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Einmal möchte ich nach Paris
1
„Einmal möchte ich nach Paris.“
Etwas widerwillig öffne ich die Augen: „Nach Paris?“
Julia hat sich auf die Seite gedreht und schaut mich an. „Warst du schon mal dort?“
Ich überlege. „Ja, ist aber lange her. … Jan und ich waren noch nicht lange verheiratet. ... Keine Ahnung, in welchem Jahr das war.“
„Ist es so schön, wie alle sagen?“
„Ich glaube schon. Aber warum gerade Paris?“
„Weiß nicht. Vielleicht wegen der breiten Straßen mit den rosa blühenden Bäumen. Oder wegen der Luft. Wenn ich meine Augen schließe, spüre ich sie: Sie ist ein bisschen kühl, prickelt ganz leicht, so als wäre sie lebendig. Wie eine kleine Feder streichelt sie mich, kitzelt meine Nase.“ Und wie um es mir zu zeigen, kräuselt sich Julias Nase.
„Und weißt du, was das Schönste ist: Überall in den Cafés unter den Bäumen sitzen Menschen, die frei und glücklich sind.“
„Julia, hör auf zu spinnen.“
„Ja, das sagst du immer. Weißt du, in meinem Kopf ist diese Melodie. Du kennst sie - die von der Piaf. Auf Französisch kann ich es nicht sagen, aber ich glaube, sie singt über ihr Leben und dass nicht alles gut war. Aber sie bereut nichts.“ Sie summt die Melodie.
Ich lächle und überlege, ob ich vor dreißig Jahren auch so hoffnungslos versponnen war wie Julia. Doch ich mag ihre Sensibilität und Fantasie. Obwohl uns fast drei Jahrzehnte trennen, sind wir seit vielen Jahren Freundinnen. Beide lieben wir diese Momente, in denen wir uns all das erzählen können, was uns beschäftigt: mein Älterwerden, ihre Probleme mit Antonia, ihrer Tochter.
Wir liegen am Teich neben der alten Weide, deren Zweige träge über dem Wasser schaukeln. Das erste Grün des Jahres. Schade, denke ich, dass die schmalen Blätter später dunkler werden und am Ende des Sommers aussehen, als läge ein Grauschleier auf ihnen.
Julia hat ihre Augen geschlossen. Wir genießen in unseren Liegestühlen die warmen Strahlen der Frühlingssonne. Ich betrachte sie und denke wie so oft, dass sie wirklich gut aussieht mit ihrem dunklen, fast schwarzen Haar und dem zarten Profil.
Beim Rumkramen fiel mir vor ein paar Tagen ein Bild in die Hände. Ein Fotograf in Istanbul hat es vor dreißig Jahren gemacht. Ich muss damals ungefähr so alt gewesen sein wie Julia heute. Gespannt zeigte ich es ihr. Sie war ganz aufgeregt. „Mein Gott, du siehst da ja aus wie ich.“
Ich musste schmunzeln. Ja, es gibt eine gewisse Ähnlichkeit. Auch ich bin der dunkle Typ, habe braune Augen, und selbst meine Nase gleicht ihrer. Doch für Julia hat alles eine tiefere Bedeutung. Sie glaubt nicht an Zufälle, alles ist Schicksal – von einer unbekannten Macht gesteuert.
„Was macht Antonia?“
Julia öffnet die Augen. Erst jetzt fällt mir auf, dass darunter wieder diese Schatten sind.
„Ist alles in Ordnung?“
Sie setzt sich auf und fingert eine Zigarette aus der Schachtel, die neben ihr auf dem kleinen Hocker liegt. Sie lässt sich Zeit mit der Antwort, nimmt einen tiefen Zug. „Ja, alles in Ordnung. Im September kommt sie ins zweite Jahr.“
„Wie sind ihre Noten? Geht sie jetzt regelmäßiger?“
„Ja, sicher.“
Den Rauch inhalierend betrachtet Julia einen Frosch, der auf einem der ersten Seerosenblätter sitzt.
„Wenn sie fertig ist, möchte sie Model werden.“
Natürlich, denke ich, was sonst.
„Ist sie dafür nicht zu klein?“, frage ich.
„Ja, aber sie wächst noch.“
„Bist du sicher? Sie ist schon siebzehn.“
„Weißt du, ich bin optimistisch. Ich habe gelesen, dass es manchmal noch einen Schub gibt.“
Unter der Weide schleicht sich meine kleine Katze in unsere Nähe. Sie springt auf die Liege und noch bevor sie ihren Platz auf meinem Bauch gefunden hat, beginnt sie zu schnurren. Ich streichle sie und der kleine Motor in ihr vibriert stärker und lauter.
„Das schöne Wetter bleibt noch ein paar Tage. Hättest du Lust, am Wochenende mit an die See zu fahren? Jan möchte nicht.“
Mein Mann ist bequem geworden. Ihm reicht unser schönes Haus und die Großzügigkeit des Gartens. Er sei schon genug in der Welt herumgekommen, sagt er, und ihn ziehe es nicht mehr hinaus. Ich könne aber seinetwegen gerne mal wieder was unternehmen.
Julia sucht nach einer Möglichkeit, ihre Zigarette auszudrücken. Ihr Blick bleibt hängen an einem Stein, der in der Nähe des Teichs liegt. Sie drückt ihre Zigarette am Bein des Liegestuhls aus und steht auf. Der Kiesel ist etwas lehmig und sie befreit ihn sorgfältig von den Erdbröckchen.
„Schau mal. Ist das nicht wundervoll: ein Herz.“ Wie etwas Wertvolles liegt der Stein in der Mitte ihres Handtellers.
„Also, was ist nun mit dem Wochenende?“
„Ja, ich komme gerne mit.“ Immer noch betrachtet Julia den Stein.
„Sonntag?“
Ich schaue sie an. „Samstag passt nicht?“
Sie schüttelt langsam den Kopf, lächelt geheimnisvoll und wartet auf meine Frage.
„Was ist? Was ist mit Samstag?“
„Es gibt jemand.“
Ich richte mich auf und meine Katze sucht unwillig nach einer neuen Position.
„Was? Du hast jemand kennen gelernt?“
„Ja, auf Facebook.“ Sie setzt sich, greift nach der Zigarettenschachtel, legt sie aber zurück. „Stell dir vor, ich kenne ihn von früher. Wir sind zusammen zur Schule gegangen. Er dachte, ich sei längst verheiratet und war ganz überrascht, dass ich alleine bin. Samstagnachmittag wollen wir uns sehen.“
Das ist eine gute Nachricht. Ich nehme meine Hand von der Katze und streichle Julias Arm. Ihre Hand umschließt den kleinen Stein.
2
Ich liebe diese Holzterrassen in den Dünen. Das schützende Glas lässt die kühle Seebrise draußen und gibt uns die Illusion eines Sommertages. Der Kellner bringt Kaffee und Apfelkuchen. Julia scherzt mit ihm und bittet ihn, ein Foto zu machen.
„Rücken Sie ein wenig zu Ihrer Mutter, dann kann man auch den Strand im Hintergrund sehen.“
Julia grinst mich an und schiebt ihren Stuhl neben mich. Sie flüstert: „Siehst du, er hält dich auch für meine Mutter.“
Der Kellner macht noch ein zweites Bild. Beide haben wir unsere Sonnenbrillen ins Haar gesteckt. Heute sind Julias Augen frei von Schatten.
Früher einmal habe ich sie darauf angesprochen.
„Die kommen von den Nieren“, ist ihre Antwort.
„Aber, keine Sorge, das bedeutet nichts.“
„Bist du sicher? Hast du keine Schmerzen?“
„Ja, manchmal tun sie weh. Wie Rückenschmerzen.“ Sie denkt nach.
„Weißt du, was ich dann mache? Ich lege meine Hand …“ Sie unterbricht sich. „Ich weiß, dass du lachst, wenn ich es dir sage. … Ich lege meine Hand auf den Schmerz und warte auf die positive Energie. Und stell dir vor, die Schmerzen verschwinden.“
Klar, denke ich, Autosuggestion. Ich beschließe, nichts dazu zu sagen. Sie weiß eh, was ich von dem ganzen Esoterik-Quatsch halte. Ich akzeptiere, dass es Julias Möglichkeit ist, mit den Problemen ihres Lebens fertig zu werden. Das Diskutieren darüber habe ich längst aufgegeben.
„Möchtest du eine Fußmassage?“
Noch bevor ich nicke, hat sich Julia auf die sandigen Bohlen gesetzt und mir die blauen Strandschuhe ausgezogen. Sie sitzt im Schneidersitz vor mir und beginnt meine Füße zu kneten. Ich genieße die Wohltat, schaue mich kurz um, und sehe, dass uns niemand beachtet. Über eine Stunde sind wir zwischen den Prielen und Muschelbänken gelaufen und die Entspannung tut meinen Füßen gut.
„Wann seht ihr euch wieder?“
„Ich weiß noch nicht. Er hat nicht so viel Zeit.“
„Was macht er denn?“
„Michael hat eine kleine Firma, Informatik oder so was.“
„Und die lässt ihm keine Zeit, dich öfter zu sehen?“
„Doch, aber er hat sehr viel zu tun.“
„Auch abends, auch am Wochenende?“
„Natürlich nicht.“ Julia hebt ihren Kopf und lächelt mich an. „Er weiß nur nicht lange vorher, wann er Zeit hat.“
„Bist du glücklich?“
„Ja sehr. Er sagt, dass er mich schon in der Schule gemocht hat. Aber er hat sich nicht getraut, mich anzusprechen.“
Während ihre Hände an meinem Knöchel auf- und abgleiten, hängt Julia ihren Gedanken nach.
„Weißt du, er kann mich minutenlang anschauen, so, als könnte er gar nicht fassen, dass wir uns wiedergetroffen haben. Es ist wie eine Fügung.“
Julia nimmt den anderen Fuß in ihre Hände. Hin und wieder legt sie ihre Finger auf Punkte, die nur sie kennt. Beim ersten Mal hat sie mir erklärt, dass jede Bewegung ihre Bedeutung habe. Ich habe ihr geantwortet, dass ich an all diesen Hokuspokus nicht glaube, aber dass mir das Resultat gefalle.
Das Kneten und Massieren wird langsamer. Julia hebt ihre Hände und lässt sie für kurze Zeit wie segnend über meinen Füßen schweben, bevor sie das Ritual beendet.
Mir ist das Ganze zu lang und zu umständlich geworden und ich bin froh, als Julia endlich wieder neben mir sitzt.
„Wo seid ihr gewesen?“
„Wir haben uns bei den Gärten getroffen.“
Julia hat einen Schrebergarten von ihrer Großmutter geerbt.
„Das ist ein schöner Platz jetzt im Frühling.“
„Ja, meine Großmutter war gerne dort, manchmal ist sie sogar über Nacht geblieben.“ Sie schaut zum Wasser, unter dem die Muschelbänke jetzt verschwunden sind.
„Unser Nachmittag war wunderbar. So eine Vertrautheit. Als hätten wir uns gerade erst getrennt. Schade, dass er nicht bleiben konnte.“
„Am Samstag?“, entfährt es mir.
„Ja. Wahrscheinlich musste er noch arbeiten.“
Ich ärgere mich über mein Misstrauen. Es liegt wohl daran, dass ich ein alte Frau bin, die überall nach einem Haken sucht. Warum hat ein frisch verliebter Mann am Samstagabend keine Zeit?
„Mach dir nicht so viele Gedanken über mich. Es wird alles gut werden.“
Sie zieht ihre Sonnenbrille über die Augen.
„Schau dir lieber den Himmel an. Die Wolken – sie bleiben über dem Land, als schiebe eine große Kraft sie immer wieder zurück, sobald sie der Küste zu nahe kommen.“
3
Mein Handy klingelt.
„Julia, was gibt’s?“
„Kannst du mir dein Auto leihen? Ich muss in die Stadt, irgendwas ist mit Antonia.“
„Kein Problem. Ich muss sowieso einkaufen. Wann soll ich dich abholen?“
„Um vier.“
Schon bevor wir einen Parkplatz gefunden haben, sehe ich Antonia mit ein paar Jungen neben dem Imbiss stehen. Sie sieht das Auto, löst sich aus der Gruppe und kommt zu uns. Schwarz umrandete Augen, fettiges Haar – ich mag dieses Mädchen nicht.
Julia steigt aus. Ich lasse mir Zeit mit dem Einparken und bleibe im Auto.
Sie stehen ein wenig entfernt und diskutieren. Sie scheinen zu streiten. Nach einigem Hin und Her dreht Antonia sich brüsk um und stakst zu ihren Freunden. Julia schaut ihr nach, will ihr folgen, wendet sich dann aber um und kommt zum Auto. Ihr Gesicht ist fahl.
„Was war das denn jetzt?“, frage ich.
„Sie braucht Geld.“
„Wofür?“
„Keine Ahnung. Einer von den Jungen hat ihr wohl etwas geliehen und möchte es zurück.“
„Und nun?“
„Ich hab nicht genug. Und ich weiß auch nicht, ob es richtig wäre.“
„Soll ich dir helfen?“
„Lass nur, sie sind ja schon weg.“
„Ihr seht euch ja später.“
Es entsteht eine Pause. Julia sitzt neben mir und schaut auf die Scheibe. Sie reibt ihre Hände, als müsse sie sie wärmen.
„Seit zwei Tagen ist sie nicht nach Hause gekommen“, bricht es aus ihr heraus. „Und in der Schule war sie auch nicht. Heute morgen haben sie angerufen.“
Plötzlich greift sie sich in die Seite.
„Was ist mir dir? Hast du Schmerzen?“
„Geht schon.“
„Sollen wir zu einem Arzt fahren?“
„Lass nur.“ Beide Hände liegen jetzt dort, wo ihre Schmerzen sein müssen. Sie atmet tief. Ich fühle mich leer und hilflos.
Nach einer Zeit, es müssen wohl Minuten vergangen sein, nimmt Julia ihre Hände zurück und kramt in ihrer Tasche nach der Wasserflasche. Ich versuche es noch einmal:
„Es ist wirklich mein Ernst: Du solltest zu einem Arzt. So wird das nichts. Du kannst dich nicht immer selbst therapieren.“
„Lass nur.“ Sie legt ihre Hand beruhigend auf mein Bein. „Der kann mir nicht helfen.“ Sie holt tief Luft. „Ich muss meine innere Kraft wiederfinden.“
Resigniert drehe ich den Autoschlüssel.
4
Julia schaut auf ihr Handy. Ich spüre ihre Nervosität. Schon vor ein paar Minuten ist das Zeichen, sich in den Saal zu begeben, ertönt. Wir stehen im leeren Foyer und starren auf den Eingang.
„Julia, wir müssen rein. Lass seine Karte an der Kasse und komm mit.“
Sie zögert.
„Geh nur, ich warte. Er hat gesagt, dass er kommen wird.“
„Gut, aber dann werdet ihr unter Umständen hier bleiben müssen. Die schließen die Türen und lassen bis zur Pause niemanden mehr rein.“ Ich sehe es ihr an. Sie will warten.
Der Saal wird hell. Pause. Während ich dem Foyer zustrebe, suchen meine Augen Julia. Ich hoffe, dass sie nicht mehr allein ist und weiß doch, dass es so sein wird. Im ersten Moment sehe ich sie nicht, dann fällt es mir ein. Ich gehe vor die Eingangstür und natürlich, dort sitzt sie auf einer Bank und raucht. Allein. Ich setze mich zu ihr.
„Was ist passiert.“
„Er kann nicht kommen. Etwas Geschäftliches.“
Mich fröstelt. Dieser Septembertag lässt den nahen Herbst erahnen.
„Komm, lass uns reingehen.“
Manchmal erscheint mir Michael wie ein Phantom, das es nur in Julias Phantasie gibt. Dann wieder denke ich, dass er noch eine andere Beziehung hat und nicht mit Julia gesehen werden möchte.
„Lass mich noch ein bisschen hier bleiben.“ Julia sitzt auf der Bank, zusammengekauert. Ich spüre, dass auch sie friert.
„Julia, ich finde, du siehst furchtbar aus. Was ist los mir dir? Ist es dieser Michael? Ist es Antonia? Oder sind es wieder die Nieren? Gibt es eine Möglichkeit, dass ich dir helfen kann?“
„Nein, du kannst mir nicht helfen. Du musst wissen, meine Nieren sind nur ein Zeichen.“
Ich atme tief durch. Da ist sie wieder, diese Wand, die ich nicht durchdringen kann.
„Ich muss meine Mitte finden, ich muss die positive Energie einlassen. Dann wird alles gut werden.“
„Wer sagt das?“
„Weißt du, ich habe eine Frau kennen gelernt, der es genauso geht wie mir.“
„Hat sie auch Probleme mit ihrer Tochter?“
„Ich glaube nicht. Ihr Leben verläuft nicht, wie sie es möchte. Aber sie hat Hilfe gefunden.“
„Was für Hilfe?“
„Es ist so etwas wie ein Gesprächskreis. Sie sagt, es könne auch mir helfen.“
5
Einige Wochen haben wir uns nicht gesehen. Ich verbringe die tristen Novembertage mit meinem Mann in unserer behaglichen Häuslichkeit. Julia ruft an. Sie ist aufgeregt. Sie möchte kommen und mir alles erzählen. Ich freue mich auf sie. Ende März möchte ich den Winter verkürzen und eine Woche in den Süden fliegen. Ich habe die Hoffnung, dass ich Julia überreden kann, mich zu begleiten. Wir haben das in den letzten Jahren schon ein paar Mal gemacht. Ihr Gehalt ist nicht besonders hoch und ich habe die Kosten übernommen. Es war immer eine gute Abmachung: Julia kümmerte sich liebevoll um alles, ich hatte angenehme Gesellschaft und einen Chauffeur.
Ihre Erregtheit füllt den Raum. Ungeduldig steht sie neben mir, während ich das Wasser in die Teekanne gieße.
„Stell dir vor, mir geht es gut.“
„Nun setz dich doch erst mal. Du machst mich ganz nervös.“
Ich gieße uns Tee ein und erinnere mich an ihre Äußerung.
„Warst du beim Arzt?“
„Nein.“
„Nein?“
„Es ist nicht nötig. Ich habe gelernt, meine Schmerzen zu beherrschen.“
Ich schaue sie skeptisch an.
„Wie das?“
„Weißt du, Krankheit ist kein Zustand. Krankheit ist ein Weg, um dich selber zu heilen“, sprudelt sie los.
„Julia, überleg mal, was du da sagst. Das ist doch völliger Blödsinn.“
Sie hebt ein wenig heftig den Kopf, lächelt mich dann aber mitleidig an.
„Ich will es dir erklären: Die Krankheit ist ein Weg zurück zum heilen Leben. Jeder kann sich selber heilen. Er muss nur sich selber lieben lernen.“
„Ist es das, was diese Gruppe dir vermittelt?“ In mir steigt Zorn auf.
„Ja.“
„Und das hilft dir?“
„Nicht immer. Aber ich bin auf dem Wege. Man muss sich selbst lieben, erkennen, dass man wertvoll ist, sich mit dem Herzen sehen. Dann wird alles heil werden.“
Ich bin erschüttert und überlege, wie ich darauf reagieren soll. Gleichzeitig habe ich das Gefühl, dass alles, was ich sage, umsonst sein wird, dass es sie nicht erreicht.
„Lass uns von anderen Dingen sprechen. Was macht Antonia?“
„Weißt du, ich bin in einer Zeit der Veränderung und des Wandels. Antonia geht ihren Weg. Ich muss sie loslassen.“ Was ist mit ihr passiert? Dieser Trotz in ihrer Stimme ist neu.
„Was macht sie jetzt?“
„Ich weiß es nicht.“
„Und was ist mit Michael?“
„Auch er geht seinen Weg. Manchmal treffen wir uns. Aber seine Psyche ist nicht in Harmonie. Wir berühren uns, aber wir entfernen uns gleichzeitig voneinander.“
Genau dieses Gefühl habe ich auch. Julia hat sich entfernt und ich habe keine Ahnung, wie ich wieder zu ihr finde. Unser Beisammensein wird für mich zur Geduldsprobe. Egal, wo ich ansetze, um mit ihr über ihr Leben und ihre Probleme zu sprechen, wir landen in einem Nebel, durch den negative Gefühle, zugeschüttete Emotionen, gestörte Harmonien, positive Strahlungen, verborgene Selbstheilungskräfte und rätselhafte Energien wabern.
„Ich muss die harmonischen Schwingungen von Bäumen und Blüten in mein Herz lassen, dann kann mein Körper sich selbst heilen“, beendet Julia ihren Vortrag. „Ist das nicht wunderbar?“
Ich sitze ihr gegenüber und spüre, wie sich alles in mir verkrampft. Sie ist in den letzten Monaten dünner geworden, ihre dunklen Augen lassen ihr Gesicht noch blasser erscheinen.
Wir trennen uns. In unserer Umarmung suchen wir nach der alten Vertrautheit. Aber alles, was wir uns zum Schluss wünschen, wird zur leeren Phrase.
Ich spüle unsere Tassen. Sie haben dieses schöne alte Muster aus blauen Kreisen und Ellipsen. An Strohblumen soll es erinnern. Ich kann sie nicht erkennen. Mich lassen die fein geschlungenen, symmetrischen Linien eher an indische Mandalas denken, an ‚Bilder, die einen Mittelpunkt umkreisen’, wie ich irgendwo gelesen habe. Aber es gibt wohl immer mehrere Betrachtungsweisen.
Meine Hand verharrt im warmen Spülwasser. Warum habe ich resigniert und Julia gehen lassen? Wer, wenn nicht ich, hätte ihr sagen können, dass sie sich in die falsche Richtung bewegt, dass sie Scharlatanen aufgesessen ist, die nur ihr Geld wollen - oder ihre Seele. Das hätte ich ihr sagen sollen.
Hätte ich? Ist es für Julia nicht vielleicht sogar besser, sich wegzuträumen, sich auf sich selber zu besinnen, der enttäuschenden Realität zu entfliehen. Eine Tochter, die ihren eigenen Weg gehen möchte, gehen zu lassen, sich zurückzuziehen von einem Mann, der doch nicht zu ihr gehören will. Möglicherweise werden ihre Schmerzen auch wirklich gelindert. Was weiß ich denn? Ist meine Wahrheit die einzig mögliche, die einzig richtige?
Die klaren blauen Linien der Tasse verschwimmen vor meinen Augen und scheinen aus ihrer Starre zu erwachen.
6
Jan steht an der Sperre und erwartet mich. Ich bin glücklich, ihn zu sehen. Schon nach drei Tagen ist mir klar geworden, dass es falsch war, allein zu fliegen. Ich fing an, die Nächte zu zählen und sehnte mich nach meinem Mann, dem Haus und nach dem Schnurren meiner Katze. Meine Umarmung fällt theatralischer aus als sonst und ich bemerke erst, als ich mich löse, dass Jans Reaktion verhalten ist. Wortlos nimmt er meinen Koffer.
„Ist was passiert?“
Er bleibt stehen, setzt den Koffer ab.
„Ja.“ Er schaut mich an, so, als suche er nach den richtigen Worten.
„Es ist was mit Julia, nicht wahr.“ Ich weiß nicht, warum meine Gedanken sofort bei ihr sind.
Seit unserem Treffen im November haben wir uns nicht mehr gesehen. Kurze inhaltslose Telefonate, die unsere Entfremdung nicht aufheben konnten.
"Sag schon, was ist.“ Jans Zögern macht mich nervös.
„Gestern hat man sie gefunden. In der Gartenkolonie. Im Häuschen ihrer Großmutter. Ihre Nieren haben es wohl nicht mehr geschafft.“
7
Ich möchte Abschied nehmen. Links und rechts von meinem Weg sind hinter den Hecken die kleinen Grundstücke mit ihren Lauben. Es ist das erste Mal, dass ich hier bin. Ich kenne alles aus Julias Erzählungen. Vor dem Häuschen blüht eine alte Kirsche. Ich habe gelesen, dass in Japan die Menschen lange Reisen machen, um eine solche Blütenpracht zu erleben. Die Energie aus Bäumen und Blumen – unser letztes Gespräch.
Unter der Geranie, gleich neben der grünen Holztür, liegt der Schlüssel. Ich öffne und betrete den kleinen Raum. Die orangefarbenen Gardinen dämpfen das Tageslicht und geben dem Zimmer etwas Mystisches. Die Möbel wirken bei dieser Beleuchtung, als wäre jemand mit einem Weichzeichner über sie gegangen. Ich sehe einen kleinen Holztisch, zwei Stühle, eine Spiegelkommode und gegenüber in der Ecke ein Bett. Erst, als ich vor dem Bett stehe, erkenne ich das Motiv des kitschigen Posters darüber: eine Allee, gesäumt von rosablühenden Bäumen – an ihrem Ende der Eiffelturm.
Die Kommode wirkt wie ein Altar mit den vielen Kerzen und dem Kreis unterschiedlicher Steine. In seine Mitte hat Julia den kleinen Kiesel vom Teich gelegt. Ich nehme ihn in meine Hand und wundere mich, wie angenehm er sich anfühlt.
Auf dem Boden vor dem Bett steht ein CD-Player. Ich knie mich hin und suche den Startknopf. Noch bevor die ersten Töne erklingen, weiß ich, was ich hören werde.
Der Stein in meiner Hand fühlt sich warm und vertraut an. „Schau mal. Ist das nicht wundervoll: ein Herz.“ Es ist mir, als hörte ich Julias Stimme und Szenen des letzten Jahres drängen sich in meine Gedanken. War es richtig, alles nur als Unsinn abzutun? Hätte ich ihr besser zuhören sollen? Mich öffnen sollen? Was ist los mit mir, dass mir das so schwerfällt?
Ein leichter Windhauch geht durch die Kirsche, wirbelt ein paar Blüten durch die Luft und streift meine Nase.
Und jetzt spüre ich, wie die Tränen kommen und über meine Wangen rinnen. Endlich. Es ist ein gutes Gefühl.