Einsame Weihnachten
Sie zündet die Kerze auf dem Tisch an und schaut etwas länger als normal in das flackernde Licht.
Weihnachten. Heiligabend. Das ist für Frau Member immer die Zeit, in der sie besonders an die Vergangenheit und das, was eventuell noch vor ihr liegen mag denken muss. Was hält die Zukunft noch für sie bereit?
Früher, ach, früher hatte sie die gesamte Weihnachtszeit damit verbracht, sich die schönsten Dinge für ihre Familie und Freunde auszudenken. In ihrer Vorstellung, ihren größten Weihnachtswünschen und heimlichen Gebeten wurden Familien gegründet, waren Kranke auf dem Weg der Besserung, wurden traumhafte Karrieren eingeschlagen.
Frau Member hatte für jedes Familienmitglied, jeden Freund und alle Bekannten heimliche Träume, die sie in der Weihnachtszeit besonders verfolgte. Sich selbst hatte sie damals das ein oder andere Mal vergessen. Oder einfach keine Zeit zwischen all der Träumerei für eigene Wünsche gefunden.
Denn sie war schon immer der festen Überzeugung, dass, wenn man nur positiv an die Sachen heranging und ganz fest daran glaubte, Träume – auch die verrücktesten unter ihnen – wahr werden konnten.
Aber das war einmal.
Heute, wenn sie auf ihr Leben zurückblickt, muss sie sich eingestehen, dass zwar einige Träume sicherlich Wahrheit geworden sind, viele allerdings unter der Bezeichnung „Träumerei“ nun in einer imaginären Schublade in ihrem Kopf abgelegt sind. Diese Schublade hatte sie abgeschlossen und den Schlüssel schon vor einigen Jahren weit weggeworfen.
Frau Member träumt nicht mehr.
Renate ist ihr Vorname. Renate Member, geborene Zoss. Ihre Mutter hatte sie damals Reni genannt. Natürlich war das die übliche Strategie der Mütter: der Kosename gilt solange alles in ihren Augen OK ist. Sobald die Lage ernst wurde, kam der ganze Name mit einem leicht grollenden Unterton über Mutters Lippen.
Doch Reni sollte damals ihr Rufname werden – ob Familie, Freunde oder Bekannte – Renate Member war immer und überall nur unter dem Namen Reni bekannt. Manchmal hatte sie sogar das Gefühl, nie einen anderen Namen gehabt zu haben.
Reni. Wie selten hörte sie doch in den letzten Jahren diesen Namen aus dem Mund einer anderen Person gehört! Oder überhaupt ihren Vornamen!
Frau Member zuckt unvermittelt zusammen und wendet endlich ihren Blick von der Kerze ab. Die Kerze gehört zu einem winzig kleinen Gesteck - bestehend aus ein wenig Tanne, kleinen roten Vogelbeeren und einem kleinen silbernen Engel, der die rote Kerze hält. Das Gesteck steht auf dem Wohnzimmertisch der viel zu großen Alt-Berliner Wohnung.
Aldi hatte es dieses Jahr pünktlich zur Vorweihnachtszeit im Angebot und Frau Member packte es inklusive einer Schachtel roter Ersatzkerzen nach kurzem Zögern in ihren Einkaufswagen.
Das letzte Weihnachten so ganz ohne Weihnachtsdekoration war im Nachhinein doch sehr frustrierend gewesen, und vielleicht hoffte die alte Dame, dass das kleine rote Aldi Kerzchen einen Hauch von Weihnachten und das damit verbundene Glücksgefühl in ihren vier Wänden verbreiten konnte.
Jeden Tag seit Ende November flackert nun das kleine Licht in der Wohnung der allein lebenden Frau.
Natürlich vermag das kleine Kerzchen nicht die gleiche Kraft und Liebe zu verbreiten, wie ihre damaligen ausgiebigen Weihnachtsdekorationen es geschafft hatten. Jedes Tischchen, jedes Fenster, jede Tür – ja sogar der Flur durften in der Weihnachtszeit unter Frau Members dekorativem Händchen erstrahlen.
Ein so kleines Kerzchen wie das in diesem Jahr bei Aldi gekaufte wäre damals sicherlich untergegangen und nicht mal dem aufmerksamsten Betrachter aufgefallen.
Doch heute fällt es in der dunklen, ansonsten ungeschmückten Wohnung sofort ins Auge.
Man hatte das Gefühl, dass das kleine tapfere Kerzchen einen Kampf focht, der nahezu nicht zu gewinnen war.
Einen Kampf gegen die Leere, gegen das Dunkle, gegen das Vergessen.
Einen Kampf für die Hoffnung.
Und dieser Kampf dauerte nun schon mehr als vier Wochen.
In dieser Zeit hätte man als außenstehender Betrachter – wenn es solche in Frau Members Leben gegeben hätte – denken oder hoffen können, dass das Kerzchen den Sieg davontragen könne. Immer wenn ein kurzes unsicheres Lächeln über Frau Members Lippen huscht oder auch eine einsame Träne über die alte runzlige Wange kullert, läßt dies vermuten, dass alles wieder so war wie früher. Wie früher in ihrer glücklichen Zeit.
Doch sofort schüttelt Frau Member diese Gefühle ab, wischt verwegen über ihr Gesicht und schaltet den Fernseher an oder liest in ihrer Zeitschrift. Sie tut einfach etwas anderes.
Nun ist der 24. Dezember und dies sollte der letzte Tag für das kleine Kerzchen sein. Danach wurde es vermutlich entsorgt. Es hatte seine Schuldigkeit getan – den Kampf aber nicht gewonnen.
Frau Member schaltet ihren Fernseher ab. Sie tut dies immer sehr sorgfältig. Zunächst per Fernbedienung, dann steht sie auf, geht zum Fernsehgerät und betätigt das Knöpfchen, welches nach kurzem Flackern das rote Lämpchen zum Erlöschen bringt. Nicht, dass dies auf eine besondere Ordnungsliebe oder Penibilität in Bezug auf das Energiesparen hinweist. Dies ist hauptsächlich die Macht der Gewohnheit. Wenn man über 50 Jahre diesen Ablauf des Ausschaltens eines Fernsehers zelebriert, verschwendet man nicht mal einen Gedanken an eine derartige Nebensächlichkeit, wie die Art des Fernseher-Ausschaltens zu ändern. In der Zeit vor der heutzutage nicht mehr wegzudenkenden Fernbedienung – und dies waren weit mehr Jahre in Frau Members Leben als die Zeit mit Fernbedienung – war dieses Vorgehen sowieso Gang und Gäbe und jeder, der in der damaligen Zeit behauptet hätte, dass man in der Zukunft bequem aus dem Sessel durch das Drücken eines kleinen Knöpfchens ein Gerät an- und ausschalten könne, wäre wohl als Spinner abgestempelt worden.
Ihr Mann war es damals, der unbedingt einer der ersten sein musste, mit einer auf dem Wohnzimmertisch liegenden Fernbedienung. Doch wie immer versuchte er zunächst seine Frau davon zu überzeugen, dass sie unbedingt diese technische Neuerung benötigten. Mit viel Witz, Charme und Erfindungsreichtum fand er schließlich auch bei dem Fall „Fernbedienung“ den richtigen Weg, um seine geliebte Frau zu überreden…. zu „überzeugen“.
John war immer so: nach vorn blickend, offen für alles Neue, objektiv und unvoreingenommen. So suchte er stets allem und jedem eine Chance zu geben – und eine zweite und eine dritte…
Bis ins hohe Alter behielt er diese Einstellung bei und saugte alles für ihn Neue regelrecht auf. Nur zu gut konnte sich Frau Member an die unzähligen Situationen erinnern, in denen sie verzweifelt den Kopf schüttelte, lauthals loslachte oder auch den einen oder anderen Streit vom Zaune brach. In diesem Bezug konnte sie mit ihrem ihr sonst in allen Belangen sehr ähnlichen Mann nicht mithalten. Sie empfand die heutige Musik im Radio meist nur als eine besonders nervige Art von Krach. Im Kino fühlte sie sich zu alt und als Außenseiterin. Ein Buch woanders zu kaufen als in einem Buchladen, war für sie ungewöhnlich und dann dies auch noch über einen Computer zu bestellen, war nichts anderes als unheimlich und riskant. Bei Spaziergängen ihren Mann in Turnschuhen neben ihr laufen zu sehen machte sie regelmäßig wütend.
Aber so war er – das war John.
Mit Menschen handhabte er es ähnlich. Er war nur so erpicht darauf neue Leute kennen zu lernen, kam schnell mit fremden Leuten ins Gespräch, was sich nicht selten zu einer neuen Freundschaft entwickelte. Fehler waren für John nichts anderes, als die Möglichkeit daraus zu lernen – so verband er bald tatsächlich etwas Positives mit Fehlern. Er war in der Lage sich nicht von begangenen Fehlern einschüchtern zu lassen. Vielmehr versuchte er sofort objektiv damit umzugehen, diese einzugestehen und sich wenn notwendig dafür zu entschuldigen. Auch die Fehler anderer Personen brachten ihn nicht dazu sich ein Urteil zu bilden und diese Personen in eine der zahlreichen weithin bekannten Schubladen zu stecken. Er gab jedem Lebewesen mindestens eine zweite Chance. Dabei hätte Frau Member auf Anhieb wenigstens ein Dutzend Situationen nennen können, in denen die Mengenangabe „eine zweite“ oder „eine dritte“ Chance nicht ausgereicht hätten, um zu beschreiben, wie sehr sich John bemühte das Gute aus den Menschen herauszukitzeln.
Aber er – John – hatte vom lieben Gott nicht mal eine zweite Chance bekommen.
Mit 81 Schlaganfall. Kein kleiner, keine Vorwarnung. „Wenn schon, denn schon“ hätte er gesagt.
So war John – so lebte er. Aber jeder lebte bekanntlich nur einmal und genau das war es, was Frau Member heute schier verzweifeln ließ.
Eine dünne Qualmsäule steigt zitternd auf als die einsame Frau das kleine Kerzchen ausbläst.
Ihre Augen glänzen mal wieder – wie nur zu oft in den vergangenen zwei Jahren wenn sie mal wieder die Erinnerung gepackt hat.
Aber sie hat sich im Griff – ganz bestimmt. Irgendwann würde der Schmerz vergehen. Es ist doch in der Zwischenzeit auch schon besser geworden. Oder?
Sie nimmt ihre leere Kaffeetasse vom Wohnzimmertisch und bringt sie eilig in die Küche. Beim Abspülen der Tasse schaut sie kurz auf die kleine Uhr an der Küchenwand und legt schließlich das saubere Geschirr auf das Gestell neben der Spüle, damit es trocknen kann. In der Diele sucht sie ihre Schuhe aus dem halbleeren Schuhschrank heraus und nimmt etwas von der Garderobe. Aber nein – keinen Mantel, sondern ein buntes Halsband und eine braune Leine. Da kommt auch schon der Besitzer dieser merkwürdigen Kleidungsstücke angetrottet. Die verschlafenen Augen verraten, welcher Tätigkeit Gina gerade nachgegangen ist. Vermutlich hatte sie es sich wieder auf ihrem Lieblingsplatz auf dem Läufer neben Frau Members Bett bequem gemacht. Auch nachts war dies Ginas Schlafplatz – ihr eigentliches Körbchen nutzte sie so gut wie nie.
Frau Member seufzt lächelnd. Ganz allein war sie ja doch nicht. Könnte es für eine einsame alte Dame einen treueren Freund geben, als die vierjährige Golden Retriever Hündin? Frau Member bezweifelt es.
Gina schlurft bedächtig, ganz entgegen ihrer sonstigen Agilität über den Teppichboden im Flur. Langsam streckt sie ihre Vorderpfoten nach vorne, geht mit dem Oberkörper bis auf den Boden herunter, wobei sie aber das Hinterteil in die entgegengesetzte Richtung nach oben ragen lässt.
Diese Stellung hält sie einige Sekunden an, um sie dann begleitet durch ein herzhaftes beinahe ansteckendes Gähnen wieder aufzulösen. Diese kleine Übung war fast schon ein Ritual welches Gina stets beging, wenn sie wusste, dass es raus zu einem Spaziergang ging. Es erinnert Frau Member immer sehr an ihre eigenen morgendlichen Turnübungen um auf Trab für den Tag zu kommen, und genau diese Funktion schien auch Ginas Gymnastik zu haben.
Kaum fertig gegähnt hebt sich der buschige Schwanz in die Höhe und ein freudiges Schwanzwedeln beginnt. Um ihre Freude noch zu unterstreichen wedelt nicht nur der Hundeschwanz, sondern das komplette Hinterteil des Hundes wird von einer Seite auf die andere geworfen.
Frau Member lacht kurz auf und streichelt den wuscheligen Hundekopf den Gina voller Liebe zwischen die Beine ihres Frauchens gesteckt hat.
Hunde konnte man manchmal wirklich beneiden, denkt Frau Member in diesem Moment. Sie leben im Jetzt, in diesem Augenblick. Es wird kein Gedanke an die Vergangenheit verschwendet und die Zukunft ist für sie nicht mit Ungewissheit und einer Art von Angst behaftet. Ihnen ist egal, ob es gerade Weihnachtszeit ist. Wenn sie müde sind schlafen sie, wenn sie gefüttert werden, essen sie mit einem Appetit den Frau Member schon lange nicht mehr empfunden hat. Sie lieben ihre Menschen ohne Tabu und gehen neugierig auf fremde Artgenossen aber auch fremde Menschen zu. Ganz ohne Scheu eventuell abgewiesen oder verletzt zu werden. So war jedenfalls Gina.
Mit den Jahren wurden Frau Member immer mehr die Ähnlichkeiten zwischen ihrem verstorbenen Mann und ihrer geliebten vierbeinigen Freundin bewusst.
Eigentlich war es auch John der vor vier Jahren nach dem Tod ihres 11 Jährigen Boxer-Rüden darauf bestanden hatte, dass unbedingt wieder ein vierbeiniger Begleiter an die Seite des alten Ehepaares gehörte. Wenn jemand den Großteil seines Lebens in Gesellschaft von Hunden verbracht hatte, war es vermutlich nur schwer möglich darauf irgendwann zu verzichten. Ihr ging es ähnlich – nur kommt natürlich mit zunehmendem Alter irgendwann die Angst vor dem Überfordertsein durch so ein junges Tier oder der nahe liegende Gedanke „Was passiert wenn wir mal nicht mehr da sind?“ Doch wie so oft wenn er etwas von Herzen wollte fand John auch in diesem Fall ohne viel Mühe eine passende Lösung, die Renate schließlich doch überzeugte – und sei es, dass ihr einfach keine schlagenden Gegenargumente mehr einfielen.
Was sollte man auch sagen, wenn der eigene Mann eines Nachmittags mit einem schön handschriftlich geschriebenen Brief an sie gerichtet nach Hause kam, der besagte, dass Familie “Balu“ jederzeit ihren Hunde-Nachwuchs bei sich aufnehmen würde. Komme was wolle.
Balu war ein schwarzer Labrador und gleichzeitig der beste Kumpel ihres gerade erst verstorbenen Boxers Jacko. Regelmäßig sind John und Jacko zu ihrer „Männerrunde“ – wie John es nannte – aufgebrochen. Immer mit von der Partie waren Balu und Herrchen-Balu. Dass diese Spaziergänge manchmal länger als drei Stunden dauerten war keine Seltenheit. Was dort bei dieser Männerrunde passierte konnte Frau Member nur erahnen: lange Gespräche über Gott und die Welt, entspannte Pausen, Plaudereien mit anderen Hundebesitzern und nicht zuletzt natürlich das Zusehen beim Toben der vierbeinigen Begleiter.
An dem Tag, an dem John den Brief mit nach Hause gebracht hatte, war er ebenfalls mit seiner Männerrunde unterwegs – einfach um mal raus zu kommen. Dieses Mal waren sie aber nur zu dritt – Jacko war einige Tage vorher eingeschlafen. Nicht zu Hause, sondern beim Tierarzt. Die Schmerzen, die seine Krebsgeschwüre verursachten, waren mittlerweile unerträglich gewesen – und jeder weitere Tag wäre nichts anderes als der menschliche Egoismus und die Angst des Verlustes gewesen, für das Tier aber nur eine Qual.
So waren an diesem Tag nur drei Mitglieder der Männerrunde unterwegs – und wann fällt das Fehlen eines guten Freundes und Begleiters mehr auf, als im Alltag und bei gewohnten Ritualen?
Vermutlich war es dadurch ein sehr ruhiger Spaziergang – auch Balu bemerkte die bedrückte Stimmung – schließlich war auch sein Kumpel zum Toben nicht dabei.
Nichtsdestotrotz vergingen auch dieses Mal einige Stunden bis John nach Haus zurückkehrte.
Frau Member wird den Anblick ihres Mannes an diesem Tag als er wieder in der Tür stand nie vergessen.
Die Wangen rosig durch die viele frische und kalte Winterluft, eiskalte Hände die verkrampft einen weißen Umschlag hielten, einen Glanz in den grau-blauen –Augen, den Renate immer bemerkte, wenn er von einer neuen Idee gepackt war und am wichtigsten: das Lächeln, welches so viel Liebe, Hoffnung und Zuversicht ausstrahlte, wie es Renate noch nie bei einem anderen Menschen gesehen hatte.
Der Brief war unterschrieben mit „Andreas Kramer (Herrchen von Balu)“. John hatte natürlich mit ihm über den verstorbenen Jacko gesprochen und über die Problematik, sich einem neuen Tier anzunehmen. Später berichtete John, dass Herr Kramer sofort versicherte, dass Johns Probleme wirklich keine Probleme sein sollten und seine Frau sicher nichts dagegen hätte, wenn er in diesem Fall seine uneingeschränkte Hilfe anbot. John ließ nicht lange auf sich einreden. Er begleitete Herrn Kramer nach Hause, sie sprachen gemeinsam noch mal persönlich mit Frau Kramer und schließlich bat er das viel jüngere Ehepaar, dieses Angebot doch schriftlich in einem Brief festzuhalten.
John wusste schon immer wie gründlich er sich vorbereiten musste, um seine Frau zu überzeugen. Und auch dieses Mal schaffte er es. Welches Gegenargument hätte Frau Member denn noch bringen können, wo sie sich doch schon selbst nach einem neuen Vierbeiner sehnte?
Und so sind sie damals an einem schönen Wintertag ins Tierheim gefahren um wieder einmal diese schwierige und herzzerreißende Entscheidung zu fällen: welchem dieser armen Kreaturen wollten sie in den nächsten Jahren ein besseres zu Hause und damit eigentlich auch ein neues Leben schenken? Von der Illusion die Welt retten zu können und allen zu helfen hatten sie sich schon vor langer Zeit verabschiedet. Sie waren schließlich alt genug dies zu begreifen. Doch trotzdem fiel die Entscheidung alles andere als leicht.
Das Tierheim hat allgemein sehr strenge Regeln was die Vermittlung der Schützlinge anbetrifft.
Viele Fragen müssen beantwortet werden, die Bewerber werden mindestens ein Mal vor der Vermittlung besucht und zum Großteil auch einige Zeit nach der Vermittlung ein zweites Mal.
Man möchte möglichst sichergehen, dass das neue zu Hause der Schützlinge nah an die Beizeichnung „der Himmel auf Erden“ herankommt.
Für einen Großteil der Tierheimbewohner war dazu nicht viel notwendig. Nahezu alles schien besser zu sein als das bisher Erlebte.
So konnten einige Bewerber, die wirklich mit guter Absicht das Tierheim aufsuchten, sich nicht für die Übernahme eines Tierheim-Tiers qualifizieren. Aus diesem Grund gab es auch schon mal hier oder da eine Beschwerde über die teilweise für Außenstehende nicht nachvollziehbare Entscheidung.
Ein großer Garten schien zwar eine optimale Voraussetzung für die Anschaffung eines Hundes zu sein – doch dieser musste auch in einer ausreichenden Höhe umzäunt und eventuelle Teiche oder Pools gesichert sein, um ein versehentliches Hereinfalles des Hundes zu verhindern. Und auch die allseits beliebte Hundetür wurde vom Tierheim nicht gern gesehen, da so der Hund unabhängig vom Menschen ein- und ausgehen konnte und somit nicht unter Kontrolle war.
Die eingehenden Beschwerden enthielten meist Ausdrücke wie „kleinlich“ oder „an den Haaren herbeigezogen“. Doch leider wusste das Tierheim aus Erfahrung nur zu gut, warum es auf bestimmte Punkte bestand. Der tägliche Umgang mit Tiervermittlungen lehrte, dass man manchmal nicht dumm genug denken konnte, um auf die Dinge zu kommen, die tagtäglich den Tieren angetan wurden!
John Member musste keinen dieser Fragebögen ausfüllen. Seine Unterschrift genügte und schon hatte das ältere Ehepaar einen Familienzuwachs in Form von „Gina“ mit den treusten Augen dieser Welt wie John zu sagen pflegte.
Familie Member hatte nicht nur eine bereits langjährige Spenden-Dauerüberweisung an das Tierheim zu laufen. Auch Jacko und seine Vorgänger Percy, Lissy und wie sie nicht alle hießen hatten die Herzen des Ehepaares innerhalb der Wände dieses Tierheims erobert. Bei Weihnachtsfeiern oder Osterspaziergängen des Tierheims waren die Members stets mit von der Partie. Kurzum: man kannte sie und Vertrauen machte sterile Fragebögen und Hausbesuche überflüssig.
Stundenlang könnte Gina mit dem Kopf zwischen Frau Members Beinen dastehen und hinter den Ohren gekrault werden. Doch Frau Member weiß, dass die ARD Weihnachtssendung um 18 Uhr nicht auf sie warten würde und Gina vorher noch das Recht auf einen schönen Weihnachtsspaziergang hat. Am Heiligabend um kurz vor fünf würden sie zwar kaum auf die üblichen Hundefreunde und Hundeverehrer treffen – diese sitzen um diese Uhrzeit vermutlich alle innerhalb der Familie, die Vierbeiner mit einem Festtagsknochen auf ihrem Lieblingsplätzchen - aber das macht Frau Member mittlerweile nicht mehr viel aus. Einsamkeit war in den 2 ½ Jahren nach Johns Tod mehr und mehr zur Normalität in ihrem Leben geworden.
Früher war immer ein Kommen und Gehen bei den Members – besonders in der Weihnachtszeit. Ob Familie oder Freunde – alle wussten, dass sie stets willkommen waren. Die besten Feste fanden in der drei Zimmer Altbauwohnung statt, nicht selten wurden kurzfristig Freunde einquartiert die entweder zufällig in Berlin waren oder sich aus den unterschiedlichsten Gründen nicht in der Lage sahen bei sich zu Hause zu schlafen.
Doch all diese Hektik und Gesellschaft gehört für Frau Member der Vergangenheit an. Wenn man ihr kleines viel genutztes Telefonbüchlein durchblättert, findet man fast ausschließlich durchgestrichene Namen. Im Grunde lebt nur noch Erika – eine Freundin der Members aus Hannover, deren Mann schon vor knapp zehn Jahren gestorben war. Die anderen nicht durchgestrichenen Namen in diesem Büchlein gehören dem Tierarzt, dem Hausarzt und es enthält auch die Handynummer ihrer Nachbarn mit denen Frau Member nach dem Tod ihres Mannes die Nummern getauscht hatte. Falls mal etwas war. Ansonsten hat sie mit dem jungen Paar kaum Berührungspunkte da die beiden anscheinend viel arbeiten und nur selten zu Hause anzutreffen sind.
Und natürlich die Nummer von Balu's Herrchen. Renate hatte noch nie mit ihm gesprochen, doch kurz vor Johns Tod hatte er ihr noch mal eingeschärft, dass sie – sobald sie sich auch nur in irgendeiner Weise durch Gina überfordert fühlte – diese Nummer wählen sollte.
Eine Familie von Frau Member gibt es nicht mehr – jedenfalls keine, die sie zu Weihnachten oder zum Geburtstag anrufen würde. John und sie hatten sich immer Kinder gewünscht – doch aus welchem Grund auch immer sollte diese Freude dem verliebten Paar nie vergönnt sein. Geschwister hatte Renate ebenfalls nicht. John hatte einen älteren Bruder gehabt, der aber Zeit seines Lebens in Atlanta, Georgia, USA lebte und Renate hatte ihn aufgrund dieser Distanz nur zwei Mal in ihrem ganzen Leben gesehen. Und dabei sollte es auch bleiben, denn Dean Member war vor sieben Jahren – im Sommer 1999 – nach einem schweren Schlaganfall gestorben und damit starb damals auch jeglicher Kontakt zu der amerikanischen Familie. Renate wusste zwar, dass Dean auch Vater von zwei Söhnen und einer Tochter gewesen ist, sie konnte aber noch nicht mal mit Sicherheit sagen, wie die Namen der drei Kinder waren.
„Einsamkeit macht mir wirklich nichts mehr aus“ denkt Renate als sie gemeinsam mit Gina die Strasse betritt und bemerkt plötzlich mit Schrecken, dass ihr mal wieder die Tränen in die Augen schießen. Schnell verbannt sie jeglichen Gedanken an ihr kleines Telefonbüchlein, das vermutlich der deutlichste Hinweis auf ihre Einsamkeit ist, aus ihrem Kopf und versucht auch nicht mehr an das heutige Telefonat mit ihrer Freundin Erika aus Hannover zu denken.
Erika hatte voller Liebe von ihrem bevorstehenden Heiligabend gesprochen. Davon, dass ihre gesamte Familie gemeinsam feiern würde und sie sich schon vor allem auf ihre zwei kleinen Enkeltöchter freute.
Es waren nicht diese Familiengeschichten, die Renate wehtaten. Sie freute sich sehr für ihre Freundin. Vielmehr beschäftigte sie die brüchige Stimme ihrer langjährigen Freundin vorhin am Telefon. Sie klang wie die Stimme auf einer alten Platte die über einen noch viel älteren Plattenspieler abgespielt wurde. Im September, als Renate bei Erika anlässlich deren Geburtstags anrief, hatte die Stimme der Freundin noch ganz anders geklungen: zwar alt aber auch klar, agil und fröhlich. In diesem Alter konnte man immer mal einen schlechten Tag haben – und Renate hoffte, dass es auch nur das war und sie zu Neujahr wieder ihre alte Freundin am Telefon hören würde.
Alles andere wäre zu schrecklich für Renate, die schließlich nicht nur ihren Mann vor 2 ½ Jahren verloren hatte, sondern im letzten Jahr auch ihre beste Freundin Klara mit der sie seit ihrer gemeinsamen Schulzeit Freud und Leid geteilt hatte.
Renate hatte nur selten in ihrem Leben einen Gedanken an den Tod verschwendet. Geschweige denn hatte sie je befürchtet mal alleine zu sein, das letzte lebende Mitglied eines einstmals großen, fröhlichen Freundeskreises.
Heute im Winter 2006 ist es fast soweit.
Gina setzt sich schwanzwedelnd neben Frau Member auf den kalten aber trockenen Boden. Geschneit hat es zum Leidwesen der Kinder in diesem Jahr noch nicht. Doch die frostigen Temperaturen versprechen Hoffnung für die vielen Schneemannbauer und Schneeballwerfer.
Frau Member sind trockene rutschfeste Gehsteige stets lieber als eine verschneite Straßenlandschaft. Doch trotzdem kommt sie nicht umhin sich jedes Jahr wieder von neuem über den ersten Schnee zu freuen. Zum einen freut sie sich für die vielen Kinder, die zu dieser Zeit dann stets bewaffnet mit dicken Schals und warmen Fäustlingen unterwegs sind. Zum anderen weckt der Schnee aber auch einige der schönsten Erinnerungen in ihr – nicht zuletzt die Erinnerung an den Tag, als sie John kennengelernt hatte.
Damals war sie gemeinsam mit ihrer Freundin Klara auf dem Heimweg von der Arbeit. Die beiden jungen Frauen hatten nach ihrer Schulzeit einen guten Job in einer großen Berliner Zigarettenfabrik, was ihnen ermöglichte, auch weiterhin viel Zeit miteinander zu verbringen. Gemeinsam hatten sie die lange Kriegszeit überstanden, konnten trotz allem auf viele lustige gemeinsame Stunden zurückblicken und waren nun nachdem der Krieg endlich vorbei war ausgelassen und gespannt darauf, was die Zukunft noch für sie bereithalten mochte.
Laut schwatzend gingen sie die winterlichen Straßen entlang und lachten gemeinsam über ihren jungen Vorgesetzten Klaus Schieske, der unübersehbar in einer gemeinen Zwickmühle steckte. Auf der einen Seite musste er sich in dem jungen Alter natürlich gegenüber seinen Vorgesetzten beweisen. Auf der anderen Seite allerdings war er ein junger Mann der sich offensichtlich Hals-Über-Kopf in eine seiner Mitarbeiterinnen – nämlich in Klara – verliebt hatte.
Die beiden jungen Frauen hatten viel Spaß in dieser Situation, sie beobachteten Herrn Schieske ganz genau, provozierten ihn, flirteten mit ihm in einer nicht aufdringlichen Art und Weise. Klara war wohl damals die Allerletzte, die damit rechnete, dass sie vier Jahre später vor dem Traualtar „Ja“ sagen würde um dann selbst Klara Schieske zu heißen!
An solch eine Möglichkeit hatten die beiden jungen Frauen damals nicht im Traum gedacht als sie lachend und scherzend durch das winterliche Berlin schlenderten.
Renate zog Klara gerade damit auf, dass Klara eventuell doch mehr Gefühle für Herrn Schieske hegte, als sie nach außen hin vorgab. Klara lachte von ganzem Herzen, griff mit ihrer nackten Hand in den Schnee, formte schnell und geschickt einen großen Schneeball und warf damit auf ihre Freundin. Renate, die nicht mit diesem schnellen Angriff gerechnet hatte, zog zwar den Kopf weg – aber zu spät! Der Schneeball traf sie am linken Ohr und als sie sich scherzhaft fluchend von dem Schnee befreit hatte, war Klara schon auf und davon um hinter der nächsten Häuserecke Schutz zu suchen.
Schnell bereitete nun auch Renate ihre Munition vor – denn Rache ist süß! Langsam pirschte sie sich and die Häuserecke vor hinter der sich ihre Freundin versteckt hielt. Sie trat ganz vorsichtig auf, um das Knirschen des Schnees unter ihren Fußsohlen möglichst gering zu halten. Kurz vor der Ecke verharrte sie kurz um zu lauschen. Da – Schritte, die auf die Ecke zukamen! Klara kam zurück, da sie vermutlich nicht mehr mit einem Gegenangriff rechnete. Sofort sprang Renate um die Ecke, holte aus, warf – und TRAF!
Nach einem kurzen Moment des Erfolgsgefühls, legte sich dieses ganz schnell. Vor ihr standen zwei junge Männer in amerikanischer Uniform. Bei einem der beiden prangte nun ein großer weißer Schneefleck auf der linken Brust. Renate sehnte sich in diesem Augenblick nach einem großen Loch im Boden, in dem sie auf der Stelle versinken konnte!
Das erschrockene Gesicht des amerikanischen Offiziers mit dem wenig dekorativen weißen Fleck auf der Brust verzog sich zu einem breiten Grinsen und endete schließlich in einem lautstarken Lachen.
Später pflegte John immer zu sagen „Nicht Amor traf mich mit einem Liebespfeil, sondern Renate hat es lieber selbst mit einem großen nassen Schneeball erledigt. So ist sie halt: erledigt wichtige Dinge lieber selbst, als sich auf andere zu verlassen!“
Gina bleibt starr stehen und schaut die Straße entlang. Ihr Schwanz wedelt freundlich, doch ansonsten zeigt ihr Körper keine Regung. Aus ihren Gedanken gerissen sieht Frau Member nun ebenfalls die Strasse entlang und entdeckt schnell den Auslöser für Ginas Verhalten. Ein aufgeweckter rotbrauner Cocker-Spaniel kommt auf sie zugerannt. Am anderen Ende der bunten Leine rennt ein kleiner Junge von vielleicht 8 Jahren schätzt Frau Member. Schon von weitem kann Frau Member das Strahlen der großen Kinderaugen erkennen und das Lachen auf dem rotbackigen Jungengesicht strahlt soviel Fröhlichkeit aus, dass auch Frau Member unwillkürlich lächeln muss. Den Cocker Spaniel kennt Frau Member. Sie hat ihn schon häufig morgens zusammen mit Herrchen im Park joggen sehen. Die beiden sehen aber immer so beschäftigt und in Eile aus, dass Frau Member noch nie ein Wort mit ihnen gewechselt hat und damit auch dem hübschen Hund mit den langen lockigen Ohren keinen Namen zuordnen kann.
Endlich auf einer Höhe bleibt der Cocker abrupt stehen, schnuppert an Ginas Nase um dann sofort in das übliche Hunde-Begrüßungs-Ritual überzugehen: Seite an Seite stehen, am Hintern des anderen Schnuppern, wieder an der Schnauze schnuppern und schon ist für beide klar ob a) man sich mag und eventuell gemeinsam spielen möchte und b) wer der Chef im Ring ist. Von dieser Ehrlichkeit und Einfachheit könnten sich die Menschen wirklich mal ein Stück abschneiden denkt sich Frau Member des Öfteren wenn sie die Hunde dabei beobachtet.
Auch der kleine Junge ist lachend stehen geblieben und strahlt Frau Member an. „Frohe Weihnachten!“ jubelt er und streichelt Ginas Hinterteil die das vermutlich gar nicht mitbekommt da sie vollkommen in ihren neuen Cocker-Freund vertieft ist.
„Frohe Weihnachten, junger Mann“ antwortet Frau Member. „Du musst jetzt mit Deinem Hund spazieren gehen? Verpasst Du denn dann gar nicht den Weihnachtsmann bei Dir zu Hause?“ Der Junge schüttelt den Kopf. „Nein, wissen Sie. Der Weihnachtsmann besucht nur die kleinen Kinder. Ansonsten schafft der das ja gar nicht alle Kinder auf der ganzen Welt zu besuchen!! Zu uns kommt seit letztem Jahr das Christkind. Das darf ich aber nicht sehen. Das mag es nicht, wissen Sie?!“
Frau Member nickt. „Natürlich. Das kenne ich von dem Christkind. Ich durfte es auch nie sehen, und doch war es jedes Jahr da und hat viele schöne Geschenke bei uns abgeliefert! Wie heißt Du denn, mein Junge?“
„Jonas. Und meine kleine Schwester heißt Tara. Aber die ist noch so klein – die kann noch nicht mal laufen. Und weil Tara auch noch nicht sprechen kann, kommt der Weihnachtsmann auch erst im nächsten Jahr zu ihr. Er unterhält sich ja immer mit den Kindern und die müssen dann sagen, ob sie artig waren. Aber das kann Tara noch gar nicht.“
Schmunzelnd schaut Frau Member den kleinen Jonas an.
„Na dann lieber Jonas – lass Dich nicht von uns aufhalten. Du möchtest sicherlich schnell wieder nach Hause um zu sehen, was das Christkind so alles für Dich dagelassen hat.“
Die Augen des kleinen Jungen glitzern und er nickt heftig. „Ja, ich freu mich schon ganz doll. Ich habe mir dieses Jahr den schwarzen Ritter von Playmobil gewünscht! Hoffentlich konnte das Christkind den besorgen! Und bei Ihnen? Wann kommt bei Ihnen denn das Christkind? Mussten Sie jetzt auch rausgehen, damit Sie das Christkind nicht sehen? Ich dachte immer nur Kinder dürften das Christkind nicht sehen?“
Frau Member erklärt dem Jungen, dass sie heute nicht auf das Christkind wartet und sie auch vorher keinen Wunschzettel geschrieben hat. Das wundert Jonas, denn er weiß, dass selbst seine Eltern gemeinsam mit ihm ihre Wunschzettel schreiben und an das Christkind schicken. Er dachte immer alle Menschen würden dies tun.
„Haben Sie denn gar keine Kinder?“ schießt es plötzlich aus dem kleinen Kindermund.
Einen Moment lang schaut Frau Member Jonas ausdruckslos an um dann in einer bemüht gütigen und fröhlichen Stimmlage zu antworten „Nein, Jonas, ich habe keine Kinder. Ich feiere Weihnachten immer allein.“
Ein Jahr später.
Sie zündet die Kerze auf dem Tisch an und schaut etwas länger als normal in das flackernde Licht. Weihnachten. Heiligabend. Das ist für Frau Member immer die Zeit, in der sie besonders an die Vergangenheit und das, was eventuell noch vor ihr liegen mag denken muss. Was hält die Zukunft noch für sie bereit?
In der Küche klappert es. „Reni! Könntest Du mir bitte mal eben mit der Fleischplatte helfen?!?“
Renate wendet den Blick von der Kerze ab und eilt in die Küche.
Dies sollte nun ihr zweites Weihnachten in der Familie Schubert werden. Jonas Schubert ist gerade mit den Hunden spazieren. Er darf schließlich nicht da sein, wenn das Christkind kommt. Seine kleine Schwester Tara spielt in ihrem Zimmer – schon ganz aufgeregt, denn heute soll sie zum ersten Mal vom Weihnachtsmann besucht werden.
Der Heiligabend im letzten Jahr ist nicht ganz so verlaufen, wie Frau Member es erwartet hatte. Dass die nette alte Frau ganz allein zu Weihnachten sein würde und überhaupt keine Geschenke bekommen sollte, wollte Jonas einfach nicht verstehen und entschloss sich kurzerhand, dass sie ja wenigstens eins seiner Geschenke haben könnte. Welches, das würde er allerdings nach dem Auspacken entscheiden – auf den schwarzen Ritter von Playmobil hatte er sich schließlich nun schon so lange gefreut und dann wäre es doch schade, wenn er ausgerechnet dieses Päckchen weiterverschenken würde!
Es stellte sich heraus, dass Jonas in Sachen Überzeugungsarbeit genauso hartnäckig sein konnte wie ihr verstorbener Mann John. Und so begleitete sie im letzten Jahr tatsächlich den kleinen Jonas nach Hause und es war ihr unendlich peinlich, als die Haustür aufging und sie in sehr erstaunte Elternaugen blickte. Doch letztendlich reagierten die Schuberts – Heike und Frank – sehr entspannt und mitfühlend. Sie luden Frau Member in die Wohnung ein, stellten kurzerhand einen weiteren Teller inklusive Besteck und Weinglas auf den Tisch und verhielten sich gerade so, als sei es das Normalste auf der Welt, am Heiligabend eine wildfremde Frau unter sich zu haben.
In der Küche hilft Renate der zweifachen Mutter Heike beim Bestücken des Fleischtellers. Dann nimmt sie die Kartoffelschüssel in die eine Hand, die Soße in die andere und bringt alles raus ins Esszimmer. Dort sieht sie sich noch mal um, ob auch an alles gedacht wurde: die Kerzen brennen, dass Essen steht fast komplett auf dem gedeckten Tisch, das Christkind-Glöckchen wartet auf der Kommode auf ihren Einsatz und Frank breitet gerade alle Geschenke – einen Großteil für Jonas – unter dem Weihnachtsbaum aus.
Die Geschenke – auch ihr eigenes – für Tara sind bereits in dem Sack der später im Eingang dem Weihnachtsmann übergeben werden soll.
Es klingelt. Jonas, Fritzi der Cocker Spaniel und Gina kommen von ihrem Spaziergang zurück.
Plötzlich zuckt Renate zusammen. Schnell eilt sie in den Flur, öffnet ihre Tasche, entnimmt ihr ein großes und zwei kleinere Geschenke und bringt diese ins Wohnzimmer. Neben Frank kniet sie am Baum nieder und platziert die beiden Geschenke für Heike und Frank inmitten der dort bereits liegenden Geschenke.
Das größte Geschenk – für Jonas – legt sie nach ganz rechts außen, damit es keine anderen Geschenke verdeckt. Ein kleines buntes Kärtchen baumelt herab und wenn Jonas dieses später in den Händen hält, wird seine hohe, fröhliche Kinderstimme verkünden „Für Jonas vom Christkind – im Auftrag von Oma“.
© vakalopo