- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 22
Einsamkeit
Er wolle keine Verantwortung, sagt er. Er sei kein Mensch für Verantwortung, nicht einmal für sie, geschweige denn für ein Kind. Wenn sie das wolle, solle sie sich einen reichen Manager suchen und den dann heiraten.
Sie will keinen Manager. Sie will ihn. Seine Nähe und Zärtlichkeit. Sich in ihm verlieren können und seinen Trost, das Gefühl, dass er hinter ihr steht.
In ihr, seit einigen Wochen, ein neuer Mensch, der von ihrer und seiner Liebe zeugt. Entstanden durch bedingungslose Leidenschaft zum falschen Augenblick.
Er will sich nicht binden, seine Freiheit nicht aufgeben, sein Leben nicht ändern. Er hat nachgedacht, sagt er. Er sei kein Vater, sagt er.
Sie hat Tränen in den Augen. Legt vorsichtig seine Hand auf ihren Bauch. Er zieht sie weg, mit einem Ruck, blickt ihr in die Augen. Er will das Kind nicht. Er will sein Kind nicht.
Er hat sich abgewandt. Er will sich nicht ändern, er hat sich entschieden, sagt er, schiebt ihr ein paar Blätter zu. Unterlagen von Kliniken.
Sie blickt noch immer auf die Stelle ihres Körpers, wo das Kind wächst, nicht weiß, dass es um sein Leben bangen muss, auf die Stelle, wo eben noch seinen Hand lag. Eine große Hand, die einst voll Liebe ihre Wangen gestreichelt hat, sanft und gefühlvoll.
Wo ist dieses Gefühl jetzt? Er sitzt ihr gegenüber, blickt sie fordernd an, wartet auf ihre Entscheidung.
Eine Entscheidung für oder gegen ihn. Für oder gegen das Kind. Für oder gegen eine gemeinsame Zukunft.
Sie zittert, fühlt die kalte Leere in sich immer mehr hochsteigen. Für oder gegen. Wie kann er das nur fordern? Wie kann er fordern, das zu töten, was aus ihrer gegenseitigen Liebe entstand? Sie fährt über ihren Bauch, weiß, dass sich unter dem blauen Kleid Leben befindet.
Sie schüttelt unmerklich den Kopf. Nein, sie kann nicht. Sie kann nicht zur Mörderin werden, auch nicht für ihn, den Mann, den sie liebt.
Er steht ruckartig auf und verlässt ohne ein Wort das Zimmer. Sie hört die Wohnungstüre schlagen; er ist gegangen.
Sie sitzt noch lange, die Hände fühlend, ängstlich in sich horchend vor sich verschränkt.
Sie denkt zurück an die lauen Sommernächte der letzten Wochen, als sie sich liebten, eng umschlungen und zärtlich. Sie denkt an die Vertrautheit, an die Geborgenheit, die sie empfunden hat, bei diesem lebensstarken und liebevollen Mann, der für sie Zukunft bedeutet hat.
Die Zukunft.
Ob er wiederkommt, weiß sie nicht. Er wird sein eigenes Leben leben, ohne die Verantwortung, ohne die Liebe.
Ob er wiederkommt, ist egal; er wird nicht mehr der Mensch für sie sein, den sie so sehr gebraucht hätte. Gerade jetzt hätte sie ihn gebraucht.
Ihre Zukunft, ihre Hoffnungen, ihre Ängste... all das liegt jetzt in ihrem Schoß.
Das Kind hat soeben seinen Vater verloren.