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Eis
ZARC hatte sie dorthin geschickt – auf einen dieser namenlosen Planeten vom Eisriesen-Typ, die in vergessenen Winkeln des Alls ihre Bahn ziehen. Es ging um Meralith, immer ging es um Meralith.
Als das Bohrteam das Schiff verließ, empfing die Geologen ein Schneesturm, der alle Konturen verwischte und versuchte, die Helmscheiben mit großen, watteähnlichen Flocken zuzukleistern. Viel gab es ohnehin nicht zu sehen: eine eintönige weiße Ebene, durchsetzt mit ebenfalls weißen Eisplatten, die der Druck zu bizarren Gebilden aufgetürmt hatte. Und über allem ein milchigweißer Himmel, gefüllt mit weißen Wattefusseln. Der kirschrot glühende Kreis, die hiesige Sonne, vervollständigte das Bild.
Aus einem nostalgischen Impuls heraus hatte Goran es sich nicht nehmen lassen, an den ersten Probebohrungen teilzunehmen. Er hatte als Geologe auf dem Mars gearbeitet, bevor seine Laufbahn eine weniger harmlose Richtung einschlug. Er wies die Männer ein und sie brausten mit ihren Mobilen zu ihren festgelegten Positionen. Rasch waren sie im Flockenwirbel verschwunden. Dann machte Goran sich an die Arbeit. Er war gerade dabei, die erste Probebohrung zu setzen, als es geschah.
Der Schnee gab unter seinen Füßen nach und er fiel. Noch bevor er Zeit hatte, Angst zu haben, wurde sein Fall abrupt gebremst. Er steckte in einer Eisspalte fest und konnte sich kaum bewegen. Die Automatik hatte seinen Helmscheinwerfer eingeschaltet. Der Lichtkegel beleuchtete unmittelbar vor ihm grünlich schimmerndes Eis. Goran versuchte, Verbindung mit dem Schiff aufzunehmen, doch nur das sinnfreie Rauschen des Helmlautsprechers antwortete. Ihm blieb nur übrig, auf Hilfe zu hoffen. Und wenn sie nicht kam? Das war der falsche Gedanke, denn er merkte, dass er zu hyperventilieren begann. Sofort beschlug seine Helmscheibe, weil die Feuchtigkeitsabsorber überfordert waren. Jetzt bloß nicht in Panik geraten. Es konnte sich höchstens um Stunden handeln, bis er gefunden wurde. Selbst, wenn der Transponder versagte, die Koordinaten seiner Bohrposition waren bekannt. Und die Energie- und Luftreserven des Raumanzugs reichten für mehr als vierzig Stunden.
Vollkommene Stille umgab ihn, so dass er nur das Rauschen seines Blutes wahrnahm. Er war zur Untätigkeit verdammt und seine Gedanken nutzten die Gelegenheit, um auf die Reise zu gehen. Sie beschworen Bilder herauf, vor denen er in den letzten drei Jahren vergeblich geflohen war.
Sie waren auf Patrouille im Grenzgebiet gewesen, als es den Mutanten gelang, die Hauptschleuse aufzusprengen und in das Schiff einzudringen. Goran schloss die Augen, aber es half nichts.
Das Licht flackerte und der Alarm quäkte sein hässliches Lied. Es waren zu viele. Die einzige Chance bestand darin, die Notfallabtrennung einzuleiten und die Crewmitglieder zu retten, die sich in der Kommandokapsel in vorläufige Sicherheit gebracht hatten. Weiter hinten hörte er bis zum schrillen Falsett gesteigerte Schreie. Sie kamen. So schnell er konnte, zog er sich an den Rohrleitungen im Versorgungsschacht des Schiffes nach vorne, schwebte an Kabelschlingen entlang, die wie herausgerissene Gedärme im Gang hingen. Dumpfe Schläge von den Treffern der Plasmatorpedos dröhnten. Das nächste Schott wollte dem Schließautomatismus gehorchen und hämmerte auf eine Leiche an der Wand ein. Goran drückte sich an ihr vorbei, griff dem Toten unter die Arme und begann, ihn hinter das Schott zu ziehen.
„Oberst!“
Rohan blickte zurück und was er sah, ließ ihm den Atem stocken. Fähnrich Ameta Quoid war hinter der Biegung des Ganges aufgetaucht. Ihr Gesicht war kalkweiß und schmerzverzerrt. Große graue Augen blickten ihn verwirrt an. Ihre rechte Hand fehlte und aus der Wunde schoss Blut, das sich, kaum aus dem Armstumpf entwichen, zu Kugeln verformte, die wie kleine rote Luftballons durch den Gang trieben. Den Arm mit der verbliebenen Hand streckte sie ihm entgegen. Nur etwa drei Meter trennten sie von ihm. Goran spannte alle Kräfte an, um das Schott offenzuhalten.
„Kommen Sie!“, schrie er.
Ameta zog sich mit der linken Hand unbeholfen und quälend langsam auf ihn zu. Goran schob den Toten mit dem Fuß wieder zwischen das Schott und die Wand. Plötzlich erblickte er hinter Ameta einen Mutanten. Mit seinem Exoskelett in Kriegsbemalung sah er wie eine bunte Schildkröte aus. Die Laserpistole Gorans und die Waffe des Mutanten stocherten mit roten Lichtnadeln in den Gang. Der Mutant erschlaffte. Goran verspürte einen brennenden Schmerz an der linken Schulter. Schon stachen neue Lichtnadeln hinter der Biegung hervor.
Das Letzte, was Goran sah, bevor das Schott sich schloss, war Ametas ungläubiges Gesicht.
Das Gesicht, das ihn in den letzten drei Jahren verfolgt hatte. Vergeblich redete Goran sich ein, dass er keine andere Wahl gehabt hatte. Nur er konnte die Notfallabtrennung einleiten. Er musste Ameta zurücklassen. Sonst hätten die Mutanten sie alle erwischt. Die Chance, Ameta hinter das Schott zu ziehen, war minimal gewesen. Ameta schenkte den Argumenten keinen Glauben – das sagte ihr Gesicht nur allzu deutlich. Er hatte den Dienst quittiert, ließ sich treiben, versuchte in Rauschzuständen zu vergessen. Als das nicht gelang, heuerte er bei ZARC als Astronarch an. So hatte er wenigstens wieder eine Aufgabe, die ihn ablenkte. Und jetzt … Seine Gedanken setzten aus, seine Augen weiteten sich. Aber das war doch vollkommen unmöglich!
Als Goran die Augen aufschlug, blickte er auf Wände, die in einem freundlichen Gelb-Orange-Ton gehalten waren. Offenbar lag er auf der Krankenstation. Ein bärtiger Mann beugte sich über ihn. An seinem Hals baumelte ein silbernes Kruzifix – Pater Mikan, sein Stellvertreter.
„Was ist passiert?“, fragte Goran.
„Das frage ich Sie“, antwortete Mikan, „wir haben Sie aus einem Eisloch gezogen. Sie waren weggetreten.“
Goran versuchte sich zu erinnern, doch da war nur grauer Nebel. Er schüttelte den Kopf. „Das Eis hat einfach nachgegeben. Dann habe ich in dieser Spalte festgesteckt. Mehr weiß ich nicht.“
„Sie sind offenbar nicht der Einzige. Wir haben ein Problem. Matthison wird vermisst.“
„Was?“ Goran richtete sich mit einem Ruck auf und verzog gleich darauf das Gesicht.
Pater Mikan drückte ihn mit sanfter Gewalt zurück auf die Liege. „Sie haben wahrscheinlich eine Gehirnerschütterung. Der Doc sieht gleich nach Ihnen. Sie können jetzt ohnehin nichts unternehmen. Ich habe bereits alle Geologen zurückbeordert, bis auf Berger. Den habe ich zu Matthisons letztem Standort geschickt.“
„Was ist mit dem Transponder?“
„Kein Signal bis jetzt.“
Goran richtete sich erneut auf, diesmal wesentlich langsamer. Den Protest Mikans wischte er mit einer Handbewegung beiseite.
Kurz darauf waren sie auf der Brücke und Goran rief über das Komm Berger. Auf dem riesigen Monitor im Frontbereich erschien das Gesicht des Geologen, im Hintergrund war das Cockpit zu erkennen. Hinter dessen Fenstern wirbelten Schneeflocken durch das weiße Einerlei.
Berger räusperte sich. „Ich bin an Matthisons Bohrposition. Von seinem Mobil gibt es hier nicht die geringste Spur. Das Bohrequipment ist auch weg. Und ein Signal kann ich nicht empfangen. Wenn der Transponder nicht defekt ist, hätte ich ihn eigentlich orten müssen.“
„Keine Eisspalte?“
„Nichts. Alles vollkommen glatt. Ich will den Suchradius erweitern.“
„Was zur Hölle geht da vor“, murmelte Goran, während er auf die Eiswüste blickte, die den riesigen Monitor vor seinem Platz ausfüllte, nachdem Bergers Gesicht verschwunden war.
„Astronarch!“ Pater Mikan schüttelte den Kopf. „Durch Fluchen wird’s auch nicht besser.“
Goran unterdrückte eine Erwiderung. Mit der Kirche war nicht zu spaßen und auch Pater Mikan nahm sein Amt als Priester ernst.
„Astronarch, wir haben ein Problem“, meldete sich RITA.
„Was ist los?“
„Die Stabilisatoren des Schiffs registrieren eine zunehmende Abweichung von der Vertikalen.“
„Wie schnell?“
„Etwa 2 millirad pro Stunde.“
Goran fuhr sich durchs Haar, eine Angewohnheit, die er nicht ablegen konnte. Dann nahm er den Seitenblick von Pater Mikan wahr und ließ die Hand sinken. „Wie lange ist das Schiff noch stabil?“, fragte er.
„Noch zwei Stunden und elf Minuten. Dann kippt das Schiff. Ich empfehle, bereits jetzt zu starten.“
„Wir haben nicht mehr genug Treibstoff für eine zweite Landung, Astronarch“, gab Pater Mikan zu bedenken.
„Das weiß ich selbst“, sagte Goran. Die Gedanken wirbelten in seinem Kopf umher, wollten einem Schwarzen Loch entkommen, dass sich gerade in seinem Geist öffnete. Goran fühlte plötzlich wieder die Panik, die er noch vor kurzem im Eis gespürt hatte. Irgendetwas in dem Eis stand mit dem Verschwinden Matthisons im Zusammenhang. Das Labor! Es müsste inzwischen einige der Proben untersucht haben. Möglicherweise hatte Dr. Masson etwas herausgefunden.
Als er das Labor betrat, sah er den Chefwissenschaftler vor dem Interface, das eine Verbindung zu der Welt RITAs ermöglichte. Er erkannte ihn nur an seiner immens hageren Gestalt. Der Kopf war unter dem Datenhelm verschwunden.
Goran ging auf ihn zu und berührte ihn leicht an der Schulter. Dr. Masson zuckte zusammen, dann nahm er den Datenhelm ab.
„Ich habe schon mit Ihnen gerechnet, Astronarch.“
„Doc, ist Ihnen vielleicht irgendetwas aufgefallen an den Eisproben?“, begann Goran ohne Umschweife.
Dr. Masson nickte. „In der Tat, da ist wirklich etwas Seltsames.“
„Was ist es? Raus mit der Sprache. Wir haben nicht viel Zeit.“
„Ich habe zusammen mit RITA die Eisproben analysiert. Und was wir herausgefunden haben, ist bizarr. Ich habe so etwas noch nie gesehen.“
„Denken Sie an die Zeit“, mahnte Goran.
„Sehen Sie, bei Eis reden wir oft von Eiskristallen. Das normale Eis ist aber genaugenommen überhaupt kein Kristall“, sagte Dr. Masson. „In jedem Eis gibt es Fehlstellen, Mischformen. Aber hier …“, Dr. Masson zuckte mit den Schultern, „… nichts. Alles ist absolut regelmäßig. Es liegt eine hundertprozentige Kristallstruktur vor, die es so gar nicht geben dürfte. Und …“ Dr. Masson zögerte.
„Und?“, drängte Goran.
„Da ist noch etwas. Die Atome bewegen sich auf ihren Gitterplätzen und tauschen elektromagnetische Impulse aus. Und zwar nicht irgendwie, sondern nach bestimmten Mustern.“
„Was wollen Sie mir eigentlich sagen, Doc?“ Goran hatte ein ungutes Gefühl.
„Nun, was ich sagen will – es ist, als ob die einzelnen Atome miteinander kommunizieren. Wie Nervenzellen in einem Lebewesen. Ich bin davon überzeugt, wir haben es hier mit einer Art Leben zu tun. So etwas wie ein riesiges Gehirn. RITA ist der gleichen Ansicht.“
„Und dieses …“, Goran zögerte das Wort auszusprechen, „Lebewesen hat Matthison verschluckt? Warum können wir seinen Transponder nicht orten, Doc?“
„Das weiß ich nicht.“ Dr. Masson zuckte mit den Schultern. „Aber wenn er nicht defekt ist, muss es mit den ungewöhnlichen Eigenschaften des Eises zusammenhängen. Also haben RITA und ich überlegt, wie wir das Eis modifizieren können. Und wir sind zu einer überraschend einfachen Lösung gelangt. Ultraschall.“
„Ultraschall?“, echote Goran.
„Ja, es ist verrückt.“ In Dr. Massons Stimme schwang Triumph mit. „Simpler Ultraschall vermag das Eis in ganz normales Eis zurückzuverwandeln. All diese komplizierten Strukturen, die es bildet, können damit aufgebrochen werden. Ein Transpondersignal hätte danach keine Schwierigkeiten mehr, durch das Eis hindurchzudringen.“
„Höre ich da ein ‚Aber‘“, fragte Goran.
Dr. Masson nickte. „Es gibt tatsächlich ein ‚Aber‘. Die Reaktion auf den Ultraschall, wir wissen nicht, ob sie lokal beschränkt ist. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass es einen Domino-Effekt gibt. Einmal in Gang gesetzt, könnte er sich auf das gesamte Eis des Planeten auswirken.“
Goran brauchte ein paar Sekunden, bis er begriff. Wenn sie die Idee des Docs umsetzen würden, hieße das, womöglich eine einzigartige Lebensform zu vernichten, die sich hier in wer weiß wie vielen Millionen von Jahren herausgebildet hatte. Vielleicht sogar eine Art Intelligenz. Wenn es so war, worüber dachte das Eis nach? Oder träumte es nur vor sich hin. Sie würden es nie erfahren, wenn … Goran gab sich einen Ruck.
Er sah Dr. Masson direkt ins Gesicht. „Setzen Sie sich mit den Technikern in Verbindung. Ich will, dass sie zwei Ultraschallsender präparieren. Stellen Sie ihnen die notwendigen Parameter zur Verfügung. Und es muss schnell gehen.“
Dr. Masson nickte nur.
Auf der Brücke erfuhr Goran, dass zum Vermissten nach wie vor keine Verbindung hergestellt werden konnte. Er wandte sich an RITA. „Wie viel Zeit bleibt uns noch?“
„Sie haben bei der aktuellen Geschwindigkeit der Kippbewegung nur noch 48 Minuten bis zum Start.“
„Was gedenken Sie zu tun?“, fragte Pater Mikan.
„Ich hole Matthison!“
„Sie sind der Kommandant. Schicken sie jemand anderen.“
„Ich muss ihn selbst holen, Pater.“
„Na schön. Und wie wollen Sie das anstellen?“
„Jetzt ist keine Zeit für lange Erklärungen. Nur so viel: Das Eis scheint eine Art Organismus zu sein, der Transpondersignale abschirmt. Wir können die Abschirmung mit Ultraschall durchbrechen.
„Ein Organismus?“
Goran ignorierte die Frage. Über das Komm beorderte er Berger zurück zu der Position, an der Matthison gebohrt hatte. An seinen Stellvertreter gewandt befahl er: „Bereiten Sie alles für den Start vor. Wenn ich nicht in 40 Minuten zurück bin, starten Sie ohne mich. Falls die Lage es erfordert, auch vorher.“
Im dichten Schneetreiben war die wuchtige Gestalt Bergers nur schemenhaft zu sehen. Der Audiosensor übertrug das Brüllen des Schneesturms. Die Außentemperatur betrug laut Anzeige mörderische minus 67 Grad Celsius. Goran schaltete den Ultraschallsender ein und richtete ihn auf das Eis, während er gleichzeitig die Transponderfrequenz nach einem Empfangssignal abhörte.
Plötzlich vernahm er das vertraute Pling. „Wir haben ihn!“ Gorans Stimme überschlug sich fast. Zehn Meter links von ihnen sendete der Transponder Matthisons klar und deutlich. So schnell es ihre dicken Raumanzüge gestatteten, liefen sie zu der Stelle und begannen, mit ihren Handlasern große Blöcke aus dem Eis zu schneiden und beiseitezuräumen. Das Weiß der Schneefläche wich grünem, glasigem Eis. Der Anzeige zufolge lag Matthison in etwa zwei Metern Tiefe. Sie näherten sich ihm langsam, viel zu langsam. In einer Ecke seines Helmdisplays hatte Goran die Zeitanzeige vor sich. Kaum noch fünfzehn Minuten, bis sie umkehren mussten.
„Wir schaffen es nicht!“, meldete sich Berger.
„Weitermachen!“ Goran schrie es in sein Mikrofon. Berger zuckte mit den Schultern und richtete den Laser wieder auf das Eis. Berger hatte recht. Es war nicht zu schaffen. Mikan würde starten, sie hier zurücklassen, so dass sie langsam zu Eisklumpen erstarrten. Der ewige Wind des Planeten würde über sie hinwegwehen und sie für ihren zeitlosen Schlaf in eine Schneedecke hüllen.
In das Heulen des Windes mischte sich ein anderes Geräusch: ein schrilles Kreischen, das sich wie ein Messer in Gorans Gedanken bohrte. In dem makellosen Weiß rings um das Loch, das sie bereits ausgehoben hatten, bildeten sich feine, schwarze Risse, die eine Art Spinnennetz formten. Die Risse verbreiterten sich rasch und liefen auf sie zu.
„Zurück!“, rief Goran, doch es war zu spät. Das Eis gab nach und Berger und er rutschten zusammen mit Schnee und Eisbrocken abwärts. Sie fanden sich in einer Grube wieder, über deren grünlich glänzende Wände bunt schillernde Lichtbahnen huschten.
„Berger! Alles okay bei Ihnen?“
Berger rappelte sich auf. „Mir ist nichts passiert.“ Er deutete auf das Zentrum der Grube. Dort lag eine regungslose Gestalt. Matthison!
Rotes Blinken auf seinem Helmdisplay lenkte Goran ab. Der Druck im Inneren des Raumanzuges fiel. Er musste sich beim Sturz an der Kante eines Eisblocks den Raumanzug aufgeschlitzt haben. Er fühlte bereits, wie eisige Kälte in das Innere des Anzugs gelangte, und er bekam schwerer Luft. Hektisch suchte er mit den Augen den Anzug nach Beschädigungen ab. Da, an der linken Hüfte klaffte ein Riss. Nicht allzu groß glücklicherweise. Er presste seine Hand auf die Stelle.
„Was haben Sie?“, fragte Berger.
„Es ist nichts.“ Goran winkte ab und eilte zu Matthison, Berger im Gefolge.
Während Goran Matthison unter den Achseln packte, bemerkte er aus den Augenwinkeln, dass die Lichtstreifen an den Wänden verschwunden waren. Berger ergriff Matthisons Beine. Gemeinsam trugen sie die anscheinend leblose Gestalt zur Grubenwand.
Als Goran keuchend nach oben blickte, sah er den Rand der Grube mindestens zwei Meter über sich. Auf der kurzen Strecke hatte er sich völlig verausgabt und jetzt japste er nach Luft, auf der Suche nach immer spärlicher werdenden Sauerstoffmolekülen. Das Blinken auf seinem Helmdisplay war inzwischen tiefrot, obwohl er die Hand wieder auf den Riss im Anzug presste. Noch etwas mehr als zehn Minuten. Um den Gesundheitszustand Matthisons mussten sie sich später kümmern. Später? Was machte er sich vor? Ein Später würde es nicht geben. In wenigen Minuten würden die Triebwerke der Rakete zünden. Verbissen machte sich Goran trotzdem daran, mit dem Laser Stufen in das Eis zu schneiden. Berger half ihm dabei. Da hörte Goran ein sonores Brummen, das lauter und lauter wurde. Vernebelte ihm Hoffnung die Sinne? Kein Zweifel. Ein Schneemobil näherte sich. Das Geräusch verstummte, als das Mobil in unmittelbarer Nähe sein musste.
Eine Gestalt tauchte über ihnen auf. Im Helmlautsprecher Gorans erklang eine vertraute Stimme.
„Alles okay bei Ihnen?“
„Sie sollten im Schiff sein, Mikan!“, ächzte Goran.
„Ich werfe Ihnen ein Seil runter“, war die einzige Reaktion seines Stellvertreters.
„Was ist mit dem Schiff?“
„Für den Moment stabil!“
Berger ergriff das Seilende, das wenige Augenblicke später bei ihnen aufschlug, schlang es um den Rumpf Matthisons und verknotete es. Der reglose Körper Matthisons schwebte nach oben und entschwand ihren Blicken. Dann war Berger an der Reihe und zuletzt Goran. Als er oben war, klopfte ihm Pater Mikan kurz auf die Schultern.
War es Gorans blasses Gesicht? Das rote Blinken? Jedenfalls verlor Mikan kein Wort, stützte Goran die wenigen Schritte bis zum Schneemobil und zog ihn ins Innere der Fahrerkabine. Goran nahm den Helm ab und atmete tief die köstliche Luft ein.
„Das war knapp. Verd…“ den Rest verschluckte Goran.
Während sie zum Schiff fuhren, brachte Mikan ihn auf den neuesten Stand. Einige Zeit nachdem Goran das Schiff verlassen hatte, war die Kippbewegung des Schiffes zum Stillstand gekommen. Das hatte Mikan zum Anlass genommen, sich über Gorans Befehl hinwegzusetzen.
„Ich wollte Sie informieren, aber das Komm brachte keine Verbindung zustande“, rechtfertigte sich Mikan.
„Sie hätten uns zurücklassen und starten müssen“, sagte Goran. „Mein Befehl war eindeutig.“
„Und Sie, Astronarch? Es gab nur eine winzige Chance, Matthison zu holen. Sie haben das Leben aller durch die Startverzögerung aufs Spiel gesetzt.“
Goran musste sich eigestehen, dass Pater Mikans Argument mehr als nur ein Körnchen Wahrheit enthielt. „Wir verschieben die Diskussion auf später“, sagte er. „Jetzt müssen wir erst einmal von diesem verdammten Planeten wegkommen, bevor das Eis es sich anders überlegt.“
Diesmal verzichtete Pater Mikan darauf, die verbale Entgleisung Gorans zu rügen.
Auf der Brücke gab Goran den Befehl, die Startsequenz einzuleiten.
Hatten sie Matthison gerettet? Oder nur etwas, das ihm äußerlich glich?
Nachdem sie in eine Umlaufbahn eingeschwenkt waren, sah Goran in seiner Kabine gemeinsam mit Pater Mikan auf das Bild des Planeten. Deutlich waren aus der gegenwärtigen Position des Schiffes seitlich des Äquators die gewaltigen Geysire zu erkennen, die dort Wasser in die Atmosphäre pumpten und für die dicke Wolkenschicht sorgten. Die Polkappe, über der das Schiff gerade schwebte, war wolkenfrei und leuchtete in einem strahlenden Weiß.
„Warum sind wir noch hier, Astronarch?“, fragte Mikan. „Wir sollten längst wieder auf dem Weg zur Basis sein.“
„Solange Matthison in diesem Zustand ist, möchte ich den Eintritt in den Quantentransit nicht riskieren.“
„Wie geht es ihm?“, fragte der Pater.
„Oh, der Doc sagt, er wird wieder. Sein Zustand ist stabil, aber …“ Goran zögerte.
„Aber was?“
„Er ist noch nicht wieder bei Bewusstsein. Es ist aber auch kein Koma. Das medizinische Team steht vor einem Rätsel. Seinen Hirnwellen nach ist er in einem Zustand, der vom Satori bekannt ist.“
„Satori? Der Zustand der Erleuchtung im Zen-Buddhismus?“
„Ganz genau.“ Goran nickte in Richtung des Monitors. „Und wenn die Crew mich nicht so rasch aus der Eisspalte herausgeholt hätte, wäre ich jetzt wahrscheinlich ebenfalls erleuchtet.“ Er lachte freudlos.
„Gott bewahre uns davor!“ Pater Mikan schüttelte in gespieltem Entsetzen den Kopf. „Und Sie können sich immer noch nicht daran erinnern, was da unten war?“
Goran schüttelte den Kopf. „Ich weiß nur, dass etwas Verrücktes passiert ist.“ Er presste beide Hände gegen die Schläfen. „Es ist wie nach einem Traum. Je mehr ich mich erinnern will, desto vager wird die Erinnerung.“
„Geben Sie sich Zeit, Astronarch. Wir sollten darum beten, dass in Ihrem Geist bald wieder Klarheit herrscht, auch wenn er nicht erleuchtet ist.“
Er faltete die Hände und Goran war im Begriff, es ihm nachzutun, obwohl er innerlich die Augen verdrehte. Da fiel sein Blick auf den Monitor und er fühlte, wie sein Herz plötzlich pumpte, als würde er einem Mutanten gegenüberstehen.
„Sehen Sie, Pater, sehen Sie doch.“
Die eben noch reinweiße Oberfläche der Polkappe verwandelte sich, bekam farbige Flecken, die riesigen Ausmaßes sein mussten. Die Flecken verbanden sich miteinander, lösten sich wieder, veränderten ihre Farben. Probierte sich dort unten ein unsichtbarer Maler mit einem gigantischen Pinsel aus?
„Als lebte es tatsächlich, Pater“, murmelte Goran, während er gebannt das Geschehen beobachtete.
„Was meinen Sie?“, fragte Mikan.
„Sehen Sie es denn nicht? Da unten.“
„Was denn? Aber da ist doch nichts, Astronarch.“
Inzwischen war das ziellose, chaotische Wechselspiel der Farben und Formen zum Stillstand gekommen. Der unbekannte Maler hatte sich offenbar besonnen und war entschlossen, sein Werk zu vollenden. Goran sah allmählich Konturen, die sich mit Farben füllten. Je mehr das Bild voranschritt, desto offensichtlicher wurde, was es darstellte. Ins Groteske vergrößerte graue Augen, eine schmale Nase und ein Mund, der in ungläubigem Erstaunen halb geöffnet war. Goran starrte aus zweitausend Kilometern Höhe auf das Gesicht Ametas hinab.
„Pater!“ Er packte den Arm seines Stellvertreters. „„Jetzt weiß ich wieder, was in der Eisspalte passiert ist.“
Pater Mikan sah auf den Ärmel seiner Kutte und Goran ließ von ihm ab.
„In der Spalte habe ich vor mir im Eis ein Gesicht gesehen“, sagte er. „Es war, als wollte mir das Eis etwas sagen. Und jetzt … da unten, sehe ich genau das Gleiche wieder.“
„Das bilden Sie sich ein. Vielleicht die Nachwirkung einer Gehirnerschütterung. Und wie hätte Ihnen das Eis denn etwas sagen sollen? Dazu hätte ihm Gott Verstand verleihen müssen – eine Annahme, die an Blasphemie grenzt. Nur der Mensch trägt den Gottesfunken in sich.“
„Und die Mutanten? Was ist mit denen?“
„Astronarch“, sagte Pater Mikan mit gefährlich leiser Stimme, „die Mutanten maßen sich an, den Menschen, das Meisterwerk Gottes, verbessern zu wollen. Sie sind zur Hölle verdammt. Ich will Ihre letzte Frage nicht gehört haben.“
Das Eis unter ihnen veränderte sich abermals. Das riesenhafte Abbild Ametas öffnete den Mund, weiter und weiter, die Augen traten aus ihren Höhlen. Ein schwarzer Schlund mit einer rosa Zunge darin wurde sichtbar. Goran nahm den Schrei wahr, ohne ihn hören zu müssen. Das da unten, was immer es war, hatte Todesangst, das war Goran auf einmal klar. Die Angst war begründet. Unvermittelt fiel das Gesicht in sich zusammen, die Farben verloschen, die Konturen verschwanden und übrig blieb nur eine weiße Fläche.
„Der Domino-Effekt. Dr. Masson hat es vorausgesagt“, murmelte Goran. „Das Eis stirbt.“
„Vorausgesetzt, es hat überhaupt gelebt“, antwortete Pater Mikan.
Goran ersparte sich die Antwort.
„Astronarch. Sie sollten zur Krankenstation kommen“, tönte die Stimme des Schiffsarztes aus dem Lautsprecher.
„Geht es um Matthison?“
„Ja, er ist erwacht.“
Goran wandte sich von dem Monitor ab, ohne dem Planeten noch einen Blick zu gönnen.