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- 25.01.2002
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Eintracht und Zwietracht
An dem Tag, an dem es begann, spannte sich ein hellblauer, wolkenloser Himmel über Halmfeld. Heiter berührten die Sonnenstrahlen die Kleinstadt. Und wimmernd kauerte Rebecca im Flusstal. Die Arme mit einer Gardinenschnur gefesselt, die Unterlippe blutig. Die Schultasche des elfjährigen Mädchens badete im Schlamm.
Frank und seine Anhänger hatten ihr nach der Schule aufgelauert und sich dafür gerächt, dass das Mädchen sie neulich auf frischer Tat beim Bücher stehlen ertappt und beim Direktor verpetzt hatte.
Aber die Sache würde ein Nachspiel haben, schworen wir uns! Die Fehde mit Frank hielt schon ewig an. In diesem Jahr zog sie weitere Kreise.
Lange Zeit hörte zunächst jedoch niemand Rebeccas Schreie oder wollte niemand ihre Schreie hören.
Dann trat der Schattenmann an sie heran.
»Ich hatte Angst.« Rebeccas Blick wurde düster. Der Wind pfiff durch die Ritze des zugigen Baumhauses, verborgen auf zwei knorrigen Apfelbäumen im Garten meiner Eltern. Mein Vater und ich hatten es vergangenen Sommer gebaut, aus Kanthölzern und Profilbrettern. Später sollte ich hier meine Unschuld verlieren.
»Er ...« Gebannt lauschten Rick, Benedikt und ich der Erzählung. Seit der Mutprobe am Wildbach vor einigen Jahren, bei der Rebecca über den glitschigen Baumstamm balanciert war, gehörte sie unserer Clique an.
»Der Mann ging in die Hocke, zog meine Jeans ein Stück nach oben und legte seine rauen Hände auf meine nackte Haut. Ich schrie ... Dann war es vorbei.«
Wir machten dumme Gesichter. Im Halbkreis saßen wir auf den Bodenbrettern um Rebecca, in der Mitte eine Schachtel Butterkekse. Laut konnte ich Rick schmatzen hören.
»Es wurde warm. Und auf einmal waren die Schmerzen fort. Es ist kaum zu glauben – die ganzen Kratzer und Blessuren. Sie waren einfach weg!«
»Er ... er hat deine Schmerzen durch ... Handauflegen geheilt?« Rick, ein schmächtiger Junge mit Sommersprossen und Hornbrille, vergaß zu kauen. Benny hingegen blieb skeptisch: »Vielleicht hast du dir alles nur eingebildet.«
»Nein.« Rebecca, die genauso gut auf Bäume klettern und Fußball spielen konnte wie wir Jungs, schüttelte so heftig den Kopf, dass ihre schulterlangen, rotbraunen Zöpfe in der Luft wild hin und her flogen. »Ich hab's gesehen. Ich hab's genau gesehen!«
Immer wieder beteuerte sie uns, dass sie die Wahrheit sprach. So lange, bis wir unserer Freundin endlich glaubten. Zwei Wochen später beschlossen wir, der Sache auf den Grund zu gehen.
Wir erreichten das baufällige Blockhaus am Waldrand im strömenden Regen, indem wir uns eine Schneise durch das Unterholz bahnten. Die Feuchtigkeit hatte bei dem Anwesen um sich gegriffen, Moos und emporrankender Efeu überwucherten Ziegelsteine und Dach.
»Gruselig hier«, raunte Benny. Rick stieß ihn an die Schulter. »Quatsch nicht.«
Die Vorhänge verwehrten uns den Einblick. Nur der Wind heulte, und der Regen tränkte unsere Kleidung so lange mit dicken Tropfen, bis wir klitschnass waren.
»Lasst uns umkehren.« Obwohl sie anfangs hellauf begeistert war, bereute Rebecca die Idee schon. »Er scheint nicht –«
Ein Knarzen. Unerwartet trat der Schattenmann hinter der Tür hervor. Eine hagere, griesgrämige Gestalt, mit hohlwangigem Gesicht, Bart und Haar, das wie Kraut auf seinem Schädel wucherte. Ich fröstelte. Seit er vor einigen Monaten zugezogen war, wurde mehr über den Schattenmann gemunkelt als über die Affäre des Pfarrers, der Anfang Dezember beim Schäferstündchen mit der Frau des Bürgermeisters erwischt worden war.
Natürlich hieß der Schattenmann nicht wirklich Schattenmann. Doch sein Äußeres und sein mürrisches Verhalten sorgten in der Kleinstadt für Gerede, und wird erst einmal geklatscht, so verbreiten sich Gerüchte weitaus schneller als ein Lauffeuer. Sie wieder loszuwerden ist ebenso unwahrscheinlich wie eine Sechs im Lotto.
Lange Zeit standen wir da wie begossene Pudel. Dann machte der Mann eine Handbewegung, die man mit etwas gutem Willen als Einladung betrachten konnte.
Das Blockhaus war spartanisch eingerichtet. Wir ließen uns auf einer Sitzgruppe nieder, die mindestens genauso alt sein musste wie der Besitzer, und das Sofa ächzte unter unserem Gewicht. Der Schattenmann reichte uns Kräuterlimonade, dann musterte er uns unverhohlen. Er durchbohrte uns dermaßen mit Blicken, dass ich den Eindruck gewann, er würde direkt in unsere Seelen blicken. Ich bemühte mich, diesen absurden Gedanken zu verscheuchen, doch es gelang mir nicht ganz.
»Was wollt ihr?«, krächzte er.
Rebecca nahm all ihren Mut zusammen und bedankte sich für die Hilfe am Vortag, und ich bewunderte sie dafür, dass es ihr gelungen war, den Kloß, den sie im Hals spürte, hinunterzuschlucken. Nach einigem Zögern fragte sie: »Sie ... Sie haben mir meine Schmerzen genommen und die Wunden geheilt. Wie haben Sie das gemacht? Das ... das war unglaublich!«
Der Schattenmann verzog keine Miene. Ich dachte schon, er würde alles abstreiten, aber da irrte ich mich.
»Ich kann es einfach«, murmelte er nach einem Zögern und zuckte die Schulter.
»Heilen durch Handauflegen?«, hakte Rick nach.
»Jaah.« Ein Nicken.
Rick war beeindruckt. »Dann ... dann sind Sie so was wie ein ...« Er suchte nach dem richtigen Wort. »Prophet?«
Der Mann lächelte. »Das ist zu viel der Ehre. Nein. Es ist vielmehr eine Gabe. Nicht mehr und nicht weniger. Ich hatte schon immer ›heilende Hände‹ und ein ›sehendes Herz‹.«
Wir staunten Bauklötze und ließen die Information auf uns wirken. Wir mussten sie erst einmal verarbeiten.
»Wie haben Sie das eigentlich bemerkt?«, wollte ich schließlich wissen. »Ich meine, Ihnen muss als Kind ja irgendwann mal aufgefallen sein, dass Sie was können, was andere nicht können, oder?«
»Oh ja, natürlich!« Wieder huschte ein Lächeln über das Gesicht des Schattenmanns. »Es war ein Vogel, der gegen die Scheibe flog und sich das Genick brach. Ich hielt ihn in Händen und wünschte mir, er wäre wieder lebendig – und auf einmal rappelte er sich auf, streckte die Flügel aus und flog davon! Könnt ihr euch vorstellen, wie verdutzt ich war?« Nun lachte der Mann. Die Geschichte begeisterte ihn noch heute, und ich glaube, er erzählte sie gerne.
Er wurde wieder ernst. »Versprecht mir eines: »Erzählt nichts den Erwachsenen. Nicht alle glauben, was man ihnen sagt, und nicht alle sind so fasziniert wie ihr, redet man von Wunderheilung. Vielen erscheint sie doch eher suspekt.« Der Einsieder sah uns erwartungsvoll an. »Versprecht ihr mir das?«
Wir versprachen es.
Insgesamt durchlöcherten wir den Mann über eine Stunde mit Fragen. Er wurde 1941 in Augsburg geboren, so berichtete er, die Jugend verbrachte er nach dem frühen Tod seiner Eltern in einem Internat. Sein größter Traum war es, Medizin zu studieren, doch am Ende machte das fehlende Geld ihm einen Strich durch die Rechnung. Nach einer handwerklichen Ausbildung schlug er sich mit Gelegenheitsjobs durchs Leben. Ich hätte gerne mehr erfahren, doch irgendwann mussten wir nach Hause. Trotzdem war es ein Nachmittag, den ich noch immer in guter Erinnerung habe und der uns alle prägte. Wir schlossen nicht aus, den Einsiedler erneut zu besuchen. Doch zuvor hatten wir eine alte Rechnung zu begleichen.
Es kostete mich Mut, an einem lauen Wochentag die Höhle des Löwen zu betreten. Ich klingelte. Franks Mutter öffnete. Ich erkundigte mich nach ihrem Sohn, der, wie erwartet, nicht zu Hause war. Frank spielte mittwochs immer Basketball. Dann machte ich eine enttäuschte Miene und log das Blaue vom Himmel herunter.
»Er hat dir ein Buch geliehen?« Frau Becker war das Misstrauen in Person. »Und das brauchst du jetzt sofort? Kann das nicht bis morgen in der Schule warten?«
»Leider nein. Meine Mutter möchte es haben.«
»Deine Mutter?«
»Hab wohl eines ihrer Rezepte zwischen die Seiten gesteckt. Sie will es jetzt, um ’nen Kuchen zu backen.«
Daraufhin gab sich die Frau endlich zufrieden. Ich stieg die schmalen Stufen hinauf und fand mich in Franks Zimmer wieder, einem Tohuwabohu aus Wäsche, Schulsachen und Kassetten, verteilt auf farbigen Plastikmöbeln und Teppich. Auf einem kleinen Schemel neben Franks Schreibtisch saß sie. Franks geliebte Hausratte. Ihr Verschwinden würde schmerzlich für ihn sein. Die Genugtuung für das, was er Rebecca angetan hatte.
Ich nahm den verchromten Käfig und ging auf leisen Sohlen zurück. In der Küche klapperte Geschirr.
»Hast du das Buch gefunden?«
Mitten in der Bewegung hielt ich inne. Das Herz rutschte mir in die Hose, meine Muskeln spannten sich an. Um ein Haar hätte ich den Käfig fallen lassen. Inständig hoffte ich, Franks Mutter käme nicht auf die Idee, in den Flur zu treten.
»Ja, hab ich.« Mir wurde abwechselnd heiß und kalt. Mit dem Rattenkäfig in der Hand rannte ich, was das Zeug hielt.
Eine hartnäckige Magen-Darm-Grippe fesselte Frank vierzehn Tage ans Bett, und so hatten wir eine Zeit lang Ruhe vor unserem Rivalen. Er kochte innerlich vor Wut, so erfuhren wir von Mitschülern, und daran war nicht allein das Fieber schuld. Eine ganze Weile brauchte er, um herauszufinden, wer hinter dem Diebstahl steckte, die Zahl seiner Feinde war hoch. Verborgen im Baumhaus versorgte ich den Nager in dieser Zeit täglich mit Gemüse- und Körnermischungen.
Wir besuchten immer wieder Timotheus. So hatte sich der Schattenmann uns vorgestellt. Viele Nachmittage verbrachten wir von nun an bei ihm. Wir redeten über Gott und die Welt, wir spielten Karten und Brettspiele. Bald fanden wir heraus, welch weicher Kern sich hinter der harten Schale des verbitterten Einsiedlers verbarg. Nach und nach blühte er auf wie eine Blume, die ihre volle Schönheit entfaltet. Langweilig wurde uns nie.
Im Laufe des Frühjahrs entwickelte sich so eine harmonische Freundschaft. Eine Freundschaft, die wir vor den Erwachsenen, die dem Einsiedler weiter misstrauisch gegenüberstanden, geheim hielten. Genauso wie die Gabe, die er besaß. So hatten wir es versprochen. Die Predigt über das Fernbleiben von dem Mann, die unsere Eltern uns gehalten hätten, hätte jede kirchliche in den Schatten gestellt.
Timotheus wusste zu unterhalten. Oft erzählte er uns Geschichten. Das konnte er sehr gut. Über sein eigenes Leben, oder über das anderer Leute, von denen er vorgab, sie zu kennen. Er musste sehr vielen interessanten Menschen über den Weg gelaufen sein und ein fotografisches Gedächtnis haben, glaubte man seinen Ausführungen. Zwar bin ich im Zweifel, ob auch nur die Hälfte davon der Wahrheit entsprach, doch uns störte es nicht, wenn er etwas flunkerte. Nur über seine Vergangenheit redete er selten, als ob er manches geheim halten wollte wie einen Schatz. Wir bestürmten ihn mit Fragen, doch oft blieben seine Lippen versiegelt.
Der Geruch des frisch gemähten Grases stieg uns in die Nase, es war ein sonnenverwöhnter Tag in den Pfingstferien. Wir erklommen mit Timotheus und unseren Drahteseln den Burgberg und kamen dabei ganz schön ins Schwitzen. Gegen Mittag besichtigten wir die Luisenburg und bestaunten im Museum alte Waffen und Ritterrüstungen, am Nachmittag picknickten wir. Rebecca breitete auf der Wiese die Decke aus und scheuchte die Fliegen beiseite (nun ja, sie versuchte es).
»So dickköpfige Fliegen hab ich ja noch nie gesehen!«, schimpfte sie.
Rick grinste. »Verwandtschaft von Benny?«
»Ha ha«, machte Benedikt.
Ich erleichterte unsere Rucksäcke um die Lunchpakete. Ein naher Quellbrunnen bot Trinkwasser, es duftete nach Blumen. Wespen und Grillen kamen näher. Und – Frank.
Während wir herumalberten, tauchte er mit Valentin, Thomas und Karsten auf. Die Jungs hingen wie immer zusammen wie Kletten.
Unsere verblüfften Gesichter amüsierten Frank. Valentin schnappte sich meinen Walkman, der im Gras lag.
»Nett von euch, uns auf einen Imbiss einzuladen.«
Rick erholte sich als Erster wieder aus der Starre und leckte gründlich ein Sandwich mit der Zunge ab. Er reichte es unserem Erzfeind. »Keine Ursache. Wir teilen doch gerne.«
Franks Grinsen erstarb und sein Gesicht nahm daraufhin die Farbe einer Blutorange an. Wir lachten.
»Na warte, Dumpfbacke ...« Er stürzte sich auf Rick, doch Timotheus trat dazwischen.
»Sachte, Junge.« Seine Art, die Dinge ruhig anzugehen, bewunderte ich oft. Wenn er sich ebenfalls über Franks Unverfrorenheit ärgerte, so ließ er es sich nicht anmerken. »Das ist unser Picknick«, erklärte er in einem Ton, in dem man kleine Kinder ermahnt. »Sucht euch woanders ’nen Platz und macht euch selbst was zu essen.«
»Das hättest du wohl gern!«, stänkerte Frank. Er wandte sich an mich: »Ihr habt da was, was mir gehört.«
Die Ratte. Ich tat, als wüsste ich nicht, wovon er redete. Frank ballte die Fäuste. Aber Timotheus berührte seine Hände, und auf einmal heulte Frank auf, als hätte er gerade in Säure gegriffen. Timotheus ließ los. Frank taumelte zurück. Überraschung, Schmerz und Zorn loderten gleichermaßen in seinen feuchten Augen. Die Haut an seinen Fingern schälte sich. Hasserfüllt starrte er Timotheus an. Dann trollte er sich davon. Seine Kumpel folgten ihm verdutzt. Sie verstanden nicht einmal annähernd, was sich gerade abgespielt hatte.
Licht und Schatten liegen eng beisammen. Das begriffen wir an diesem Tag. Timotheus konnte Menschen heilen. Doch er konnte ihnen auch Leid zufügen.
Dienstag, der sechste Juni war nicht nur der erste Schultag nach den Ferien, sondern gleichzeitig der Auftakt einer Episode, auf die ich liebend gern verzichtet hätte. Frank kam in der Aula auf zu uns. Sofort verstummten die Gespräche.
»Ich fordere euch zu einem Wettstreit auf«, begann er ohne Umschweife. Ich sah ihm förmlich an, wie schwer es ihm fiel, mir nicht gleich an die Gurgel zu gehen, doch er beherrschte sich.
»Ein Wettstreit?« Argwöhnisch runzelte ich die Stirn.
»Vier von euch gegen vier von uns. Wer zuerst am Boden liegt, hat verloren. Vielleicht können wir so unseren jahrelangen Streit zu Ende bringen?«
Rebecca, Rick, Benedikt und ich überlegten. Nach einem Kampf Mann gegen Mann ein für alle Mal Ruhe vor Frank und seinen Anhängern zu haben, war ein erwägenswertes Angebot. Aber konnten wir ihm trauen? Ich hatte große Zweifel.
Als keiner von uns Vieren Anstalten machte, etwas darauf zu erwidern, setzte Frank uns ein Ultimatum: »Siebzehnter Juni, achtzehn Uhr, der Parkplatz auf dem alten Güterbahnhof. Entweder ihr kommt, oder ihr seid tot. Und vergesst die Ratte nicht!«
In Timotheus' Blockhütte hielten wir am darauf folgenden Nachmittag Krisensitzung. Wir berichtete ihm von den bevorstehenden Wettstreit, und da hielt er mitten in der Bewegung inne und erstarrte zur Salzsäule. Sein Gesicht wurde aschfahl, deutlich sah man ihm an, dass er sich große Sorgen machte. Mit einem Male war er um Jahre gealtert.
»Geht nicht darauf ein«, warnte er, nachdem er sich wieder einigermaßen gefangen hatte. »Bitte. Sagt den Wettstreit ab. Ihr müsst den Wettstreit absagen!«
»Aber wir könnten Frank besiegen! Du könntest uns vielleicht sogar dabei helfen!« Seine Reaktion erschien mir in diesem Moment vollkommen übertrieben.
Timotheus rang mit sich. Lange Zeit starrte er ins Leere. Wir warteten auf seine Antwort. Als er den Kopf schüttelte, waren wir maßlos enttäuscht.
»Aber wir hätten endlich Ruhe vor Frank!«, rief ich.
»Bist du dir da so sicher? Bei einer solchen Konfrontation kann es nur Verlierer geben. Was ist gewonnen, wenn die eine oder andere Seite den Kampfplatz als Sieger verlässt?«
Ich schwieg.
»Du könntest wenigstens —«
»Nein.« Timotheus duldete keinen Widerspruch. Er sah mich böse an, als würde ich versuchen, ihn zu verführen. »Ich missbrauche meine Fähigkeiten nicht! Ich bin es leid, überall mit hineingezogen zu werden. Macht, was ihr wollt – aber ohne mich!«
Danach herrschte eisiges Schweigen.
Entgegen Timotheus' und Rebeccas Willen nahmen wir die Herausforderung an. Das Angebot, nicht teilnehmen zu müssen, schlug unsere Freundin jedoch aus. Becca würde nicht kneifen.
»Nie und nimmer lass ich euch alleine!«, sagte sie. »Entweder, wir machen alle mit, oder niemand.«
Somit war es entschieden. Uns blieb eine Woche. Wir nutzten sie von früh bis spät.
Wir stärkten unsere Fitness durch Lauftraining in der Nähe des Wildbachs und kämpften gegeneinander. So hielten wir unsere Angst in Zaum. Wir würden uns nicht von Frank provozieren lassen, aber auch nicht nachgeben. Nur im Notfall, so beschlossen wir, würden wir uns aus dem Staub machen.
Neben den Hausaufgaben, die manchmal ziemlich lästig wurden, nahm das Training beinahe unsere ganze Freizeit in Anspruch. Die Woche erwies sich als die anstrengendste in dem Jahr. Aber sie war es uns wert. Nur gegen Rebecca wollte keiner von uns so richtig kämpfen.
»Ich mach das nicht«, sagte Rick und trat zögerlich einen Schritt zurück. »Ich kämpfe doch nicht gegen ein Mädchen!«
Becca sah ihn geringschätzig an. »Als ob ich es mit dir nicht aufnehmen könnte!«, pfiff sie verächtlich. Und an Benny und mich gewandt: »Wie steht's mit euch? Zieht ihr auch die Schwänze ein, oder seid wenigstens ihr Manns genug?« Sie boxte Benedikt sanft in die Brust. Benny ließ es zunächst geschehen; dann, als die Schläge härter wurden, wehrte er sich. Doch Rebecca war stark. Ich musste meinem Freund zu Hilfe eilen, und am Ende fanden wir uns alle vier in einer wilden Rangelei wieder. Einmal mehr hatte Rebecca ihren Mut bewiesen.
Wir kundschafteten die Gegend um den alten Güterbahnhof aus, um das Gelände zu überblicken. Bald kannten wir es besser als unsere Westentaschen.
Doch es kam alles anders.
»Es gibt da ein kleines Problem«, versuchte ich, die Nachricht Rebecca und den anderen zwei Tage vor dem Wettstreit möglichst schonend beizubringen.
»Hast du etwa ’nen Pickel im Gesicht?«, scherzte Rick.
»Schlimmer.«
»Am Po?«
»Die Ratte.«
»Was ist mit der Ratte?
»Na ja. Sie, äh ... Sie sieht seit heute Morgen die Radieschen von unten.«
Die Faust von Frank hätte meine Freunde nicht härter treffen können. Drei Augenpaare spießten mich auf mit Blicken, als hätte ich ihnen gerade das Ende der Welt prophezeit.
»Was?«, fragte Benny.
»Sie ist tot«, wiederholte ich kleinlaut. »T-o-t. Mausetot. Toter geht’s gar nicht.«
»Du hast sie ...«
»Natürlich nicht. Sie liegt einfach tot im Käfig. Vielleicht hat sie das Futter nicht vertragen oder so.«
Nachdem der erste Schrecken überwunden war, kauften wir einen Ersatz. Die tote Ratte verscharrten wir im Wald.
Der Güterbahnhof fristete sein Dasein unweit der Bahnstation Halmfelds, überwuchert von üppigem Unkraut und Gestrüpp. Auf den rostigen, kupferfarbenen Schienen behauptete ein alter Eisenbahnwaggon sein Revier. Angespannt warteten wir auf dem Parkplatz neben den Gleisen. Die Kirchturmuhr läutete zur vollen Stunde, dann trafen Frank und seine Aasgeier ein. Sie kamen von der anderen Seite des Schienenstrangs, stiegen über die Gleise und marschierten auf uns zu. Franks Augen triumphierten, als er uns sah. Er war sichtlich erfreut, dass wir seinem Aufruf gefolgt waren. In Reih und Glied standen wir uns schließlich gegenüber wie in einem Showdown, den man aus Western kennt.
Wir tauschten Ratte gegen Walkman. Franks Blick konnte ich nicht deuten, doch er schien den Schwindel nicht bemerkt zu haben. Mir wurde leichter ums Herz.
»Und jetzt wollen wir sehen, wer von uns der Stärkere ist.«
Wir traten zurück zu unseren Freunden, um die letzten Einzelheiten des Wettkampfes zu besprechen. Ich musste an Timotheus denken. Mit ihm hätten wir uns mutiger gefühlt. Doch wir hatten seine Entscheidung, sich aus unserer Fehde herauszuhalten, ebenso respektiert wie er die unsere, den Wettkampf anzutreten. Wir mussten selbst sehen, wie wir zurechtkamen.
Endlich setzte Frank zum Angriff an. Mit geballten Fäusten ging er auf Benedikt los und boxte ihm in den Magen. Benny wehrte die Schläge ab, wandte sich zur Seite und stellte Frank ein Bein. Thomas warf sich gegen Rick, der durch den Stoß überrumpelt zu Boden sackte. Karsten und Rebecca sprengten dazwischen. Das Mädchen fiel rücklings über Ricky. Als Karsten sich zu Becca hinab beugte, drückte sie ihm ihre Daumen in die Augen. Karsten musste sie für einen Moment schließen und sich wegdrehen. Rebecca holte aus und trat Karsten gegen das Schienbein.
Ein harter Tritt von Valentin in den Rücken ließ mich einige Schritte nach vorne taumeln und ich fiel ins Gebüsch. Mir wurde schummrig vor Augen.
Frank hämmerte Benny ein paar Male auf die Rippen. Ich sah es kommen, schleuderte Valentin auf Frank und versetzte Valentin einen Kinnhaken.
Rebecca lag am Boden. Karsten presste ihre Hände auf die Pflastersteine, damit sie unfähig war, sich zu wehren.
Wahrscheinlich hätten wir es sogar geschafft, am Ende als Sieger dazustehen, wäre es ein gerechter Kampf gewesen. Wir waren an dem Tag alle gut in Form und achteten darauf, ständig in Bewegung zu bleiben. Frank und seine Freunde merkten bald, dass wir doch nicht so leicht zu besiegen waren, wie sie es sich ausgemalt hatten. Doch meine flaue Vorahnung, dass etwas schief gehen würde, hatte mich nicht getrogen. Ehe wir uns versahen, hatte Frank eine Pistole in der Hand und hielt Benny die Mündung dreist an die Kehle.
»Einen Schritt näher, und euer Freund ist tot!«
Wir hielten inne. Erst nach und nach begriff ich das volle Ausmaß von Franks Worten, und ich glaube, meinen Freunden ging es in diesem Moment ähnlich.
Benny litt Todesangst.
»Nimm die Waffe runter, Frank.« Meine Stimme zitterte wie Espenlaub. Es war vielmehr eine Bitte als eine Drohung. Ich stand auf sehr dünnem Eis und musste aufpassen, um nicht einzubrechen.
Frank lachte höhnisch.
Wir hatten gedacht, er wäre Manns genug gewesen, uns fair gegenüberzutreten. Wir hatten uns geirrt. Ich konnte nur hoffen, dass die Kleinkaliber-Pistole nicht geladen oder wenigstens gesichert war. Frank musste sie für den Fall, dass ihm etwas nicht in den Kram passte, von seinem Vater gemopst haben, der Sportschütze war.
»Niemand besiegt mich. Und ihr Arschgeigen, ihr schafft das auch nicht! Glaubt ihr wirklich, ihr kommt gegen mich an? Vergesst es! Und mir eine falsche Ratte anzudrehen – das ist der Obergipfel!« Frank fletschte die Zähne. In seinen Augen loderte blanker Hass.
Kalte Schweißperlen bildeten sich auf meiner Stirn, obwohl es sehr heiß war. Jetzt nur keinen Fehler machen, schoss es mir durch den Kopf. Das Eis unter meinen Füßen knisterte. Erste Risse zeichneten sich ab.
»Das ... das ist nicht fair«, stammelte ich. »Wir hatten dein Wort! Das ist einfach nicht fair! Und die Ratte ... es war nicht unsere Schuld. Sie –«
Ehe ich meinen Satz zu Ende bringen konnte, stürzte sich aus heiterem Himmel Rebecca auf Frank, gefolgt von Benedikt, der versuchte, Frank die Waffe zu entreißen. Doch die Überraschung währte nur eine Sekunde.
Karsten, Valentin und Thomas kamen ihrem Anführer zu Hilfe, und schließlich fanden auch Rick und ich uns in der Rangelei wieder. Gegenseitig versuchten wir, uns zu übertrumpfen. So lange, bis sich ein Schuss löste.
Mein Herz setzte einen Schlag aus. Das Projektil traf Rebecca. Ricky kreischte. Er stürmte auf sie zu. Doch ehe er es schaffte, sie aufzufangen, taumelte das Mädchen nach hinten und knallte mit dem Kopf auf die Pflastersteine. Wie gelähmt starrte ich auf die sich vergrößernde Blutlache. Rebecca war tot.
Ich dachte wieder an Timotheus. Er hatte gewusst, der Wettstreit würde ein tragisches Ende nehmen und uns gewarnt. Doch helfen wollte er uns nicht.
Frank schluckte erst mal. Der Rückstoß und der Knall der Handfeuerwaffe hatten ihn selbst erschreckt. Ohne es zu wollen, hatte er Rebecca in den Bauch geschossen. Vermutlich unterschätzte er bisher, welch gefährliches Instrument er da in Händen hielt. Oder er wollte uns nur einen Schrecken einjagen und dachte, die Waffe wäre gesichert.
Dann redeten wir alle wild durcheinander, bewarfen uns gegenseitig mit Vorwürfen, horchten nach Rebeccas Herzschlag, und mir wurde übel vor Sorge, da sie sich noch immer nicht rührte. Benny lief zum nächsten Haus, um einen Notarzt zu verständigen.
»Du Schwein! Du hast sie umgebracht ... Mörder!«
Die Pferde gingen mit Ricky durch. Er stürzte sich frontal auf Frank, der um ein Haar gestürzt wäre. Frank schaffte es, das Gleichgewicht zu bewahren und Rick ins Gesicht zu schlagen, dann stellte er ihm ein Bein und Rick fiel zu Boden. Drohend richtete Frank die Pistole auf meinen Freund.
»Nein –«, schrie ich entsetzt.
Doch es kam zu keinem weiteren Schuss. Mit einem lauten Schrei ließ Frank die schwere Kleinkaliber-Pistole zu Boden fallen. Der Griff war glühend heiß geworden. Erschrocken betrachtete er seine Handfläche. Sie war mit Brandwunden übersät. Frank keuchte.
Ein Rascheln ließ mich aufhorchen. Ich traute meinen Augen nicht. Hinter einem der Holunderbüsche trat mit ausgestrecktem Arm Timotheus hervor, die Handfläche senkrecht. Der Einsiedler musste es sich doch noch einmal überlegt haben. Obwohl er Frank nicht einmal nahe gekommen war, schien eine unsichtbare Kraft von ihm auszugehen, die die Pistole hatte heiß werden lassen.
Franks Kumpel versuchten, sich ihm in den Weg zu stellen, doch es fiel dem Mann leicht, sie außer Gefecht zu setzen. Eine einzige Handbewegung genügte, damit sie zu Boden sackten.
»Habt ihr es noch immer nicht kapiert, Jungs? Das Spiel ist vorbei. Wollt ihr etwa noch mehr Schaden anrichten?«
Frank, Karsten, Valentin und Thomas suchten das Weite.
Timotheus fühlte Rebeccas Puls.
»Ist sie ...?« Ich konnte den Satz nicht vollenden.
Der Einsiedler schwieg und begutachtete Rebeccas blutunterlaufene Fleischwunde. Er legte die Hände auf ihren Bauch, genau auf die Stelle, an der das Projektil das Mädchen getroffen hatte. Timotheus schloss er die Augen und konzentrierte sich. Das Blut färbte seine Finger rot, doch er merkte es nicht.
Salzige Tränen kullerten meine Wange hinunter. »Nun sag schon ... Du kannst ihr doch helfen, oder? Oder?«
Er wirkte abwesend. »Es ist immer dasselbe.« Seine Stimme klang bitter. »Egal, wohin ich gehe – immer geschieht irgendwas!«
Dann brach er zusammen.
Eine Woche verbrachte der Einsiedler in der Klinik. Sein Eingreifen hatte ihn vollkommen erschöpft. Beinahe hätte es ihm das Leben gekostet.
Wir besuchten ihn Tag für Tag. So lange, bis Timotheus entlassen wurde und wir den Einsiedler niemals mehr wieder sahen.
»Er ist weg«, sprudelte Benedikt atemlos hervor.
»Was?« Ich musste mich verhört haben. Ich war gerade vom Nachmittagsunterricht nach Hause gekommen und stellte mein Fahrrad am Gartentor ab. Binomische Formeln umschwirrten noch meinen Geist.
»Er ist abgehauen, Markus. Er ist einfach abgehauen!«
Ich wollte und konnte es nicht glauben. Aber es war so.
Wir spähten am Abend durch die schmutzigen Fenster der Blockhütte, doch die Räume, die ohne Möbel viel größer wirkten, waren leer.
An der Eingangstür fanden wir einen handschriftlichen Zettel:
Gerne wäre ich geblieben.
Ich kann nicht.
Eine Gabe verpflichtet. Sie zollt ihren Tribut.
Timotheus
Lange Zeit starrten wir schweigend und enttäuscht auf die Notiz. Benny hatte Tränen in den Augen. Wie konnte Timotheus uns das nur antun?
»Er hätte sich wenigstens persönlich von uns verabschieden können«, bemerkte Rick enttäuscht.
»Hättest du das an seiner Stelle gekonnt?«, warf ich ein.
Ricky schieg.
Die meisten Leute aus Halmfeld nahmen das Verschwinden des Schattenmanns mit Erleichterung auf. So blieben wir die einzigen Menschen, die Timotheus' wahres Ich kennenlernen durften.
Rebecca weilte wieder unter den Lebenden. Es war ein wahres Wunder, das Timotheus erbracht hatte. Wie gut, dass der Notarzt rechtzeitig eintraf, um ihn zu retten.
Frank ging uns seit dem Wettstreit am Güterbahnhof aus dem Weg. Ich glaube, er bereute sein unüberlegtes Tun. Ob Timotheus' Worte es waren, die ihn halbwegs zur Vernunft brachten, oder etwas anderes, kann ich nicht sagen. Als er jedoch Rebecca begegnete und erkannte, sie war am Leben, sah er erleichtert aus. Es war eines der wenigen Male, dass er einen menschlichen Eindruck auf mich machte. Denkbar wäre aber auch, dass die Angst vor einer Strafe ihm Sorge bereitet hatte.
Ich glaube, es ist Timotheus' Bestimmung, als Wanderer von Ort zu Ort zu ziehen. Zu den nächsten Menschen. Zum nächsten Unheil. Er kann kein »normales« Leben führen. So sehr er es sich wünscht – er kann es nicht. Nicht einmal, wenn er sich zurückzieht.
Es muss schwer sein, sein Leben in Episoden zu leben und heute nicht zu wissen, wo man morgen ist. Geborgenheit bleibt dabei auf der Strecke. Unsere Freundschaft muss für den Einsiedler daher mindestens ebenso außergewöhnlich gewesen sein wie für Rebecca, Rick, Benedikt und mich seine Fähigkeiten.
Timotheus ging fort.
Zurückgeblieben sind die Erinnerungen.
Copyright by Michael Elflein 2005/2007/2009