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Eintagsschildkröten

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15.06.2024
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Anmerkungen zum Text

Vor ein paar Monaten habe ich die ursprüngliche Fassung dieses Textes im Forum hochgeladen. Ich bin nun endlich dazu gekommen, sie zu bearbeiten bzw. die Idee ein bisschen auszubauen. Ich freue mich sehr über Rückmeldungen!

Eintagsschildkröten

Schatten wie leere Schildkrötenpanzer oder Schneckenhäuser, keine Feuchtigkeit ist mehra darin, nur Sand und Staub. Es ist so heiß, dass die Leute in ihren Gärten eingeschlafen sind. Auch die alte Nachbarin schläft. Durch den Zaun hindurch kann ich ihren schweren Atem hören. Alles zieht sich zusammen unter dieser Sonne, will sich schließen, Blumen,
Schnecken, Augen. Grelles Licht durchdringt die Lider, lässt sie rot leuchten, unerträglich rot. In den Atempausen der Schläfer kann man die Seufzer der Schlaflosen in ihren Fieberzelten hören.

Georg, erinnerst du dich an die Traumgasse mit den fensterlosen Häusern? Auch Türen gab es dort nicht, wie Gesichtslose sahen uns die Häuserfronten an. Du musst dich erinnern, du warst ja auch in meinem Traum. „Die Menschen in den Häusern schlafen“, hast du gesagt und legtest deinen Finger auf die Lippen: Da konnte auch ich ihr Schnarchen hören und sah, dass
die Wände ganz dünn waren und leicht erzitterten. Als ich aufgewacht bin, wusste ich erst nicht, wo ich war. Du bist neben mir auf unserer Bank gesessen, die eigentlich eure Bank war, also deine und die der alten Nachbarin. Aber wir sagten immer „unsere Bank“. Dann hast du den Traum für mich aufgeschrieben. Ich fragte dich, was der Traum bedeuten würde, aber du sagtest, die meisten Träume hätten keine Bedeutung. Es sei nur ein sehr später Traum gewesen, der letzte vor dem Aufwachen wahrscheinlich. Kurz vor dem Aufwachen könne
man manchmal sein eigenes Schnarchen hören, sagtest du, das sei ganz normal. Alle meine Träume, in denen er vorkam, musste ich Georg erzählen, damit er sie aufschreiben konnte. In sein Traumtagebuch, wie er es nannte, obwohl er auch die gewöhnlichen Dinge hineinschrieb, nicht nur die Träume. Man kann nie wissen, wann man träumt und wann nicht, hat er gesagt. Man kann nie wissen, wann man träumt und wann nicht, hast du gesagt, Georg. Weißt du, dass ich keine Träume mehr habe, seit du nicht mehr da bist? Abends liege ich lange wach und wenn ich morgens aufstehe, bin ich mir nicht einmal sicher, ob ich geschlafen habe oder nicht. Nur an das lange Wachliegen erinnere ich mich.

Ich gehe immer noch oft in den Garten und schaue durch das Loch im Zaun, durch das ich früher immer geschlüpft bin. Seit Georg nicht mehr da ist, lässt die alte Nachbarin diesen Teil des Gartens verwildern und unsere Bank versinkt im hohen Gras. Nur um ihren Gemüsegarten kümmert sie sich noch, verteidigt ihn unter Aufbietung all ihrer Kräfte gegen die Vögel, die im Frühling die Setzlinge aus der Erde zupfen und gegen die Schnecken, die sich an den
Salatpflanzen zu schaffen machen. Vor allem die Schnecken hasst sie. Deine Schnecken,
Georg.

Immer noch klappern ihre Holzschuhe auf den Fliesen, wenn sie in den Garten geht. Georg erklärte mir damals, die Holzschuhe würde sie nur tragen, um einen festeren Tritt zu haben, wenn sie die Schnecken zerstampft. Kam sie aus dem Garten zurück, waren ihre Schritte immer lautlos, nur ein leises Schmatzen konnte man hören, wenn sie mit den Sohlen am Boden kleben blieb. Georg nannte sie „Hexe“ und warf ihr vor, Freude dabei zu empfinden, die Schnecken zu zertreten. Zur Strafe musste er die Holzschuhe putzen, die klebrige Masse aus Fühlern und Schleim von den harten Sohlen abziehen. Jedes Mal wurde er kreidebleich und seine Finger zitterten. So fest hatte sie zugetreten, dass man die zerstampften Schnecken nicht mehr voneinander unterscheiden konnte. Georg sagte, man hätte die Fühler zählen müssen, um sagen zu können, aus wie vielen Schnecken der Brei bestand.

Sobald die alte Nachbarin schlief, schlichen wir uns in den Gemüsegarten. Georg sammelte die Schnecken ein und ich das blaue Korn. Er musste lange auf mich einreden: „Es ist kein Stehlen, solange wir nur die Schnecken mitnehmen. Und wenn wir die Schnecken mitnehmen, wird das Schneckenkorn auch nicht mehr gebraucht.“ Zögerlich streifte ich ein Paar Gummihandschuhe über. Georg fasste die Schnecken mit bloßen Fingern an, auch die Nacktschnecken. Er hatte keine Scheu vor dem Schleim und den Schaum, den sie ausschwitzten. Augenblicklich zogen sie sich zusammen, wurden zu dicken, weichen Kugeln, sobald zwei Finger sie umschlossen. Auch ich zuckte jedes Mal zusammen, wenn ich dabei zusah. Als die alte Nachbarin aufwachte, dachte sie, die Schnecken hätten das Korn gefressen und seien an der Vergiftung zugrunde gegangen. Dabei hast du sie alle weggetragen, Georg.

Die sonnengeschützte Stelle hinter dem Haus nannten wir den „Schneckengarten“. Die
Schatten lagen dort wie nasse Handtücher im Gras, sogen sich mit Tau und Regenwasser voll. Auch die Sitzfläche unserer Bank war immer nass, moosgepolstert. Immer, wenn ich kam, brachte ich eine alte Zeitung mit, die wir darauf ausbreiteten, bevor wir uns setzten. Oft sprachen wir stundenlang nichts. Georg betrachteten den Himmel oder die Schnecken, die vor uns in der Wiese krochen, an den Gurkenscheiben und Salatblättern knabberten, die wir ihnen zuwarfen. Dann wieder zupfte er am Moos herum, als würde er etwas suchen.
Hin und wieder blickte er auf die Zeitung, auf der wir saßen. Wenn ihn etwas interessierte, musste ich aufstehen, damit er die Zeile zu Ende lesen oder umblättern konnte. „Reisen an entfernte Orte“, las er vor. „Das klingt so, als hätte man die Welt mit Bleistift gezeichnet und gewisse Orte wieder ausradiert. So als hätte man sie ent-fernt.“ Ich zögerte, wollte abwarten, ob er lachen oder ernstbleiben würde. „Entfernte Orte“, wiederholte ich schließlich. Erst als er lachte, lachte ich auch.

Wenn nach einem Regenguss die Sonne herauskam, ging Georg auf die Straße, um die
Schnecken einzusammeln, die auf Asphalt zurückgeblieben waren. Er ließ sie auf seinem
Körper herumkriechen und setzte sich mit ihnen in den Schatten. Dann teilte ich die Blätter meiner Zeitung zwischen uns auf und setzte mich ans andere Ende der Bank, um nicht mit den Schnecken auf seiner Haut in Berührung zu kommen. „Georg,“ sagte ich, „weißt du, was uns der Chemie-Lehrer erzählt hat? Angeblich gibt es einen Tierversuch, bei dem eine chemische Substanz auf eine Nacktschnecke getropft wird. Dann schaut man, wie viel Schaum sie produziert und so kann man die ätzende Wirkung auf die Schleimhaut testen. Früher hat es noch ‘Kaninchenaugentest‘ geheißen. Der Chemie-Lehrer hat gesagt: ‘Jetzt nimmt man Schnecken, um keine Kaninchentränen mehr zählen zu müssen.‘ Dann haben alle in der Klasse gelacht.“ Georg sagte nichts, aber sein Gesicht war auf eine merkwürdige Weise verzogen, als täte ihm plötzlich etwas weh. „Keine Sorge, sagte ich, „wir haben es nicht
ausprobiert.“

Dann stand er auf, als er ins Licht trat, zogen sich die Schnecken auf seiner Haut zusammen. Wie Augen, die sich schließen wollen, dachte ich. Er spuckte sich auf die Finger, bevor er eine Schnecke nach der anderen ins Moos unter unserer Bank setzte. Ihre Spuren glitzerten auf seiner Haut. Dann kam er näher mit seinen nassen Schleimfingern und ich sprang auf. „Ist ja schon gut“, sagte er. Ich setzte mich wieder neben ihm hin. Unter mir kroch eine Nacktschnecke auf das dunkle Holzbein unserer Bank. Ich zog die Beine an und behielt sie im Blick.

Die Nacktschnecken vermehrten sich von Jahr zu Jahr. Georg schaffte es, die richtigen
Pärchen zusammenzutun und sie in der richtigen Stellung im Gras zu positionieren. Wenn Nacktschnecken sich begatten, sehen sie aus wie Lippen, die ein O bilden. Sie umkreisen sich so lange, bis sich das O mit Schleim füllt. Wie es genau weitergeht, weiß ich nicht. Ich hatte nicht die Geduld, die ganze Prozedur zu beobachten. „Es dauert einen ganzen Tag“, sagte Georg. Ich konnte mir nicht erklären, was er daran spannend fand, die Zeitlupentänze der Nacktschnecken zu beobachten. Sogar Notizen hat er sich gemacht, auf dem Bauch liegend.

Die Gehäuseschnecken wurden hingegen immer seltener, vor allem diese großen mit den grauen Häusern. Georg nannte sie „Schildkröten“, gleichzeitig meinte er, ihr Haus sei so zerbrechlich wie Eierschale. Wenn man eine mit beschädigtem Haus findet, müsse man ihr Eierschalensplitter zum Fressen hinlegen, das Material sei ähnlich, erklärte er mir. „Dann sind es aber keine Schildkröten, wenn ihre Häuser so zerbrechlich sind“, wandt ich ein. Georg verdrehte die Augen. „Meinetwegen“, sagte er, „dann sind es eben Eintagsschildkröten.“ Als ich daraufhin auf unserer Bank einschlief, träumte ich von einem Osterfest, an dem buntbemalte Schnecken in den Nesten herumkrochen. Zwei Hände griffen in das Nest, holten zwei Schnecken heraus und stießen sie zusammen wie gekochte Eier. Und ich hielt mir die Ohren zu, weil ich es nicht krachen hören wollte.

Als ich aufwachte, sagtest du mir, ich sehe verstört aus und fragtest mich, was denn geschehen sei. Aber diesen Traum habe ich für mich behalten. Ich wollte ihn dir nicht zumuten. Ich wollte nicht, dass auch du das Geräusch der splitternden Eintagsschildkrötenpanzer im Kopf hattest.

Ich weiß nicht, was bei dieser Hitze mit deinen Schnecken passiert, Georg. Die Schatten hinter dem Haus müssen längst ausgetrocknet sein. Ich glaube, dass der Gemüsegarten der Nachbarin der letzte feuchte Ort ist, den es gibt. Einmal in der Stunde geht sie hinaus, um ihre Salatpflanzen zu gießen, nur die Mittagsstunde setzt sie aus.

Immer noch streut sie eifrig Schutzkreise aus Schneckenkorn um ihre Beete, obwohl sie mittlerweile davon überzeugt ist, dass es nichts nützt. Gestern habe ich sie am Zaun getroffen. Sie hielt mir einen ihrer Salatköpfe vor das Gesicht, so, als wolle sie mich für etwas zur Rede stellen. „Alles fressen diese Biester, sogar das Schneckenkorn“, sagte sie. Die Salatpflanze fiel in ihrer Hand auseinander, die Blätter waren löchrig und an den Rändern braun. Eine Nacktschnecke saß in der Mitte. „Schau genauer hin“, sagte sie. „Siehst du die weißen Perlen nicht? Das sind Eier. Ein Schneckennest!“ Sie warf die Salatpflanze in die braune Tonne. Der Deckel sprang noch zweimal auf, dann war es einen Augenblick lang still. Die Nachbarin fixierte mich, während sie sich am Kinn kratzte. „Dabei mache ich mittlerweile gar nicht mehr den Fehler, sie mit der Gartenschere durchzuschneiden. Der Geruch lockt andere Schnecken an. Sie sind Kannibalen, musst du dir vorstellen. Jetzt streue ich Salz drüber. Es bleibt fast nichts übrig. Trotzdem werden es einfach nicht weniger.“ Ich schluckte. „Grobes oder feines Salz?“, fragte ich schließlich, weil mir nichts Besseres einfiel. Die Nachbarin runzelte die Stirn, wieder sah sie mich so komisch an. „Egal, welches Salz. Man kann auch Essig nehmen.“ Sie trocknete sich die Hände an ihrer Stoffjacke ab, bevor sie wieder in ihren Garten zurückhinkte. Auf halber Strecke blieb sie stehen. Ich dachte erst, sie würde zurückkommen, aber dann rieb sie sich nur die Schuhe im stacheligen Gras sauber.

Es war ein komischer Tag gestern. Der Himmel war so durchsichtig blau, ein leerer Spiegel, Flugzeuge zerkratzten ihn weit oben. Und der Wind hat sich so merkwürdig angeschlichen wie eine Gruppe Unsichtbarer. Sie ließen sich auf den freistehenden Sesseln und Bänken in den Gärten nieder. Als ich mich vorsichtig näherte, zogen sie weiter und die Hitze kehrte zurück. Ich musste wieder an die entfernten Orte denken, Georg.

 
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Hey, ich möchte nur sagen, dass ich deine Geschichte unglaublich gern gelesen habe. Ich sehe mich selbst nicht unbedingt als qualifiziert genug, um hier großartig Kritiken loszulassen, vor allem auch, weil ich deinen Schreibstil außerordentlich angenehm fand, werde aber trotzdem einfach mal mitteilen, was mir so aufgefallen ist. Besonders die Vergleiche hier haben mich jedoch sehr beeindruckt:

Die Schatten lagen dort wie nasse Handtücher im Gras, sogen sich mit Tau und Regenwasser voll.
als er ins Licht trat, zogen sich die Schnecken auf seiner Haut zusammen. Wie Augen, die sich schließen wollen, dachte ich.
Das "dachte ich" könnte man eventuell auch weglassen.
Der Himmel war so durchsichtig blau, ein leerer Spiegel, Flugzeuge zerkratzten ihn weit oben.
Insgesamt muss ich sagen, von all den Texten, die ich bisher hier gelesen habe, hat mich deiner auf eine sehr besondere Art fasziniert und das obwohl ich selbst schon mein Leben lang mehr oder weniger eine Phobie vor Nacktschnecken habe😄. Der Text hat etwas sehr Verträumtes und Melancholisches, auch wenn ich es interessant gefunden hätte, zu erfahren, was denn aus Georg geworden ist oder wie er genau mit der Nachbarin in Beziehung stand. Generell bleiben die Beziehungen zwischen den Charakteren ein wenig schleierhaft, auch zur Protagonistin hin. Gut möglich, dass du das so gewollt hast, was ich eine respektable Entscheidung finde, als Leser hätte ich mich jedoch über ein bisschen mehr Kontext diesbezüglich gefreut.

Ein paar kleine Rechtschreibfehler sind mir jedoch aufgefallen:

keine Feuchtigkeit ist mehra darin
Georg nannte sie Hexe und warf ihr vor, Freude dabei zu empfinden, die Schnecken zu zertreten.
Georg nannte sie Schildkröten
Die Anführungszeichen würde ich weglassen, sie wirken überflüssig.
Georg betrachteten den Himmel oder die Schnecken, die vor uns in der Wiese krochen, an den Gurkenscheiben und Salatblättern knabberten, die wir ihnen zuwarfen.
Nach dem zweiten Komma fehlt mir ein Bindewort. Zudem finde ich "werfen" in diesem Kontext ein wenig belustigend, da es klingt, als würden die Schnecken nach dem Gemüse jagen, wie Vögel oder Hunde. Dabei befürchte ich, brauchen diese Tiere ein wenig länger zum Auffinden und Verzehren. Etwas wie hinlegen oder füttern finde ich eventuell passender.
Wenn nach einem Regenguss die Sonne herauskam, ging Georg auf die Straße, um die
Schnecken einzusammeln, die auf dem Asphalt zurückgeblieben waren.
„Keine Sorge", sagte ich, „wir haben es nicht
ausprobiert.“

Folgenden Satz fand ich ein bisschen fehl am Platz, da es davor und danach um Träume geht. Er wirkt wie ein Einschub, dessen Sinn ich in diesem Kontext nicht ganz sehen kann:
Kurz vor dem Aufwachen könne
man manchmal sein eigenes Schnarchen hören, sagtest du, das sei ganz normal.

Manchmal ist es auch ein bisschen wacklig, wenn es darum geht, ob Georg in der 2. Sg./1.Pl oder 3. Person Sg. genannt wird. Da wechselst du oft Hin und Her. Manchmal auch inmitten eines Absatzes, wie hier:
Ich gehe immer noch oft in den Garten und schaue durch das Loch im Zaun, durch das ich früher immer geschlüpft bin. Seit Georg nicht mehr da ist, lässt die alte Nachbarin diesen Teil des Gartens verwildern und unsere Bank versinkt im hohen Gras. Nur um ihren Gemüsegarten kümmert sie sich noch, verteidigt ihn unter Aufbietung all ihrer Kräfte gegen die Vögel, die im Frühling die Setzlinge aus der Erde zupfen und gegen die Schnecken, die sich an den Salatpflanzen zu schaffen machen. Vor allem die Schnecken hasst sie. Deine Schnecken, Georg.
In diesem Punkt könnte man ein bisschen aufräumen. Meiner Meinung nach würde es auch funktionieren, wenn man Georg durchgängig in 2. Person anspricht oder zumindest im Rahmen eines Absatzes Kontinuität bewahrt.

Alles in allem, gefällt mir deine Geschichte jedoch sehr gut. Sie hat einen tollen und außergewöhnlichen Ansatz. Dein Schreibstil und deine oftmals in die Poetik gehende Wortwahl sind es jedoch, die deinen Text zu etwas sehr Besonderem gemacht haben. Also stellenweise echt extrem stark!

 

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