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Eis
Sie wusste nicht mehr, wie die Sonne aussah, kannte keine freundschaftliche Umarmung und auch nicht den Duft frisch gebackenen Brotes. Hier gab es nichts als Eis, Fels und Dunkelheit. Sie hätte nicht sagen können, ob es Einsamkeit oder Kälte war, die ihr die größte Qual bereitete. Wie lange sie schon in ihrem eisigen Gefängnis saß, wusste sie nicht mehr. Waren es Jahre oder Äonen? Sie hatte keine Erinnerung daran, wer sie hierher gebracht hatte, oder ob es zuvor etwas gegeben hatte. Selbst Hoffnung war inzwischen kaum mehr als der Schatten einer Erinnerung.
Wann immer sie ihre Augen schloss, sah sie IHN, und dieses Bild quälte sie mehr als alles andere, mehr als Dunkelheit, Kälte oder Einsamkeit. Sie hielt ihre Augen fest geschlossen in der Hoffnung, der Schmerz würde ihr endlich das Herz brechen und sie töten.
Vor ihrem inneren Auge konnte sie sehen, wie er gekommen war, um sie zu befreien, wie ein strahlender Ritter auf einem edlen Schimmel. Er war bei ihr geblieben, so nah es ging, hatte gegeben, ohne zu fordern, hatte ihr sein Vertrauen geschenkt und das ihre erlangt. Er hatte dagestanden wie ein Brecher und sie von seiner Kraft zehren lassen.
Schließlich war die Hoffnung in ihrem Herzen aufgeflammt wie ein gewaltiges Schwert aus Feuer und Liebe, und obwohl die finstersten Mächte des Eises mit aller Gewalt der Hölle auf sie einstürmten, gelang es ihr, sich mit seiner Hilfe aufzurichten. Dann, als sie sich voll und ganz geöffnet hatte, als sie ihr ganzes Sein, alles was sie ausmachte, auf ihn gestützt hatte, als sie mit jeder Faser wusste, dass sie es jetzt, in diesem Moment gemeinsam schaffen konnten, ihr eisiges Gefängnis zu sprengen, drehte er sich ohne ein Wort um und ging fort.
Einsamkeit schmerzt unendlich viel mehr, wenn man Nähe kannte.
Ihre Kraft war aufgebraucht, ihr Herz endgültig zu Eis gefroren. Sie wartete darauf, zu sterben, doch der Tod mied sie ebenso wie das Leben.