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Einsam, alt, bedrückt

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13.06.2013
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Einsam, alt, bedrückt

Er setzt die Geburtstagstorte auf den kleinen Tisch und zündet die Kerze an. Es ist nur eine einzige, weil die Pflegerin ihm nicht mehr geben wollte. Er habe so zittrige Hände, sagt sie.
Er fährt sich mit der altersschwachen Hand durch sein schütteres, graues Haar und setzt sich an das eine Ende des Zweiertisches.
„Schatz“, sagt er zu dem leeren Platz gegenüber. „Meine geliebte Frau. Ich wünsche dir alles Gute zu deinem Geburtstag.“
Ihr Geburtstag, der auch gleichzeitig ihr goldener Hochzeitstag war, fällt in diesem Jahr auf einen Sonntag.
Der alte Mann schneidet ein Stück von der billigen Gefriertorte ab und legt es auf den Teller, der für sie bestimm ist. „Schatz“, sagt er wieder in den leeren Raum hinein. „Du wirst heute neunundsiebzig Jahre alt, und fünfzig Jahre sind wir nun schon glücklich verheiratet.“
Die meisten Leute verstehen nicht, dass seine Frau seit einigen Jahren nur körperlich nicht mehr da ist. Aber das ist in Ordnung, denkt der alte Mann. Leute glauben eben nur, was sie sehen.
Seine Tochter kam letzte Woche zu Besuch. Aber sie war nicht nett zu ihm, nein, das war sie nicht. Sie hat ihn angeschrien, warum er so tat, als würde seine Frau, ihre Mutter, noch leben, und warum er das Offensichtliche nicht anerkenne.
Aber er hat sie nicht verstanden. Seine geliebte Frau war doch nicht weg. Sie saß doch in diesem Moment ihm gegenüber und sie beide genossen ihren goldenen Hochzeitstag. Warum hielten ihn die Leute für einen verrückten alten Mann? Warum fanden sie sein Verhalten respektlos? Kam ihn deshalb keiner besuchen? Haben ihm seine Kinder deshalb ihre Glückwünsche für diesen wunderbaren Tag vorenthalten? Wieso verstanden sie die Liebe zu seiner Frau nicht?
Draußen prasselt der Regen gegen die schmutzigen Scheiben des Altenheims.
Er berührt über den Tisch hinweg die nicht vorhandene Hand seiner Frau und sagt: „Schatz, ich verstehe deine Freude über diesen Tag. Aber möchtest du jetzt nicht deine Torte probieren? Sie schmilzt ja schon."

 

Hm.... Ein großes Hm bleibt da nach dem Lesen bei mir zurück... Man könnte fast dankbar dafür sein, dass der Alte wenigstens selbst an das Weiterleben seiner Frau glaubt. Aber: Ist er verrückt? Dement? Weiß er, dass sie nicht da ist, aber gibt sich bewusst seiner Erinnerung hin? Hm...

 

Hallo und herzlich willkommen hierselbst,
lieber Ghandi!

Ich nehme an, dass Du relativ jung bist und umso schwieriger wird es sein, sich in den Protagonisten, einen alten Witwer, hineinzuversetzen, der weniger trauert (als der sich der schmerzliche Verlust eines Menschen ausdrückt, den man vermisst) als sich vorzustellen, seine Frau lebe noch, ohne dass ich über Endorphine oder dergleichen zu spekulieren vorhabe. Das gelingt Dir, dem Erzähler, durchaus als teilnehmender Beobachter, wie ich finde. Was nicht ganz gelingt, sind Konjunktivkonstruktionen, die hier bei der indirekten Rede

Er habe so zittrige Hände, sagt sie
durchaus gelingt. Hier aber wäre für die Nebensätze durchaus angezeigt
Die meisten Leute verstehen nicht, dass seine Frau seit einigen Jahren nur körperlich nicht mehr da ist. Aber das ist in Ordnung, denkt der alte Mann
wobei der Part des Protagonisten auch eine wörtliche Wiedergabe sein kann. Vorzuschlagen wäre
Die meisten Leute verstehen nicht, dass seine Frau seit einigen Jahren nur körperlich nicht mehr da [sei/wäre]. Aber das [sei] in Ordnung, denkt der alte Mann
oder alternativ
[„]Aber das ist in Ordnung[“], denkt der alte Mann
Kursivschreibung wäre eine dritte Möglichkeit.

Ähnlich hier:

Sie hat ihn angeschrien, warum er so [tue/täte], als würde seine Frau, ihre Mutter, noch leben, und warum er das Offensichtliche nicht anerkenne.

Alles kein Beinbruch & durchaus gern gelesen vom

Friedel,
der noch einen schönen Restsonntag wünscht!

 

Hallo Ghandi,

nach Leben, Leiden, Enttäuschung nun also Einsam, alt, bedrückt. Du siehst das Leben wohl eher in Molltönen, wie?

Zunächst einmal möchte ich ausdrücklich Friedrichard zustimmen: Konjunktivkonstruktionen sind eine schwierige Kiste, die selbst stets umschiffe, falls möglich.

Der Grundkonflikt Deiner Geschichte ist interessant – Imagination versus Rationalismus. Du berührst damit ein weites Feld widerstreitender Kräfte, das jeder aus dem eigenen Leben kennt.

Ich finde diese Geschichte vom Emotionalen her noch gelungener als Leben, Leiden, Enttäuschung und bin gespannt, was ich noch so von Dir lesen werde.

Beste Grüße
Achillus

 

@Friedrichard und Achillus, vielen Dank für eure Kritik, und für die Verbesserungsvorschläge. Ich geh noch zur Schule und taste mich gerade an Philosophisches ran; kann auch von meinem Philosophie-LK kommen :)
Ich sehe das Leben tatsächlich meist in Molltönen, wie du, Achillus, so schön beschrieben hast. Wie soll man es heutzutage auch anders sehen? Um allein das Thema Tiere anzusprechen, muss man nur mal ins Tierheim gehen oder sich den Film "Earthlings" anschauen, dann ist der Tag gelaufen... für mich sind Menschen die widerwärtigsten Tiere. Da bevorzuge ich doch eher eine Fantasiewelt, wie die aus "Herr der Ringe", das übrigens mein Lieblingsbuch/+film ist. Deswegen freu ich mich grad riesig, dass du diesen Beweis der Genialität unserer Phantasie gerade liest :)
Also nochmal Danke, vor allem für den grammatischen Aspekt!

 

Hallo Gandhi,

Du hast die Perspektive des Mannes gut getroffen. Tatsächlich erfahren solche alten Menschen, die an der Vergangenheit hängen, oft wenig Verständnis. Und bauen sich doch manchmal, wie Dein Mann, eine ergreifende Geschichte um ihr Elend herum auf.
Der Konjunktiv, da hat Friedel recht, schüfe noch mehr Möglichkeiten, um diese Situation zu beschreiben.
Es ist eine sympathische Geschichte.
Herzlichst
Wilhelm

 

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