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- Anmerkungen zum Text
Ich bin mir noch unsicher, wann ich einen Zeilenumbruch, bzw. einen ganzen Absatz einfügen soll. Es wäre nett, wenn ihr mir auch da helfen könnt. :-)
Eiseskälte
„Halt die Fresse!“, schreie ich, „komm mir bloß nicht näher!“ Das Blut schießt in meine Wangen, die Verzweiflung ist verschwunden. Nun ist es Wut, die durch die Tiefen meiner Selbst zum Leben erweckt wird. Der Muskel, der meinen Geist aufrecht hält scheint nur so vor Kraft zu strotzen. Wie ein unbändiger Hengst galoppiert er in meiner Brust. Die Zügel sind strapaziert, spröde von der Last dieser gottverdammten Welt. Seichter Nebel umzingelt die grauen Hochhäuser der Stadt, als wolle er die Wildnis zurückerobern. Einzelne Sonnenstrahlen lassen den nassen Asphalt glitzern, die noch kürzlich herrschende Nacht gerät in Vergessenheit. Antennen der starren Giganten ragen in die Unendlichkeit der Lüfte. Über alles wollen sie herrschen, großkotzige Banditen, auch wenn sie sich damit selbst einzäunen, die Freiheit aussperren und sich in einer riesigen Blase der Egozentrik verirren. Genauso aufgeblasen sind sie, wie ihre dicken Bäuche.
Das Hupen der Autos von der Straße ist zu vernehmen. Unscheinbar schieben sich die bunten Flecken voran, nahezu niedlich sehen sie aus. Ich traue keinen Niedligkeiten, in ihnen befinden sich Monster, die am liebsten alles Geld der Welt auf einmal fressen würden, stände ihnen ihr begrenzter Horizont nicht im Wege. Scheußliche Roboter ohne Gefühle, die dem Rest erklären wollen, wie die Dampfer der Zeit zu laufen haben. Gebeutelt werden wir, zertreten und unterdrückt.
„Wir wollen dir nur helfen, Alia“, versucht er mich zu beschwichtigen. Seine Stimme klingt ruhig, als unterscheide er sich in einer bestimmten Weise von den anderen.
„Du hast doch alles, was du brauchst! Bist glücklich verheiratet, hast drei wundervolle Kinder und willst mir in deinem Beamtendeutsch erklären wie die Welt funktioniert?“ Eine warme Träne entrinnt meinen Augen, die Beine zittern, als bestände dieses Flachdach, auf dem mein Gewicht lastet, aus Watte; oder bin etwa ich zu weich für diese Welt? Mein Leben ist ein unausweichlicher Waschgang, bei dem Steine wie Weichspüler verwendet werden. Bomben statt Honig.
Nur noch ein kleiner Schritt liegt vor mir. Ein Schritt, dessen zwingende Folge Erlösung bedeutet. Etwas, was ich mir so lange wünschte, nun ist es Realität. Ich habe ein besseres Leben gesucht, doch ich kannte die Welt nicht.
Meine Haare werden vom Wind erfasst, als wolle er mich hinfort tragen. Hinfort in eine bessere Welt, eine Welt voller Menschen. Die Illusion meines Traumes zerplatzt und taumelt den unendlichen Abgrund hinunter, während sich die quälenden Erinnerungen wie Maden in mein Bewusstsein fressen. Wut kocht auf, brodelt über. Es ist kalt. Sehr kalt. Eiseskälte.
Ich bin Alia und Mensch, deshalb bin ich gezwungen zu handeln.
Der Nebel wich, mein Verstand wurde klarer. Das Schlucken fiel mir schwer. Jedes Mal, wenn ich versuchte den zu Stein gewordenen Schleim herunterzuwürgen, fühlte es sich an, als durchquere eine Bleikugel meinen Hals. Ich schlug meine Lider auf, um sie sofort wieder aus Reflex zu verschließen. Die Sonne brannte ohne jegliche Vorsicht Narben in meinen Körper. Meine Kleider waren vollkommen nassgeschwitzt, Gestank von Schweiß, Angst und Unsicherheit erfüllte den Raum. Dicht an dicht kauerten wir in unserer Brutbox, irgendwo im Norden Libyens. Wir hatten keine Identität mehr, sie wurde uns weggenommen, nachdem wir aufgeschnappt wurden. Nur noch eine Etappe hatten wir vor uns, die übers Mittelmeer. Am anderen Ende des Gewässers begann für uns die Welt der Menschen, doch bisweilen waren wir in einer Umgebung voller Haie gefangen. „Flüchtlingslager“, nannten die Kaltherzigen diesen Zustand hier, mit ihren Tötungsmaschinen vor der Brust.
Es war nicht die Zeit, um in Selbstmitleid zu verfallen, man musste versuchen der harten Realität ins Auge zu blicken und dem stählernen Blick, der einem erwidert wird standzuhalten. Es war nicht einfach, es war unmöglich. Meine Gedanken drehten sich im Kreis, allerdings nicht auf einem mit Lichtern versehenen Karussell, sie tigerten stets vom einen Ende des Käfigs zum anderen. Gefangen in der Welt. Mägen knurrten, Babys schrien, Frauen weinten.
Wie Könige auf ihrem Thron blickten Wesen in braunen, einheitlichen Anzügen auf uns herab und begehrten nach uns. Nicht nach uns als Mensch, sondern nach uns als Objekt. Einer der Könige trat hervor, nahm mich beiseite. Angsterfüllt gehorchte ich seinen Zeichen, Staub wühlte sich unter seinen sicheren Schritten auf. Ich folgte seinem autoritären Geleit in einen Nebenraum. Ein Tisch mit massig Papier, welches unordentlich darauf verstreut war, befand sich darin. Ebenfalls ein Bett an der gegenüberliegenden Wand, offensichtlich schliefen sie hier. Mit zwei Personen schien der Raum schon an sein Kapazitätsmaximum zu stoßen. Warum führte er mich hier herein? Zu meinem Unbehagen drehte er einen alten Messingschlüssel im Schloss und steckte ihn in eine Schublade, die er vor lauter Last nur mit Müh wieder schließen konnte. Es dämmerte mir bereits, was mich erwarten würde, gefallen würde es mir auf jeden Fall nicht. Gierig wie einer, der sein Maul nicht vollbekommt, griff er um meinen Körper, presste mich an sich heran. Beißender Geruch von Schweiß überkam mich und einen leichten Würgereflex verspürte ich in meiner Kehle. Schweiß war ich zwar gewöhnt, doch dem einer so widerwertigen Person konnte ich nicht standhalten. Aller Entrinnungsversuche zu Trotz gelang es mir nicht, mich aus seinen Fängen zu befreien. Voller Kraft stieß er mich auf das Bett, welches voller Flecken war und den Anschein machte, als sei ich nicht die erste, die die Federn beanspruchen musste. Stürmisch knöpfte er sich seine Uniform auf, zwang mich in seine Augen zu schauen. Ich sah nichts als Dunkelheit. Dunkelheit, die sich blitzartig im Raum ausbreitete und mich vollkommen überkam. Die Klauen des Tigers hinterließen tiefe Narben, entwürdigt wurde ich, zertreten und unterdrückt.
Alles war klar, nur an der Umsetzung mangelte es: Wir mussten den Raubtieren entfliehen, über stürmische See, koste es, was es wolle. Das was zählte war die erträumte Menschwerdung meines Bruders und mir.
Ich bin Alia und Mensch, deshalb bin ich gezwungen zu handeln.
Am ganzen Körper zitternd verschwinden die Maden, das morgendliche Leben der Großstadt tritt in den Vordergrund.
Ich habe es geschafft, bin über das Mittelmeer geflohen, in einem Schlauchboot, zusammengepfercht mit hunderten von anderen Menschen, die sich entschieden haben, den Menschen in sich zu entdecken. Einige verloren das Spiel und ertranken. Einer dieser Verlierer ist mein Bruder, ohne den ich nicht die wäre, die ich jetzt bin. Er hat keine Sechs gewürfelt, und nun stapeln sie ihn, zusammen mit den unzähligen Leichen, die den Berg der Schande bilden. Ein Schritt und ich bin ihm so nah wie lange nicht.
„Wir können über alles reden, das weißt du doch, Alia. Es gibt bessere Lösungen als sich neunzig Meter in die Tiefe zu stürzen.“ Die Stimme des Besserwissers nimmt erneut Raum meines Bewusstseins ein. Ich drehe mich um. Ruckartig bleibt er stehen, als existiere eine unsichtbare Barriere zwischen uns. „Bleib dort stehen wo du bist, warum sollte mich jemand von der lang erhofften Erlösung fernhalten?“, frage ich panisch. Zu groß ist die Angst jetzt einen Fehler zu machen und sich erneut in die endlose Bahn der Verzweiflung zu begeben. Ich sehe, wie blau blinkende Lichter unten vor dem Gebäude stoppen und Punkte, gleich eines Nichts, aus den Lichtern hervortreten.
Wie konnte es so weit kommen? Ich habe die Welt kennen gelernt, in Gesichter mit feuerartigen Augen geblickt. Nur wegen meiner dunklen Hautfarbe werde ich beachtet, sonst trifft der Speichel Fremder mein Gesicht. Ich werde nicht einem Menschen gleichgesetzt, ich bin für sie eine dunkle Gestalt, die die Gassen entlang huscht und den nächsten Mord im Schilde führt. In Wahrheit aber bin ich eine Pilgerin, auf dem Weg nach Frieden und Freiheit, und doch werde ich als Verbrecherin verachtet. Wohin ist eure Menschlichkeit verschwunden? In euch ist sie nicht verblieben, sie wurde euch genommen, als ihr versuchtet Mensch zu sein. Doch ihr versperrt frommen Pilgern die Sicht auf das Licht im dunklen Tunnel. Ich bin zu schwach, doch ich, nein wir müssen kämpfen, um der Menschlichkeit willen.
Dunkle Wolken schieben sich vor die Sonne. Flüsse aus Salz fließen meine Wangen hinunter. Ein Flimmern zieht sich über die Netzhaut, Schwindel macht sich breit. Das Stimmengewirr hinter mir wird immer leiser. Schwebend gleite ich davon.