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Einstürzende Mauern
Carmen saß in einem finsteren Verlies, ganz tief in eine Ecke geduckt. Dieses lag in einem dunklen Gemäuer aus einer Zeit stammend, in welcher Bücher noch von gelehrten Klosterbrüdern mit der Hand geschrieben wurden. Seltsame Geräusche drangen durch die Ritzen. Als würden die Mönche in geheimen Kammern verborgen, im spärlichen Licht einer Fackel mit ihren Federn über das Pergament kratzen. Es mit wundersamen Zeichen beschreiben und mit schwarzer und goldener Tinte zu einem vollendeten Kunstwerk gestalten.
Carmen hatte die Beine eng an sich gezogen. Mit ihren Armen umschlang sie ihre Knie, machte sich ganz klein, wollte keine Angriffsfläche bieten, unverletztlich sein. Als müsste sie sich, trotzdem sie völlig allein und verlassen war, in diesem klammen Gefängnis eine Nische aufsuchen um sich noch tiefer zu verkriechen. Es roch nach Moder und die Nässe der Wand drang durch den groben Stoff ihres Kleides. Ihr Körper schaukelte sacht hin und her, leise, fast unhörbar für die Ratten die im dreckigen Stroh hausten, summte sie ein Kinderlied.
Ein Knauern und Quietschen verriet ihr, dass sich jemand näherte. Sie kroch tiefer in die Ecke des kalten und schaurigen Raumes, beobachtete die schwere Holztüre. Angespannt und in plötzlicher Erwartung des Unvorstellbaren, kauerte sie mit aufgerissenen Augen an die Wand gepresst. Dann vernahm sie vertraute schlurfenden Schritte und entspannte sich. Ein alter Mann trat ein, in eine dunkle Kutte gehüllt. Er brachte ihr Suppe und ein Stück feuchtes Brot. Sein Gesicht war verwittert von den Jahreszeiten eines Menschenlebens. Seines hatte die Mitte des Winters bereits überschritten und wie schmutziger Schnee fielen seine bleichen Haare auf die wegen der grausamen Kälte hochgezogenen Schultern. Seine Augen, hell und wässrig, blickten ihr voll Mitgefühl, aber auch anklagend ins Gesicht.
„Carmen. Was bist du nur so unklug, so leidenschaftlich versessen darauf? Komm doch mit hinaus. Über vierzig Jahre harrst du hier schon aus. Möchtest du nicht die Wiesen sehen, das Wild, wenn es morgens über die Felder läuft. Den Duft der Veilchen trinken und des Jasmin?“ Bitter sah er auf sie hinunter. Sie lehnte mit geschlossenen Augen an der Mauer, wollte nichts hören. „Ach Carmen. Erinnerst du dich eigentlich noch, wie es sich anfühlt, wenn ein Mensch zärtlich dein Gesicht berührt und dein Bett weich und sauber mit flauschiger Wäsche bezogen ist?“
Sie öffnete die Augen, nahm die Suppenschale aus der zittrigen Männerhand, stellte sie unbeachtet aber fest, sodass das irdene Geschirr ein seltsam hohles Geräusch erzeugte, neben sich auf den Boden. Staub wirbelte auf. Der Alte musste husten. „Danke" sagte sie schuldbewusst. Sie lächelte ihn sanft an. „Ich danke dir für deine Treue. Ich weiß, du meinst es gut. Aber es geht nicht.“ Sie rollte sich wieder ein und starrte, durch das in den Stein gehauene, vergitterte Fensterloch hinaus in die Nacht.
Mühsam setzte er sich zu ihr auf den Boden. Wollte sie aus ihrer Einsamkeit reißen, schütteln bis sie aus ihrem Starrsinn erwachte. Sie blickte ihm in seine vorwurfsvollen Augen. "Ich kann hier die Vögel sehen weißt du? Ich höre den Wind der mir wundersame Geschichten erzählt. Kann das Rascheln im Laub der Pappel hören, sehe wie sich ihre Blätter im Tanz bewegen." Sie setzte sich auf und erzählte nun leidenschaftlicher. "Und manchmal, wenn es Sturm gibt, dann streicht er auch über mein Gesicht, zerrt an meinem Haar, verflechtet es mit Leben. Dann verfärbt sich der Himmel. Orange und schwarz ziehen dann die Wolken wie feurige Heerscharen über den Horizont". Die Rede hatte sie entflammt und ihre Augen flackerten bei dem Gedanken an die schweren Gewitter, die das alte Gemäuer herausforderten zum Kampf. Sie riss mit ihren Zähnen einen Bissen aus dem Brot. Ihr Mund zeigte plötzlich zuvor kaum wahrnehmbare Energie und Sinnlichkeit in seinen kauenden Bewegungen.
Sie aß eine Weile stumm und der Alte sah ihr zu. Leise prasselte Regen gegen die eisernen Stäbe. Lief in dünnen Rinnsalen an den Steinblöcken entlang, ins darunter aufgehäufte Stroh. „Wielange willst du denn noch warten? Hast es fast ein Leben lang getan und wozu? Sie sind nicht gekommen. Keiner." klagte er sie bitter an. Ächzend erhob er sich, konnte nicht sitzen bleiben. Er schlurfte unter das Fenster zeigte mit fast drohender Gebärde nach oben.
„Wo sind sie denn alle?“ bebte seine zornentbrannte Stimme. „Auf ihre Liebe hast du gewartet. Immerzu du Närrin. Begreifst du nicht, dass sie nicht kommen!" Zittrig und von einem neuerlichen Hustenanfall geschüttelt, ließ er kraftlos die Hand wieder niedersinken. „Weder Vater noch Mutter. Dein Vater hat sich vom Leben bereits abgewandt, seinen Frieden schon gemacht. Und deine Mutter? Sie ist eine vergrämte und sture Frau die den Frust des Lebens auf dir ablud wie auf einer Müllhalde. Und die Männer? Deine Männer? Die draußen vorbeigingen? Die hereinsahen durch die Gitterstäbe?“ Ein kurzes spöttisches Lachen ließ seine schlaffen Wangen beben. "Ich liebe dich, Carmen, aber ich bin so schwach" hämte er ihre Stimmen nach. „Dich, dich Carmen baten sie gar um ein Stück von deinem Brot! Wahnsinnige, du musstest ihnen auch noch geben davon."
Voll Unverständnis blickte er hinab zu der Frau mit den dichten, verfilzten Haaren. Das Leben hier herunten hatte sie gezeichnet, aber trotzdem hat sie sich ein seltsames Strahlen erhalten. Ungebrochen trotz der Hiebe der Zeit. „Haben sie dir jemals gegeben wonach es dich verlangte? Nein, oh nein. Gestärkt durch deine Nahrung, durch deine Hingabe sind sie weitergezogen! Du bist zurückgeblieben, allein und beseelt von Hoffnung auf Licht, das in dein Dunkel bricht. Dein Dunkel, hier Carmen, diese Finsternis, ist deine frei erwählte Einsamkeit.“
Er setzte seine Kapuze auf und schneuzte sich lautstark in ein verschmutztes Tuch. Wischte zerfahren über seine Augen. „Nun denn, seis drum. In zwei Tagen muss ich wieder hier vorbei. Ich werde nach dir sehen und dir vielleicht frisches Obst bringen, ein wenig Kuchen, möglicherweise. Mal sehen.“ Dann ging er durch die Tür, drehte sich nochmals nach der Frau um, schüttelte den Kopf und stapfte die steinernen Stufen hinauf, ließ die Zelle, in düstere Gedanken versunken, hinter sich.
Carmen seufzte tief. Vielleicht hatte er ja recht. Sie kannte nichts als das Warten hier im Dunkel. Ein ziehender Schmerz machte sich breit. Zerfloss, kaum aus der Quelle des Herzens entsprungen, als goldenener Bach ihrer ungestillten Sehnsucht unter ihrer Haut dahin. Sie blickte durch die Enge des vergitterten Fensters, suchte verträumt die Weite welche sich dahinter an den Himmel verlor. Die breite Sichel des Mondes ließ blasses Licht in ihr Gesicht fallen. Die Tränen rannen längst über ihre Wangen. Tropften lautlos auf ihre Brust. Schwer hob und senkte sie sich beim Atmen.
Wollte dieser Wahn denn niemals enden? Musste sie das Schicksal immer wieder herausfordern? In der Stille der alten Burgmauern verzehrte sie sich nach Geborgenheit und Wärme. Ob sie es jemals wagen würde die unversperrte Türe aufzustoßen und das vertraute Gefängnis zu verlassen? Die Mauern hier waren kalt und dick, von Feinden uneinnehmbar. Doch wer waren ihre Feinde? Jene, die ihr vorenthielten wonach sie suchte?
Ihre Hand streichelte über die nassen, kalten Steine. Würden sie jemals einstürzen? Sie vielleicht gar unter sich begraben, just im Moment der Befreiung. Sie fröstelte und war gleichsam erregt. Ein Knirschen und leichtes Beben hatte sie bemerkt. Rieselte da vorne nicht Sand herab? Brach neben dem Fenster nicht ein erster Stein aus der Mauer? Ein jähes Brechen der Gitterstäbe ließ sie hochfahren. Sich schützend barg sie ihren Kopf in den abgewinkelten Armen und sehnte sich gleichsam nach dem Licht der Sonne. Sie dachte an liebevolle Hände die ihren Körper streicheln, zärtliche Augen die ihrem Blick standhielten, einen Mund der das Salz ihrer Tränen trinkt. Und eine Mutter die sie sanft in den Schlaf schaukelt.