Eis
An einem kalten Wintermorgen stand sie an ihrem Fenster und blickte auf das Eis.
Es war einfach überall.
Selbst der See, an dem sie früher immer lag und die Wolken am Himmel zählte, war mit
einer dicken Schicht überzogen.
Früher. Wie dieses Wort in ihrem Kopf hallte.
Tränen bittersüßer Erinnerungen rannen über ihre warme Wange, um dann einen Bogen zum Kinn hin zu machen und in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden.
Damals. Als ihr Haar noch nicht weiß und ihr Körper noch nicht von Schmerzen gedemütigt war.
Der Schmerz, ja, er war immer da.
In ihren Gedanken. In ihrem Herzen. In ihrer Seele.
All die Chancen, die sie nie ergriffen hatte.
Die Wege, auf denen sie ging, hoffend, Licht zu finden –
und die doch wieder in Dunkelheit endeten.
Sie schien sie zu umgeben, die Dunkelheit. Gnadenlos breitete sie ihre Fangarme um ihren
schwachen Leib aus, packte ihn immer fester, ließ ihn aber doch wieder fallen,
zurück in die gähnende Leere ihres Zimmers.
Die Spuren ihres Weges verblassten, die gnadenlose Macht der Zeit radierte sie schleichend aus.
Die Zeit, das war ihr Teufel.
Sie hatte sie verdrängt, verschwendet und wie einen verfaulten Apfel weggeworfen.
Und nun tickten die Uhren immer lauter, tick tack ...
Die Zeiger sind die Richter des Teufels; sie werden dir irgendwann dein Urteil verkünden.
Kein Engel war gekommen, um sie zu retten, niemand hatte sich je gekümmert.
Was hatten die immer gesagt?
Jeder findet seinen Halm, an den er sich klammern und aus dem Dreck ziehen kann.
Liebe, ein weiterer Dämon. Er hatte sie ausgesaugt, und dann gebrochen und erstarrt zurückgelassen.
Doch das war jetzt nicht mehr wichtig.
Sie ließ sich fallen, tragen auf einer Welle der Gleichgültigkeit.
Und an einem kalten Winterabend wurde sie eins mit dem Eis...