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Einstein ist relativ schön
Steffen, mein bester Kumpel, war mit seiner neuesten Eroberung zum Empfang gekommen. Diese unterhielt sich gerade etwas entfernt mit einigen Leuten; die Gelegenheit für Steffen, mein Urteil einzuholen; neugierig fragte er mich: „Und, was hältst du von ihr?“
„Hm … also mein Fall ist sie ja nicht unbedingt.“
„Wieso?!“ Steffen wirkte etwas ungeduldig. „Die ist doch total intelligent. Und verständnisvoll ist sie auch noch. Bei diesem Charakter darf man schon mal schwach werden.“ Erneut stand eine längere Diskussion an, denn ich war nicht so angetan, wie er sich das von mir als seinem besten Freund erwartet hatte. „Sieh mal Steffen“, begann ich, „ich finde nun mal, dass an einer Frau mehr dran sein muss als nur ihre inneren Werte. Was nützt dir das tollste Wesen, wenn dich beim Anblick des zugehörigen Menschen das kalte Grauen überkommt? Bei mir muss eine Frau zuerst einmal gut aussehen, der Charakter ist dann nur Draufgabe. Du weißt Steffen, die Einstellung ‚Hauptsache ein guter Charakter, Rest egal‘ finde ich ehrlich gesagt etwas oberflächlich.“ Steffen war niemand, der sich leicht und schon gar nicht durch offensichtliche Argumente überzeugen ließ. Der legte kameradschaftlich einen Arm um meine Schulter und lenkte mein Ohr in Richtung seiner neuen Flamme. Versuchend säuselte er dann: „Und jetzt hör ihr einmal genau zu.“ Nach einiger Zeit meinte er dann gönnerhaft: „Und du willst mir ernsthaft sagen, dass du DIE vom Rednerpult stoßen würdest?“
Ich musste ehrlich gestehen, dass sie einen ansprechenden Ausdruck hatte. Und die Prinzipien und Werte saßen auch genau an der richtigen Stelle. Gut, in manchen Punkten trug sie etwas dick auf, aber wer’s mag ... Charakter ist schließlich Geschmackssache.
Meinen Standpunkt wollte ich dennoch nicht so einfach aufgeben: „Vom Rednerpult vermutlich nicht, aber zu mehr als zum diskutieren taugt sie wahrscheinlich auch nicht. Davon einmal abgesehen, wie würdest du dich fühlen, wenn dich Frauen nur nach deinem Inneren beurteilen würden? Du bist ja nicht gerade ein Einstein …“ Mit diesem Argument wähnte ich ihn in der Falle. Fälschlicherweise. „Siehst du“, begann er, „das ist das Schöne an der Sache. Wir Männer haben’s da einfach besser. Wir müssen nicht klug, reich, nett sein oder Persönlichkeit besitzen. Ein bisschen was in der Hose, vorne üppig, hinten knackig, ansprechendes Gesicht – und schon stehen sie bei uns Schlange.“ „Aber du weißt schon“, hakte ich ein, „dass nicht alle Frauen so denken. Und dass sich auch nicht alle Frauen nur auf ihr Inneres reduzieren lassen; du erinnerst dich?!“ „Klar erinnere ich mich. Das war ja vielleicht auch eine Abfuhr letzte Woche. Da bezahle ich ihr einen Drink und dann schüttet sie ihn mir einfach ins Gesicht. Und gekeift hat sie dabei wie meine Ex: „Meine Titten sind hier unten!!“
Die Erinnerung ließ mich schmunzeln.
„Tja, die hatte aber wirklich große Augen.“
„Ich konnte gar nicht anders.“
„Ja.“
Nach einem kurzen Schwelgen in der Vergangenheit versuchte ich das Gespräch wieder aufzunehmen: „Weißt du, was mich heutzutage auch stört? Dass man sich schon gar nicht mehr sicher sein kann, was echt ist und was nicht. Siehst du, am Wissen und Wesen kann herumgepfuscht werden. Aber mit deinem Körper kommst du zur Welt, der ist einfach echt. Und mal ehrlich - bei all den Persönlichkeitserweiterungen, Wissens-Spritzen und Naivitätsabsaugungen kommt doch am Ende immer dasselbe raus. Irgendwann reden alle über die politische Lage und zitieren Kant.“ Endlich stimmte mir Steffen auch einmal zu: „Eigentlich hast du recht. Eine meiner verflossenen, Lisa, hat ja immer liebend gern Schlager gesungen. Ich hab sie erst vor einigen Wochen wieder gesehen – furchtbar, sag ich dir. So mit Wissen aufgespritzt, sie summt nur noch Wagner.“ Schweigend und trauernd schüttelten wir die Köpfe.
Nach einem kräftigen Schluck Bier knallte Steffen sein Glas auf die Theke.
"Weisst du was? Die Menschen sollten nur noch nach ihrem Äußeren beurteilt werden. Das wäre doch viel gerechter. Es ist doch so – Charakter und Persönlichkeit sind Geschmackssache. Punkt. Aber die Medien reden uns allen ein, möglichst klug, selbstbewusst und offen sein zu müssen. Intelligenz, Selbstbewusstsein und Offenheit sind demnach gut. Die Medien bewerten also etwas total Subjektives, das ist doch Blödsinn! Etwas Subjektives kann nur jeder selbst bewerten, warum lassen wir das überhaupt zu, dass dies die Medien tun?! Die Lösung ist ganz einfach: Wenn man absolute Werte zur ‚Bewertung’ der Menschen heranziehen würde, wäre die Welt fairer und besser. Die Medien könnten etwas Absolutes wie Haarfarbe, Größe, Gewicht, Körpermaße, ja meinetwegen auch Schwanzlänge nicht in ihr Gegenteil verkehren!“
Für einen kurzen Moment glaubte ich ihm. Ja, wirklich. Aber dann entdeckte uns Steffens jüngste Eroberung und kam selbstbewusst auf uns zu: "Ach hier versteckst du dich vor mir, Steffen!" Und charmant sprach sie zu mir gewandt: "Ich denke nicht, dass du mich deinem eloquenten Freund schon vorgestellt hast. Ich bin Lisa, Steffen und ich kennen uns von ..." Sie sprach weiter - und ich konnte nicht anders, als ihr einfach aufmerksam zuzuhören.
Ich habe ihr dabei sogar einmal in die Augen gestarrt.