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Eiskalt
Das Geräusch, das die Zentralverriegelung des alten Saab 9000 von sich gibt, ist träge – das widerwillige Knurren eines in seinem Winterschlaf gestörten Tiers. Mit einem kräftigen Ruck reißt Lars die angefrorene Fahrertür auf und schlüpft ins Innere. Einen Augenblick verharrt er in der stillen Dunkelheit. Sein Gesicht brennt von der Kälte. Die Zehen in den schweren Winterstiefeln schmerzen. Er schaltet die Innenraumbeleuchtung ein, überlegt kurz, sich eine Zigarette anzustecken, entscheidet sich jedoch dagegen. In Stalingrad haben sie auch geraucht wie die Schlote, schießt es ihm durch den Kopf. Er weiß nicht, woher dieser Satz kommt – ob er überhaupt stimmt. „In Stalingrad haben sie auch geraucht wie die Schlote“, sagt er zu sich selbst. Seine Stimme klingt trocken, irgendwie unecht.
Er entledigt sich der dicken Fäustlinge, öffnet das Handschuhfach, greift hinein, angelt nach dem, was er schon vor einigen Tagen dort deponiert hat. Der Griff der Makarow ist eiskalt. Lars hat keinen Zweifel, dass sie trotz des Frostes einwandfrei funktionieren wird. Zuverlässige russische Wertarbeit. Was man im Internet nicht alles bekommt.
Das Teil war sogar billiger als der Wagen. Er hätte auch den Golf für die Hälfte haben können. Wahrscheinlich wäre das die klügere Wahl gewesen, aber er wollte schon immer mal ein skandinavisches Auto fahren und wenn nur für eine Nacht.
Die Erde des unbefestigten Wegs ist gefroren. Der Saab wippt auf und ab. Lars hält das Lenkrad mit beiden Händen, die Augen auf den Lichtkegel gerichtet, den die Frontscheinwerfer in das Dunkel des nächtlichen Waldes schneiden.
Er hätte den Wagen irgendwo in der Stadt abstellen können. Es hätte vermutlich keinen großen Unterschied gemacht. Aber sicher ist sicher. Alle Risiken, die sich minimieren lassen, sollte man minimieren. Aus Selbstsicherheit geborene Nachlässigkeit, das weiß er, ist es meist, die solche Pläne am Ende doch scheitern lässt. „Den Son of Sam haben sie gekriegt, weil er zu nahe an einem Hydranten geparkt hatte“, sagt er in seiner In-Stalingrad-haben-sie-geraucht-wie-die-Schlote-Stimme und grinst ein freudloses Grinsen.
Der Tageskilometerzähler, den er vor der Abfahrt auf Null gesetzt hat, zeigt an, dass er bereits sieben Kilometer zurückgelegt hat. Noch zwei, dann sollte er an die Kreuzung kommen. Dort geht es nach links. Nach weiteren dreieinhalb Kilometern wieder links. Dann nochmal acht geradeaus.
Lars ist den Weg noch nie gefahren. Er hat ihn herausgesucht und auswendig gelernt. Hat sich keine Notizen gemacht. Keine vermeidbaren Risiken. Keine Hydranten.
Die letzten anderthalb Kilometer fährt er mit ausgeschaltem Licht. Es ist eine sternenklare Nacht, der Mond beinahe voll.
Lars parkt den Wagen am Rand der breiten Landstraße. Auf den kahlen Äckern zu beiden Seiten glitzern winzige Eiskristalle.
Jetzt zündet er sich eine Zigarette an. Er hatte erwartet, dass seine Hände zittern würden. Sie sind ganz ruhig. Er inhaliert den Rauch, stößt ihn durch die Nase aus.
In dem Haus ein Stück die Straße hinunter brennt noch Licht. Das ist gut. Er ist noch wach. Das Monster, das vier junge Frauen vergewaltigt und umgebracht hat, ist noch wach. Lars nimmt einen tiefen Zug. Die Spitze der Zigarette funkelt orangerot auf. Drei junge Frauen, korrigiert er sich in Gedanken. Es waren drei junge Frauen und ein Kind! Sein letztes Opfer war gerade einmal fünfzehn Jahre alt gewesen.
Die erste vor zwei Jahren, eine letztes Jahr, dieses zwei. Mit der Zeit werden sie gierig. Lars bläst einen dünnen Rauchstrahl gegen die Frontscheibe, auf der bereits Eisblumen zu sprießen beginnen. Aber mit der Gier kommt die Nachlässigkeit.
Jedes Mal war es in einem öffentlichen Park gewesen. Jedes Mal zur Wintersonnenwende. Er hatte seinen Opfern aufgelauert, sie in ein Gebüsch gezerrt. Nachdem er mit ihnen fertig war, hatte er sie gefesselt, geknebelt und mit Wasser übergossen. In allen drei Wintersonnenwendnächten hatten die Temperaturen im zweistelligen Minusbereich gelegen. Vielleicht haben sie noch eine Stunde gelebt. Auf keinen Fall zwei. Ein entsetzlicher Gedanke. Auf keinen Fall zwei. Er schaut zu dem Haus. „Dein Fehler war, dass du gierig geworden bist.“ Diesmal ist seine Stimme alles andere als monoton. „Ein Park in einer Nacht pro Jahr – gut. Aber zwei …“ Er drückt die Zigarette auf dem Armaturenbrett aus. „Zwei sind ein Hydrant!“
Die Hände in den Taschen des Mantels vergraben, geht er neben der Straße entlang auf das Haus zu. Die Fäustlinge hat er im Wagen gelassen. Mit der Rechten umfasst er den Griff der Makarow. Jetzt ist er warm.
Obwohl keine einzige Wolke am Himmel zu sehen ist, schweben feine Polarschneeflocken durch die eisige Mitternachtsluft.
Ein kurzer Schotterweg führt von der Straße zu dem Haus. Lars erkennt den darauf geparkten Wagen, den Wagen, der in jener Nacht auf den Parkplätzen beider Parks stand. Er zieht die Pistole aus der Tasche, lädt sie durch und löst die Sicherung.
Der Kies knirscht unter den Stiefeln.
Es gibt keine Klingel, also schlägt Lars mit dem Knauf der Waffe gegen die weiß lackierte Tür. Er atmet die kalte Luft, horcht. Schritte.
Die Tür öffnet sich. Vor ihm steht ein Mann Mitte dreißig, glattrasiert, das Haar ordentlich geschnitten. Bevor einer von beiden etwas sagen kann, hebt Lars den Arm und drückt ab. Einen grotesken Augenblick lang hält der Körper des Mannes das Gleichgewicht, wankt wie ein Betrunkener leicht vor, zurück und sackt endlich mit einem lächerlich profanen Geräusch in sich zusammen.
Lars dreht sich um und geht zurück in Richtung des Saabs. Er hat neun, vielleicht zehn Stunden, um Wagen und Waffe loszuwerden, nach Hause zu laufen, zu duschen, vielleicht ein wenig zu schlafen. Neun oder zehn Stunden, bevor er wieder hier sein muss, um mit seinen Kollegen die offiziellen Ermittlungen in diesem Fall fortzusetzten.