- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 6
Einzug der Haare in die Provinz
Samstags. … Samstags war immer Badetag. Meine Mutti ging in den Keller, holte ein paar Briketts und zündete mit ein paar Streichhölzern und dem Papier der Tageszeitung Holzscheite an und heizte den Kessel für das Badewasser ein. Nach zwei Stunden hatten die Briketts genug Hitze für ein Vollbad entwickelt. Meine Schwester, 1959 sieben Jahre alt und mein Bruder neun Jahre alt, machten ihre Faxen und turnten in Vorfreude auf das wöchentliche Bad nackig in unserem Flur herum. Es gab ein paar, nicht ernst gemeinte Klapse von meiner Mutti auf den Po der beiden und dann aber „Ab in die Wanne“. 1959, mit vier Jahren musste ich immer warten, bis ich an der Reihe war. Ich hatte zur Badewanne immer ein zwiespältiges Verhältnis, denn einerseits musste ich in die benutzte Badewasserbrühe meiner Geschwister steigen. Da tauchte dann die Frage auf „Haben die Beiden vielleicht Pipi ins Wasser gemacht?“ Anderseits hatte ich jedoch die ganze Wanne für mich allein. Nach dem ersten Eintauchen unter Wasser war es mir mit Pipi oder ohne Pipi egal. Diese wohlige Wärme, das Untertauchen, die gluckernden, mir fremden Geräusche, die Stimmen aus einem anderen Kosmos unter Wasser, wenn Mutti oder Papa ins Bad kamen und mich ermahnten, ich solle endlich rauskommen. Na ja, Mutti trocknete mich nach dem Baden immer ab, wickelte mich in meinen Bademantel und packte mich zu meinen beiden Geschwistern aufs Sofa und dann wurde immer Sandmännchen gehört. Nach dem Sandmännchen durften wir noch die Schlagerparade des NDR hören. Das war dann die Einstimmungsphase für die Aktion „Nun-aber-ab-ins Bett“. Dieses Mal, im November 1959 trat etwas neues in mein vierjähriges Leben. Es lief im Radio die „Elisabeth Serenade“. Bisher waren „Hänschen klein“ und „Alle meine Entchen“ meine musikalischen Begleiter, aber die „Elisabeth Serenade“ war für mich eine vollkommen neue Erfahrung. Dieses Lied hat mich das erste Mal in meinem Leben richtig berührt. Draußen war es kalt, ich saß im Warmen, meine Lieben bei mir und dann diese süßliche Melodie, sie schlängelte sich auf meinen Kopf, säuselte in meine Ohren und brachte letztlich meine Nackenhaare zum Schwingen. In diesem Moment war ich ganz einfach glücklich.
So weit, so gut. Nach diesem ersten eindrücklichen Musikerlebnis geschah bis 1964 nichts Großartiges. Bescheiden, arm aber wohlbehütet wuchs und gedieh ich im erzkatholisch, konservativen Milieu im Südoldenburgischen. Die Welt war im Lot.
Das Beben in meinem Kopf begann im März 1964. Es war mal wieder samstags, die NDR Schlagerparade lief im Radio, Ronnie säuselte in seinem Brunftbariton „Oh my Darling, Oh my Darling Caroline …“ Bis dahin war die Welt noch in Ordnung. Doch dannach kündigte der Ansager den nächsten Titel an. Irgendetwas stimmte nicht. Die Stimme des Ansagers wurde auf einmal merklich leiser und uns kam es so vor, als sei es ihm peinlich, den nächsten Titel anzusagen. Leise, verlegen, schnell und beiläufig sprach er „und-nun-direkt-auf-Platz-eins-die Bietels-mit-ihrem-Lied „I wanna hold your hand“. Es dauerte keine zehn Sekunden und wir drei Geschwister saßen nicht mehr auf dem Sofa, sondern schubsten und rangelten unsere Ohren um den Lautsprecher unseres alten Schaub-Lorenz-Radios, um jaah jeden Ton mitzukriegen. Nach dem Lied drei verstörte, ratlose Kinder auf dem Sofa. „Was war DAS denn gerade?“ Mann, waren wir fasziniert und aufgewühlt. So etwas hatten wir noch nie gehört. Es war für uns unvorstellbar, dass es so etwas von Musik überhaupt gibt. Den englischen Lied-Text überhaupt nicht verstanden, die Melodie der Bieddels summend, bin ich dann spät, ganz spät nachts eingeschlafen. Die folgenden Samstage konnten wir es gar nicht erwarten die NDR Schlagerparade zu hören: drei neue Fans sitzen schmerzhaft verkrampft die Daumen drückend auf dem Sofa, das Radio an die Grenzen des Lautstärkepegels gebracht, besorgt dreinschauende Eltern, und die Kinder in der innigen Hoffnung, dass der NDR ein Bieddels-Lied spielt.
Dem Beben folgte jedoch schon kurze Zeit später der Schock. Und was für einer! Ein paar Tage nach diesem denkwürdigen Ereignis brachte mein großer Bruder von einem Freund eine ausgeliehene BRAVO mit. Ich sah zum ersten Mal ein Bild von meinen neuen, ultimativen Helden. Was ich DA sah! Ich traute meinen neunjährigen Augen nicht. Die vier Jungs hatten lange Haare, „Ja, mein Gott lange Haaare!“ … „Das ist nicht wahr, das gibt es nicht, das kann nicht sein, das darf nicht sein! … Lange Haare!“ Meine kleine Welt, alles geregelt, alles konform, alles in Ordnung und dann DIESES! Kurzum, ich war das erste Mal in meinem Leben kulturgeschockt. Die darauffolgenden Tage war nicht mehr viel mit mir anzufangen. Immer und immer wieder stellte ich mir die Frage „Warum tun die das!?“ Das merkwürdige , dass in den nächsten Wochen ganz langsam schleichend meiner ersten, unter Schock stehenden Abgestoßenheit einer eigenartigen Faszination wich. Kurzum, die Bieddels hatten mich verzaubert. Die nächsten Jahre waren durch einen permanenten Kulturkampf gekennzeichnet. Gegenüber Mutti und Papa wurde um jeden Millimeter Haarlänge energisch gerungen. Der Standardspruch meines Papas in den ersten Jahren lautete: „Die Ohren müssen frei sein!“ Was tat ich nicht alles, um mich diesem Motto meines Vaters zu widersetzen. In der ersten Zeit hatte er mich des öfteren zweimal zum Friseur geschickt. Mann, was habe ich danach immer geheult. Jedoch mit der Zeit hatte ich mir einen gewissen Spielraum an Haarlänge erobert. Irgendwann später hat mein Papa wohl resigniert aufgegeben. Aber bis es so weit war, war es ein steiniger Weg: Sonntags um 10 Uhr ging es immer in die Kirche zum Hochamt. Wir, die Kinder mussten immer unsere Sonntagskleidung anlegen. Das war eigentlich nicht das Problem, weil ja alle Kinder in Sonntagskleidung in die Kirche gingen. Aber jetzt kommen wieder die Haare ins Spiel. Ordentlich mussten sie sein. Das bedeutete für mich: jedes Mal, bevor es in die Kirche ging, spuckte mein Papa in die Hände und strich mir die mit Speichel angefeuchteten Hände in mein Haar, damit sie „ordentlich“ liegen, die Haare. In der Kirche im Hochamt war es dann ein merkwürdiges Gefühl. Während der Predigt berührte ich hin und wieder mit vier Fingern den Haaransatz. Es fühlte sich an, als hätte ich eine kleine Schutzhaube auf meinem Kopf, wie der Chininpanzer eines Maikäfers. Nach der Messe konnte ich es gar nicht erwarten, nach Hause zu kommen, um den getrockneten, verkrusteten Speichel meines Vaters aus meinen Haaren unter dem Wasserhahn raus zu waschen. Dieses Ritual hatte für mich jedoch jedes Mal das unheimlich befreiende Gefühl von Beichte, Reinigung und Läuterung in einem.
Im Nachhinein betrachtet, haben sich die ganzen Mühen und das intervallmäßige Trübsal blasen nach dem Friseurgang mehr als gelohnt: nach dem Standardspruch in den 60ern „die Ohren müssen frei sein“ lautete in den 70ern dann Volkes Stimme „ sie können ja ruhig lang, aber gepflegt müssen sie sein“, die Haare. Und noch später war es sowieso egal: „Anything goes“ lautete dann das Motto. „Mach was du willst!“ … Tja, das haben die Beatles „auf“ meinem Kopf angerichtet. Was sie „in“ meinem Kopf fabriziert haben, hatte ich nur kurz erwähnt. Das ist dann aber wiederum eine andere Geschichte... .