Was ist neu

Einmal online und zurück

Mitglied
Beitritt
07.10.2002
Beiträge
72
Zuletzt bearbeitet:

Einmal online und zurück

Es war circa 10 Uhr, als ich den Regionalzug in Richtung einer süddeutschen Kleinstadt bestieg. Das Abteil, das ich mir ausgesucht hatte, war fast leer. Vielleicht lag es ja daran, dass ich mich für einen Wagen entschieden hatte, in dem man rauchen konnte. Es roch nach kaltem Rauch, die Behälter, die offensichtlich für die Asche vorgesehen waren, quollen über mit Papierschnipseln, die zum Teil angebrannt waren. Wer häufiger mit dem Zug fuhr, wusste das sicher und mied für kurze Strecken solche Abteile. Eine leere Coladose lag unter dem mir gegenüber liegenden Sitz. Noch lag sie da, als hätte man sie angenagelt, doch sobald sich der Zug in Bewegung setzen würde, würde sie ihr Konzert anstimmen, indem sie gegen alles, was ihr im Weg stand mit hohlem Blechgeräusch anstoßen würde. Für einen Augenblick überlegte ich, ob ich mich umsetzen sollte, doch ich verwarf den Gedanken, obwohl mir klar war, dass sich erst mal alle Augen auf mich richten würden, sobald diese Dose sich in Bewegung setzte. Sie schauten nie nach den Dosen, sie schauten immer nach den Menschen, die sich in der Nähe solcher kleinen Ruhestörer aufhielten. Vielleicht würde ja die Sonne noch ihren Weg durch den wolkenverhangenen Himmel finden, dann könnte ich meine Sonnenbrille aufsetzen, die mir, das bildete ich mir immer ein, einen gewissen Schutz vor Blicken gab. Ich mochte es nicht, wenn man mich anschaute, wenn man versuchte, hinter die Fassade zu blicken, ohne dass man mich kannte. Schließlich verschonte ich meine Mitmenschen auch mit neugierigen Blicken, ließ sie in Ruhe und wollte auch in Ruhe gelassen werden.

Wie durch einen Nebel hörte ich das Trillern der Pfeife und schon ging ein Ruck durch den Wagen. Jetzt war es zu spät auszusteigen, aber die Chance würde sich noch ergeben bei den nächsten Stopps. Dreimal würde der Zug anhalten, dann hätte ich mein Fahrziel erreicht, also hatte ich noch die Möglichkeit, alledem, was sich da in den letzten drei Monaten entwickelt hatte, zu entfliehen.

Die Coladose war gnädig und bahnte sich ihren Weg im Mittelgang, fort von mir, fort von meinen Gedanken und meinen zitternden Händen, die nun schon die zweite Zigarette innerhalb von zehn Minuten hielten. Wie ein langsamer Film lief die Landschaft am Fenster vorbei. Die meisten Bäume trugen kein Laub mehr, und obwohl die Sonne jetzt endlich durchgebrochen war, konnte man die Kälte an diesem Morgen erahnen, selbst wenn man noch nicht vor die Türe gegangen war. So konnte ich, nach meiner Ankunft, das Zittern meines Körpers, sofern es überhaupt dazu kam, mit dieser Kälte begründen.

Ich kannte ihn nun seit drei Monaten. Wir hatten uns in einem Chat kennen gelernt, hatten beide eine Vorliebe für diese Art der Unterhaltung und nicht einen Augenblick verschwendete ich Anfangs einen Gedanken daran, ihm jemals zu begegnen. Im Gegensatz zum ihm chattete ich, weil es mir gefiel auf die verschiedensten Menschen zu treffen, ohne ihnen wirklich nah zu sein. Die Option, jederzeit auf 'logout' zu gehen, keinen Menschen dabei wirklich zu verletzen, ihn vor den Kopf zu stoßen, war mir wichtig. Nachdem ich ein Jahr lang gechattet hatte, war mir klar geworden, dass sich diese Welt von meiner wirklichen Welt unterschied und ich bei jedem 'logout' wieder zu einem ganz normalem Menschen in einer ganz normalen Welt wurde. Die anfängliche Verzettelei, das Vermischen von Traum und Realität hatte ich mir abgewöhnt, es war ganz einfach, es gab mich virtuell und real. Dann traf ich auf Christoph und ganz langsam warf ich alle Vorsätze über Bord, die mich und mein Gegenüber schützen sollten. Christoph war Single und machte keinen Hehl daraus, auch im Chat eine Chance zu sehen, eine feste Partnerin zu finden, ich hingegen befand mich in einer langjährigen Beziehung und obwohl er das von Anfang an wusste, verliebte er sich in mich. Später, als er mir das gestand, als er mir gestand, in seinem Leben nie tiefer für eine Frau empfunden zu haben, rührte mich das. Nein, eigentlich rührte es mich nicht, es brachte ihn mir näher, sehr viel näher. Er hatte sich in mich verliebt, ohne je einen Blick auf mich geworfen zu haben, er meinte nicht meinen Mund, meine Augen, meine Haare, meinen Körper und was so alles bei einem ersten Blick zählte. Er meinte mich, wirklich mich, das was mich ausmachte, wovon so viel gesprochen wird und was bei einer Begegnung 'Auge in Auge' doch nicht zählte. Da zählte in erster Linie Optik, ganz egal, wie dieser Mensch war, wie er dachte, fühlte. Ich hatte die ersten Zeichen seiner Verliebtheit nicht bemerkt, vielleicht nicht bemerken wollen, obwohl alle Anzeichen dafür sprachen. Manchmal schien es mir, als würde er nur noch für unsere Chat’s leben, jede Unbequemlichkeit in Kauf nehmen, nur um ein paar Sätze mit mir auszutauschen. Während ich bequem an meinem PC zuhause saß, hetzte er sich ab, immer ein Cyber-Cafe zu finden, was oftmals kein leichtes Unterfangen war, da er zum Zeitpunkt unserer ersten Begegnungen noch im Ausland jobbte und die dortigen Gegebenheiten anders waren, als hier.

„Kannst du dir vorstellen, mich jemals zu treffen?“, hatte er mich eines Tages gefragt. Ohne einen großen Gedanken zu verschwenden, wie ernsthaft diese Frage nun gemeint war, antwortete ich „ja, vorstellen kann ich es mir schon“. Es war dahin gesagt, so wie man sich vieles im Leben vorstellen kann, einen Lottogewinn, eine Weltreise, oder einen Atomkrieg. Das alles konnte ich mir vorstellen, ohne wirklich zu glauben, dass es jemals eintreffen würde. Sein Wunsch, mich einmal real zu treffen, wurde größer und allmählich entzog ich mich diesem Wunsch nicht mehr. Was sollte schon passieren? Man könnte einen Kaffee zusammen trinken, ein bisschen reden und dann auseinander gehen. Würde man sich verstehen, auch real verstehen, dann könnte man sich wieder und wieder im Chat treffen, sich Mails schreiben, und irgendwann mal wieder treffen, wenn man in der Nähe des Anderen war. Wir fingen an, zu planen.

„Mein Freund lebt in Süddeutschland, da hätte ich eine Möglichkeit, mal für eine Woche unterzukommen.“ Dieser Vorschlag gefiel mir. Meine Familie lebte ganz in der Nähe, also hätte ich ein Alibi für diese Reise, konnte zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Ich sah meine Familie wieder, die ich nun schon seit fast einem Jahr nicht mehr besucht hatte und konnte es mit einem Treffen verbinden. So buchte ich also meinen Flug, während Christoph mir die Bahnfahrkarte besorgte und zuschickte. Gleich am zweiten Tag nach meiner Ankunft würde ich zu ihm fahren. Ein früher Zug, das wollte er, soviel Zeit wie möglich wollte er haben für dieses erste Treffen. Ich musste keine lange Bahnfahrt auf mich nehmen, der Wohnort seines Freundes lag gerade mal eine halbe Stunde von dem meiner Eltern entfernt.

Während all der Zeit, in der sich zwischen Christoph und mir mehr und mehr entwickelte, hatte ich nicht für eine Sekunde ein schlechtes Gewissen, meinem Lebensgefährten gegenüber. Was war denn schon schlimm daran, sich mit einem Gesprächspartner aus dem Chat zu treffen? Natürlich konnte ich ihm davon nichts erzählen, er hätte sich sicher sonst was gedacht und es gab keinerlei Grund zur Beunruhigung. Außerdem hatte er eine extreme Abneigung gegen Chat’s jeglicher Art. „Billige Kontaktbörse“, nannte er es oft und war alles andere als erbaut darüber, dass ich so oft chattete.

„Verdammt, ich bin ja schon hier.“ Meine Gedanken wurden jäh unterbrochen, als der Zug am Zielort einfuhr. Ein letztes Mal hörte ich die leere Coladose im hinteren Teil des Wagens scheppern, nahm meine Tasche und ging in Richtung Ausgang. „Sonnenbrille auf oder nicht?“, war das Einzige, was mir jetzt durch den Kopf ging. Ich entschied mich gegen die Sonnenbrille, es war nicht fair, es gehörte sich einfach nicht, die Augen zu verstecken. Er würde sicher genauso nervös sein, wie ich es war und schließlich hatte ich mich auf dieses Abenteuer eingelassen, also jetzt keine Feigheiten.

Ich stieg aus dem Wagen aus, eigentlich fiel mir jetzt erst auf, dass es einer der letzten war. Das war günstig, so konnte ich den Bahnsteig komplett überschauen. Er hatte gesagt, er würde Schwarz tragen aber noch konnte ich niemanden entdecken, der schwarze Kleidung trug oder Ähnlichkeiten mit ihm hatte. Wir hatten natürlich im Vorfeld Bilder ausgetauscht, aber was sagten schon Bilder. Richtig vorstellen konnte ich ihn mir nicht. Ich wusste, dass er nicht sehr groß war, kleiner als ich, dunkelblond, braune Augen, eine Brille. „Mit dem nächsten Zug zurück“, war alles, was ich denken konnte und genau in dem Moment sah ich ihn. Wir gingen betont langsam aufeinander zu, grinsten uns an, als wir auf selber Höhe waren, gaben uns die Hand und stammelten irgendwelchen Unsinn daher. Ich könnte nicht mehr sagen, was wir uns in diesem ersten Moment sagten, während wir uns natürlich taxierten und während sich jeder seine eigenen Gedanken über diesen ersten optischen Eindruck machte. Dass er nicht Brad Pitt oder so etwas in dieser Art war, das wusste ich ja schon vorher, genauso wenig, wie ich ein Glamour-Girl war, das auf Postern abgelichtet, an keiner Schlafzimmerwand eines Junggesellen-Haushaltes fehlen durfte.

Auf dem Weg zur WG seines Freundes sah er mich unentwegt an, es ging so weit, dass er von einem Verkehrsschild unsanft gestoppt wurde. Wir lachten, amüsierten uns beide über dieses kleine Missgeschick und genau in diesem Moment wurde mir klar, dass ich verliebt in ihn war. Wir kamen uns ziemlich schnell nahe, schneller als ich gedacht hatte, heftiger als ich es eigentlich vor hatte. Unsere Gespräche im Chat zielten nie auf Sex ab, wir hatten nie das, was man Cybersex nennt, irgendwie war es auch immer erotisch zwischen uns beiden, ohne dass wir deutlich werden mussten. Jetzt hatten wir Sex, nein, noch nicht an diesem ersten Tag, an diesem Tag kamen wir uns nur schon sehr nah, auf eine sanfte und so zärtliche Weise, wie ich sie noch nie erlebt hatte. Am zweiten Tag liebten wir uns, ausgehungert und doch ohne jegliche Gier, so, als ob die Zeit der Welt für uns still stand, für diesen Moment und für alle Zeit, die folgen sollten. Alle Vorsätze galten nun nichts mehr, ich befand mich in einem absolutem Ausnahmezustand, wurde zur ausgekochtesten Betrügerin, log, dass sich die Balken bogen, lebte fast problemlos zwei Leben – zwei Jahre lang. Ich redete mir ein, dass ich nichts tat, was wirklich schlimm war, schließlich liebte ich diesen Mann und er liebte mich. Weh tun wollte ich keinem, nicht meinem Lebensgefährten, nicht Christoph. War ich mit Christoph zusammen, und diese Treffen waren selten, alle zwei Monate ein Wochenende, mal ein verlängertes Wochenende, aber nie mehr als vier Tage, dann war ich in einer anderen Welt. Diese Welt hatte nichts mit dem zu tun, was ich täglich erlebte. Die Zeiten dazwischen überbrückten wir mit Telefonaten, deren Zeitpunkt ich diktierte. Wie hätte er mich auch einfach mal so anrufen können, ich lebte doch nicht alleine. Es ging einfach nicht und irgendwann hatte ich den Eindruck, dass er mit dieser Lösung leben konnte. Das Chatten hatten wir schon nach unserem ersten Treffen eingestellt, Christoph wollte es nicht mehr, er wollte diese Traumwelt nicht mehr. Eine Traumwelt, meine Traumwelt? Ist man in einer Traumwelt zu Emotionen fähig?

Dann war es vorbei, ganz plötzlich und irgendwie virtuell. Per SMS, so einfach war das. Christoph konnte meine Entschlussunfähigkeit nicht mehr ertragen, aus anfänglichem Leiden, verbunden mit tränenreichen Gesprächen und Begegnungen, wurde mehr und mehr Distanz. Er hatte sich ein Leben mit mir gewünscht, ich konnte mich nicht entscheiden – pure Feigheit, nicht mehr und nicht weniger.

Ich blieb zurück. Manchmal begebe ich mich wieder in die Virtualität, immer mit einem schlechtem Beigeschmack, ich tu’s trotzdem. Was ich suche? Ich weiß es selbst nicht. Alles ist so, wie es vor zwei Jahren war – es gibt mich virtuell und es gibt mich real, nur Christoph gibt es da nicht mehr.

 

Hi DV,


willkommen auf KG.de

ich habe deine Geschichte gern gelesen. Ich finde, du beherrscht deine Sprache, die du verwendest.
Und du wirst es kaum glauben, aber ich finde den Anfangsteil, bevor das mit dem Internet losgeht, am besten. Eigentlich ist er zu lang, weil das eigentliche Thema ja ein anderes ist. Aber in dem zeigt sich, dass du eine gute Beobachterin bist und die Gedankengänge, die einem bei einer solchen Fahrt passieren, gut schildern kannst.

Dein Hauptthema finde ich nicht schlecht. Doch es fehlt etwas der Pepp. Du hast irgendwie keinen richtigen Konflikt gezeichnet. Der Konflikt, ob die Protagonisten ihn treffen soll. Der Konflikt zwischen ihr und dem einen sowie dem anderen Mann. Es plätschert so ein bisschen dahin. Das ganze hätte man noch spannender und interessanter schreiben können, meiner bescheidenen Meinung nach.

Viele liebe Grüße

PeterPan

 

Hallo PeterPan,

dankeschön für deinen Willkommensgruß und deine Kritik.
Du hast natürlich Recht; irgendwie merkte ich schon beim Schreiben, dass der Anfangsteil zu lang wird, ich konnte mich aber einfach nicht aus dieser Stimmung befreien und wollte es dann letztendlich auch so stehen lassen. Der Hauptaugenmerk, so war es eigent-
lich von mir gewollt, sollte auf der Realitätsflucht der Protagonistin liegen. Beim nächsten Mal versuche ich's besser zu machen - versprochen. :-)

Lieben Gruß zurück

Déjà-vu

 

Hallo Déjà-vu!

Am Anfang der Geschichte kam es mir vor, als würde es sich um die gleiche Frau wie aus "Herbstmond" handeln. Sie scheint ganz ähnlich wie diese zu fühlen. Das Verlieben über das Internet... *seufz* In einer Traumwelt, in der Traumwelt des Internet (um die Frage kurz vor Schluss aufzugreifen) ist man durchaus zu Emotionen fähig. Diese Traumwelt zu verlassen und es in die Realität zu überführen scheint oft sehr schwer zu sein. *damit so ein paar kleinere erfahrungen hat* Insgesamt fand ich den Text gelungen, und das Ende ist sehr ernüchternd.

Liebe Grüße,
Mario

 

Hallo Mario,

vielen Dank für deine Antwort, aus der ich entnehmen konnte, dass du ein sehr guter Beobachter bist. Dass du die Geschichte für gelungen hältst freut mich sehr. Andere Rahmenbedingungen hätten diese Liebe sicher real weiterleben lassen, aber wie das Leben/diese Geschichte so spielt, waren sie nunmal so vorgegeben und konnten kaum zu einem Happyend führen.

Lieben Gruß zurück
Déjà-vu

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom