetzen.
Aber nicht mehr lange - nicht mehr lange.
Schnell! Schießt es ihr durch den Kopf, der sich zum Himmel erhebt.
Aber dort, wo sonst der Mond steht, ist nun die Kirchturmuhr zu sehen.
Noch zwei Minuten.
Bis Mitternacht muss sie es geschafft haben.
Das ist die Zeit, in der es keine Zeit mehr gibt.
0.00 Uhr. Das ist der Augenblick der zeitlos ist.
Bis dahin muss sie es geschafft haben!
Trotzdem dreht sie sich noch einmal kurz um.
Ja, ihre Spur ist wirklich fast unsichtbar.
Sie wirkt wie ein vergängliches Merkmal ihres Daseins.
Ein linker und ein rechter Fuß folgen in unregelmäßigen Abständen aufeinander.
Sie hinkt, das fällt ihr jetzt erst auf.
Wahrscheinlich hat sie sich den Fuß vertreten und wie zur Bestätigung spürt sie plötzlich einen schmerzhaften Stich in ihrem Gehirn, der von ihrem rechten Fuß ausgesendet wird.
Eigentlich spürt sie gar nichts mehr in ihren Füßen, in den fünf Zehen, die dort ihm Schnee so gut sichtbar und doch fast nicht zu erkennen sind.
Eine pelzige gleichgültige Taubheit hat sich in ihren nackten Füßen breit gemacht.
Genau wie in ihrem Kopf damals vor zwei Jahren.
Aber das ist nicht irgendetwas gewesen, nichts vorübergehendes, das ist dauerhaft auf Besuch gekommen.
Diese Taubheit damals hat sich in ihrem Gehirn eingenistet, im schönen warmen Hörzentrum.
Und dort ist sie geblieben, die Taubheit, ihr Blinderpassagier, der sie nun schon seit zwei Jahren begleitet.
Aber ein Mal verlässt sie ihr warmes Nest, ein Mal jedes Jahr.
Und zwar genau an dem Tag, an dem sie angeklopft und um eine Unterkunft gebeten hat.
Es wäre so kalt, so kalt und niemand wolle sie, wolle sie.
Sie hat sich überreden lassen und aufgemacht und nun lebt sie da und scheinbar geht es ihr gut, denn sie geht nicht mehr - nur ein Mal. Und das ist heute!
Ihr langes weißes dünnes Nachthemd umweht ihren schlanken Körper.
Alles scheint unecht an dieser Szene, in der genau eineinhalb Minuten vor Mitternacht die junge Frau mit dem langen schwarzen Haar, das wie Ebenholz aussieht und hinter ihr her weht und den Lippen, die so blau sind, wie das mit Kohlenstoffdioxid angereicherte Blut in den Venen, rasch die lange Wendeltreppe im Kirchturm empor eilt.
Schnell, schnell, schnell, pocht es in ihrem Kopf und sie hat keine Ahnung, ob das ihr Herz, oder ihre Gedanken sind. Sie weiß nur, dass es gleich zu spät ist.
Endlich überspringt sie die letzte Stufe und steht oben. Mitten in einem Spinnennetz aus riesigen Zahnrädern in einem gigantischen Uhrwerk.
Und dort hinter diesem ganzen undurchdringbaren Gewirre sieht sie ES - das Fenster.
Genau das gleiche, aus dem sich vor zwei Jahren ihr Ich gestürzt hat.
Damals ist sie noch sie selbst gewesen. Jedenfalls noch fast. Heute ist sie nichts mehr.
Eigentlich ist sie seit damals nie mehr etwas gewesen.
Vor genau zwei Jahren hat sie genau wie jetzt erst ihren rechten Fuß auf das Fensterbrett gesetzt (irgendwie hat sie sich wohl bis hier her durch das Uhrwerk gekämpft). Allerdings mit einem Unterschied, diesmal spürt sie einen leichten Schmerz in ihrem Fuß.
Aber Schmerzen sind, wie schon gesagt, gut. Um genau zu sein, sehr gut sogar. Schmerzen sind das Einzige, was sie HÖRT und Liebe, aber Liebe ist nur ein Wort für sie, ein kalter lebloser Begriff.
Was er bedeutet weiß sie schon lange nicht mehr.
Nein, eigentlich ist das falsch, damals vor zwei Jahren hat sie noch einmal ganz kurz erfahren was Liebe ist.
Sie tastet mit ihren Händen nacht Halt.
Ah ja, da ist die Kerbe, an der sie sich schon damals festgehalten hat und damals, wie auch heute hochzieht und den linken Fuß neben den rechten setzt.
Im Hintergrund spürt sie richtiggehend das gleichmäßige Malmen der Zahnräder und wie es immer schneller und stärker wird.
Alles bereitet sich auf DEN Augenblick vor, auf Mitternacht.
Damals hat er dort unten gestanden, er war ihr nachgerannt, keine Ahnung woher er das gewusst hat. Sie weiß nur, dass er angerannt gekommen ist.
ER, genau der, wegen dem sie sich vor zwei Jahren hat umbringen wollen, weil sie doch dachte er würde sie nicht lieben.
Wie albern, denkt sie heute.
Und dann hat er sich damals unter sie geschmissen, als sie gesprungen ist und das mit seinem eigenen Leben bezahlt und wie durch ein Wunder hat sie dadurch überlebt und nur ihr Gehör eingebüßt.
Ja, damals hat sie vor der Tür gestanden, ihr Blinderpassagier, die Taubheit und hat angeklopft:
"Mach auf!"
Und das letzte, was sie gehört hat, war die Kirchturmuhr gewesen - der 12. Schlag und wie er verklungen ist und die Totenstille danach, der Augenblick 0.00 Uhr, in den sich zwei Schreie eingemischt und sich mit ihm vereinigt haben.
Sie steht da, auf dem Fensterbrett und lässt ihren Blick zum letzten Mal über die Dächer der dunklen Stadt gleiten - alles genau wie damals.
Aber nicht alles, denkt sie dann, heute steht dort unten keiner und fängt dich auf.
Ihr dünnes schneeweißes Nachthemd und die schwarzen Haare, die wie Ebenholz aussehen, umspielen in der kalten klaren Nachtluft ihren schmalen Schatten im Kirchturmfenster, der weit über die ganze Stadt hin sichtbar ist.
Doch keiner sieht sie.
Niemand schaut hin.
Keiner bemerkt, was genau in diesem Augenblick passiert.
Das silberne Licht des Mondes fällt zum aller letzten Mal auf ihr schönes glattes Gesicht, mit dem klaren Ausdruck, den großen dunklen Augen und den schmalen bläulichen Lippen.
Dann ist es so weit.
Sie spürt, wie der erste Glockenschlag seine Schwingungen aussendet und ihren Körper erfüllt und sich mit rasender Geschwindigkeit zusammen mit der Kälte in ihm ausbreitet.
Der zweite Schlag.
Ihr Körper erbebt. Sie schließt die Augen. Alles in ihr ist angespannt, vom kleinen Zeh, bis in die letzte Haarwurzel.
Langsam bewegen sich ihre Lippen in einer unendlichen Stille und Ruhe, die keiner mehr zu durchbrechen vermag.
Drei, vier, fünf ...
ihr Herz rast, schneller und schneller, schneller.
Die Zeit rast, alles dreht sich...
Sechs, sieben, acht ...
sie spürt das Pulsieren des Lebens in sich - noch
... noch ...
Neun, zehn, elf ...
und gleich ist er da, der Schlag, den sie hören wird, den sie vor einem Jahr auch gehört hat.
Es ist der Zeitpunkt, an dem die Taubheit kurz ihr warmes Nest verlässt und ausfliegt, ganz kurz, aber das reicht ihr schon, das reicht schon, dieser kurze Augenblick.
Und dann schlägt es
ZWÖLF!
Ein kräftiger lauter Schlag, der durch ihren ganzen Körper fährt, wie ein stechender Schmerz, bis in ihr Gehirn, der alles bersten lässt.
Sie HÖRT ihn! So deutlich, wie damals vor zwei Jahren und auch wie letztes Jahr.
Die Zeit ist gekommen und noch ehe er verklungen ist, stoßen sich ihre schmalen Füße, die sie eigentlich gar nicht mehr spürt, ab.
Nun hinterlässt sie wirklich keine Spuren mehr.
Nur einen lauten Schrei, der die geräuschlose Nacht erfüllt und sich zu der Stille des Augenblicks 0.00 Uhr gesellt und mit ihr verschmilzt.
Sie HÖRT sich.
Sie hört sich zum aller aller letzten Mal in ihrem kurzen Leben. Und das wollte sie auch, sie wollte nicht nur den Schmerz des Aufpralls hören, sie wollte auch ihren Schrei hören.
Sie wollte ALLES hören!
[ 16-04-2002, 19:44: Beitrag editiert von: spinne1010 ]