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Eisig
Eisig
Auf dem Weg zurück zu Mara stopfe ich die Hände tief in die Taschen. Ganz unten krampft sich meine Hand um die beiden Stücke Papier.
Mara wird schon auf mich warten. Heute bin ich spät. Aber ich kann nichts dafür. Er hat mich so lange aufgehalten. Und der Weg ist so weit. Als ich in seinen Wagen gestiegen bin, habe ich nicht gewusst, wie weit wir fahren. Jetzt muss ich zu Fuß zurück und meine Wangen sind schon taub vom eisigen Wind. Laufen kann ich kaum, denn die Schmerzen sitzen tief. Aber es ist zu kalt zum Stehenbleiben.
Ich habe nicht damit gerechnet, dass es friert, heute Nacht. Aber eigentlich habe ich mit überhaupt nichts von dem gerechnet, was heute geschehen ist. Ich möchte heute Nacht nicht bei mir gewesen sein. Aber ich bin. Jetzt möchte ich es wenigstens vergessen.
Als ich über den Dorfplatz gehe, dicht an den Häusern entlang, unter den erleuchteten Fenstern hindurch, spielt irgendwo ein Radio. Steif und kalt kauere ich mich in eine Hofeinfahrt und lausche. Musik ganz ohne Sorgen. Anders, als die Lieder, die wir Kinder auf der Straße singen.
Aber schon nach Minuten ist mir klar, dass ich schnell zurück zu Mara muss. Wenn sie wütend ist, wird sie mir meinen Anteil nicht geben. Und ich brauche das Geld. Meine Finger krampfen sich wieder um die beiden Scheine in meiner Tasche.
Zwanzig Euro. So viel hat noch keiner bezahlt. Aber ich will nicht an ihn denken. Ich will schnell zu Mara. Dann gibt sie mir ein paar Münzen und ich kann mich noch einen Moment aufwärmen. Ich will an nichts mehr denken. So viel habe ich noch bei keinem bezahlt.
Als ich in die Gasse einbiege, in der ich Mara treffen werde, frage ich mich, ob sie es gewusst hat. Aber vielleicht auch nicht. Sie kennt die Männer ja nicht. Weiß nur, was sie ihr sagen. Bringt, wonach sie fragen.
Immerhin hatte er ein Zimmer. In einem kleinen Hotel, und es war warm. Und für zwei Stunden musste ich nicht frieren. Jedes Mal, wenn sie die Kamera zücken, wird mir übel. Aber dann denke ich ganz fest an das Geld und die Wärme und dann geht es vorüber.
Aber diesmal war es anders. Zuerst wie immer, aber dann war er plötzlich bei mir. Zu nah. Zuerst habe ich versucht, die Schmerzen einfach zu ertragen, an das Geld zu denken und an die Wärme und so zu tun, als wäre ich nicht da. Aber am Ende ging es nicht mehr und ich habe geschrien. Er hat sich nicht gekümmert. Und niemand sonst hat mich gehört. Dann ist er aufgestanden und hat mir einen Schein gegeben. Und dann, mit einem Lächeln, als hätte ich Geburtstag, noch einen.
Was mich wütend macht, ist die Tatsache, dass sie mehr für Benzin bezahlen, um herzukommen. Das sagt Mara, wenn ich ihr nicht genug Scheine bringe. Wahrscheinlich hat sie Recht.
Wie immer sitzt sie in ihrem VW-Bus. Nie lange am selben Ort. Außer uns weiß niemand, wo er sie suchen soll. Wen ich sehen will, den finde ich, sagt sie. Und wir Kinder glauben, dass das eine Drohung ist. Eine Warnung, nicht zu verschwinden. Aber wohin sollte ich auch?
Steif klettere ich in den Bus. Hier drinnen ist es ein kleines bisschen wärmer, als auf der Straße. Aber auch hier kann ich meinen Atem sehen. Und nur Sekunden später hält Mara mir die ausgestreckte Hand entgegen.
Ich lege die Scheine hinein. Ein anerkennendes Nicken, noch hat sie mich nicht angesehen. "Du bist spät", sie stellt es nur festgestellt, aber ich muss mich verteidigen.
"Er hat so lange gebraucht", meine Stimme klingt ganz heiser, nach dem Schreien.
"Hast du ihm gesagt, dass du elf bist?" Ich nicke nur. Seit vier Wochen bin ich zwölf, aber Mara besteht darauf, dass ich ihnen sage, ich wäre elf. Ich habe ein wenig Hoffnung, dass sie etwas gegen die Schmerzen tun kann. Oder mir wenigstens helfen kann, zu vergessen. Sie kramt in ihrer Tasche und gibt mir ein paar Münzen. Gleich werde ich auf der Straße stehen und sie weiß nicht, dass ich Hilfe brauche.
"Er wollte mehr", jetzt kann ich nur noch flüstern. Aber endlich sieht Mara mich an.
"Hast du ihm gesagt, dass es dein erstes Mal war?" Ich kann nur den Kopf schütteln. Aber sie hat verstanden. Und jetzt, bitte, gib mir irgendwas. Stattdessen öffnete sie unter Kopfschütteln die Tür des Busses und bedeutete mir, auszusteigen.
"Dumme Gans! Er hätte bestimmt das Doppelte bezahlt!"