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Einmal möchte ich nach Paris

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28.11.2014
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Einmal möchte ich nach Paris

1
„Einmal möchte ich nach Paris.“
Etwas widerwillig öffne ich die Augen: „Nach Paris?“
Julia hat sich auf die Seite gedreht und schaut mich an. „Warst du schon mal dort?“
Ich überlege. „Ja, ist aber lange her. … Jan und ich waren noch nicht lange verheiratet. ... Keine Ahnung, in welchem Jahr das war.“
„Ist es so schön, wie alle sagen?“
„Ich glaube schon. Aber warum gerade Paris?“
„Weiß nicht. Vielleicht wegen der breiten Straßen mit den rosa blühenden Bäumen. Oder wegen der Luft. Wenn ich meine Augen schließe, spüre ich sie: Sie ist ein bisschen kühl, prickelt ganz leicht, so als wäre sie lebendig. Wie eine kleine Feder streichelt sie mich, kitzelt meine Nase.“ Und wie um es mir zu zeigen, kräuselt sich Julias Nase.
„Und weißt du, was das Schönste ist: Überall in den Cafés unter den Bäumen sitzen Menschen, die frei und glücklich sind.“
„Julia, hör auf zu spinnen.“
„Ja, das sagst du immer. Weißt du, in meinem Kopf ist diese Melodie. Du kennst sie - die von der Piaf. Auf Französisch kann ich es nicht sagen, aber ich glaube, sie singt über ihr Leben und dass nicht alles gut war. Aber sie bereut nichts.“ Sie summt die Melodie.
Ich lächle und überlege, ob ich vor dreißig Jahren auch so hoffnungslos versponnen war wie Julia. Doch ich mag ihre Sensibilität und Fantasie. Obwohl uns fast drei Jahrzehnte trennen, sind wir seit vielen Jahren Freundinnen. Beide lieben wir diese Momente, in denen wir uns all das erzählen können, was uns beschäftigt: mein Älterwerden, ihre Probleme mit Antonia, ihrer Tochter.

Wir liegen am Teich neben der alten Weide, deren Zweige träge über dem Wasser schaukeln. Das erste Grün des Jahres. Schade, denke ich, dass die schmalen Blätter später dunkler werden und am Ende des Sommers aussehen, als läge ein Grauschleier auf ihnen.
Julia hat ihre Augen geschlossen. Wir genießen in unseren Liegestühlen die warmen Strahlen der Frühlingssonne. Ich betrachte sie und denke wie so oft, dass sie wirklich gut aussieht mit ihrem dunklen, fast schwarzen Haar und dem zarten Profil.

Beim Rumkramen fiel mir vor ein paar Tagen ein Bild in die Hände. Ein Fotograf in Istanbul hat es vor dreißig Jahren gemacht. Ich muss damals ungefähr so alt gewesen sein wie Julia heute. Gespannt zeigte ich es ihr. Sie war ganz aufgeregt. „Mein Gott, du siehst da ja aus wie ich.“
Ich musste schmunzeln. Ja, es gibt eine gewisse Ähnlichkeit. Auch ich bin der dunkle Typ, habe braune Augen, und selbst meine Nase gleicht ihrer. Doch für Julia hat alles eine tiefere Bedeutung. Sie glaubt nicht an Zufälle, alles ist Schicksal – von einer unbekannten Macht gesteuert.

„Was macht Antonia?“
Julia öffnet die Augen. Erst jetzt fällt mir auf, dass darunter wieder diese Schatten sind.
„Ist alles in Ordnung?“
Sie setzt sich auf und fingert eine Zigarette aus der Schachtel, die neben ihr auf dem kleinen Hocker liegt. Sie lässt sich Zeit mit der Antwort, nimmt einen tiefen Zug. „Ja, alles in Ordnung. Im September kommt sie ins zweite Jahr.“
„Wie sind ihre Noten? Geht sie jetzt regelmäßiger?“
„Ja, sicher.“
Den Rauch inhalierend betrachtet Julia einen Frosch, der auf einem der ersten Seerosenblätter sitzt.
„Wenn sie fertig ist, möchte sie Model werden.“
Natürlich, denke ich, was sonst.
„Ist sie dafür nicht zu klein?“, frage ich.
„Ja, aber sie wächst noch.“
„Bist du sicher? Sie ist schon siebzehn.“
„Weißt du, ich bin optimistisch. Ich habe gelesen, dass es manchmal noch einen Schub gibt.“

Unter der Weide schleicht sich meine kleine Katze in unsere Nähe. Sie springt auf die Liege und noch bevor sie ihren Platz auf meinem Bauch gefunden hat, beginnt sie zu schnurren. Ich streichle sie und der kleine Motor in ihr vibriert stärker und lauter.
„Das schöne Wetter bleibt noch ein paar Tage. Hättest du Lust, am Wochenende mit an die See zu fahren? Jan möchte nicht.“
Mein Mann ist bequem geworden. Ihm reicht unser schönes Haus und die Großzügigkeit des Gartens. Er sei schon genug in der Welt herumgekommen, sagt er, und ihn ziehe es nicht mehr hinaus. Ich könne aber seinetwegen gerne mal wieder was unternehmen.
Julia sucht nach einer Möglichkeit, ihre Zigarette auszudrücken. Ihr Blick bleibt hängen an einem Stein, der in der Nähe des Teichs liegt. Sie drückt ihre Zigarette am Bein des Liegestuhls aus und steht auf. Der Kiesel ist etwas lehmig und sie befreit ihn sorgfältig von den Erdbröckchen.
„Schau mal. Ist das nicht wundervoll: ein Herz.“ Wie etwas Wertvolles liegt der Stein in der Mitte ihres Handtellers.
„Also, was ist nun mit dem Wochenende?“
„Ja, ich komme gerne mit.“ Immer noch betrachtet Julia den Stein.
„Sonntag?“
Ich schaue sie an. „Samstag passt nicht?“
Sie schüttelt langsam den Kopf, lächelt geheimnisvoll und wartet auf meine Frage.
„Was ist? Was ist mit Samstag?“
„Es gibt jemand.“
Ich richte mich auf und meine Katze sucht unwillig nach einer neuen Position.
„Was? Du hast jemand kennen gelernt?“
„Ja, auf Facebook.“ Sie setzt sich, greift nach der Zigarettenschachtel, legt sie aber zurück. „Stell dir vor, ich kenne ihn von früher. Wir sind zusammen zur Schule gegangen. Er dachte, ich sei längst verheiratet und war ganz überrascht, dass ich alleine bin. Samstagnachmittag wollen wir uns sehen.“
Das ist eine gute Nachricht. Ich nehme meine Hand von der Katze und streichle Julias Arm. Ihre Hand umschließt den kleinen Stein.


2
Ich liebe diese Holzterrassen in den Dünen. Das schützende Glas lässt die kühle Seebrise draußen und gibt uns die Illusion eines Sommertages. Der Kellner bringt Kaffee und Apfelkuchen. Julia scherzt mit ihm und bittet ihn, ein Foto zu machen.
„Rücken Sie ein wenig zu Ihrer Mutter, dann kann man auch den Strand im Hintergrund sehen.“
Julia grinst mich an und schiebt ihren Stuhl neben mich. Sie flüstert: „Siehst du, er hält dich auch für meine Mutter.“
Der Kellner macht noch ein zweites Bild. Beide haben wir unsere Sonnenbrillen ins Haar gesteckt. Heute sind Julias Augen frei von Schatten.

Früher einmal habe ich sie darauf angesprochen.
„Die kommen von den Nieren“, ist ihre Antwort.
„Aber, keine Sorge, das bedeutet nichts.“
„Bist du sicher? Hast du keine Schmerzen?“
„Ja, manchmal tun sie weh. Wie Rückenschmerzen.“ Sie denkt nach.
„Weißt du, was ich dann mache? Ich lege meine Hand …“ Sie unterbricht sich. „Ich weiß, dass du lachst, wenn ich es dir sage. … Ich lege meine Hand auf den Schmerz und warte auf die positive Energie. Und stell dir vor, die Schmerzen verschwinden.“
Klar, denke ich, Autosuggestion. Ich beschließe, nichts dazu zu sagen. Sie weiß eh, was ich von dem ganzen Esoterik-Quatsch halte. Ich akzeptiere, dass es Julias Möglichkeit ist, mit den Problemen ihres Lebens fertig zu werden. Das Diskutieren darüber habe ich längst aufgegeben.

„Möchtest du eine Fußmassage?“
Noch bevor ich nicke, hat sich Julia auf die sandigen Bohlen gesetzt und mir die blauen Strandschuhe ausgezogen. Sie sitzt im Schneidersitz vor mir und beginnt meine Füße zu kneten. Ich genieße die Wohltat, schaue mich kurz um, und sehe, dass uns niemand beachtet. Über eine Stunde sind wir zwischen den Prielen und Muschelbänken gelaufen und die Entspannung tut meinen Füßen gut.
„Wann seht ihr euch wieder?“
„Ich weiß noch nicht. Er hat nicht so viel Zeit.“
„Was macht er denn?“
„Michael hat eine kleine Firma, Informatik oder so was.“
„Und die lässt ihm keine Zeit, dich öfter zu sehen?“
„Doch, aber er hat sehr viel zu tun.“
„Auch abends, auch am Wochenende?“
„Natürlich nicht.“ Julia hebt ihren Kopf und lächelt mich an. „Er weiß nur nicht lange vorher, wann er Zeit hat.“
„Bist du glücklich?“
„Ja sehr. Er sagt, dass er mich schon in der Schule gemocht hat. Aber er hat sich nicht getraut, mich anzusprechen.“
Während ihre Hände an meinem Knöchel auf- und abgleiten, hängt Julia ihren Gedanken nach.
„Weißt du, er kann mich minutenlang anschauen, so, als könnte er gar nicht fassen, dass wir uns wiedergetroffen haben. Es ist wie eine Fügung.“
Julia nimmt den anderen Fuß in ihre Hände. Hin und wieder legt sie ihre Finger auf Punkte, die nur sie kennt. Beim ersten Mal hat sie mir erklärt, dass jede Bewegung ihre Bedeutung habe. Ich habe ihr geantwortet, dass ich an all diesen Hokuspokus nicht glaube, aber dass mir das Resultat gefalle.
Das Kneten und Massieren wird langsamer. Julia hebt ihre Hände und lässt sie für kurze Zeit wie segnend über meinen Füßen schweben, bevor sie das Ritual beendet.
Mir ist das Ganze zu lang und zu umständlich geworden und ich bin froh, als Julia endlich wieder neben mir sitzt.
„Wo seid ihr gewesen?“
„Wir haben uns bei den Gärten getroffen.“
Julia hat einen Schrebergarten von ihrer Großmutter geerbt.
„Das ist ein schöner Platz jetzt im Frühling.“
„Ja, meine Großmutter war gerne dort, manchmal ist sie sogar über Nacht geblieben.“ Sie schaut zum Wasser, unter dem die Muschelbänke jetzt verschwunden sind.
„Unser Nachmittag war wunderbar. So eine Vertrautheit. Als hätten wir uns gerade erst getrennt. Schade, dass er nicht bleiben konnte.“
„Am Samstag?“, entfährt es mir.
„Ja. Wahrscheinlich musste er noch arbeiten.“
Ich ärgere mich über mein Misstrauen. Es liegt wohl daran, dass ich ein alte Frau bin, die überall nach einem Haken sucht. Warum hat ein frisch verliebter Mann am Samstagabend keine Zeit?
„Mach dir nicht so viele Gedanken über mich. Es wird alles gut werden.“
Sie zieht ihre Sonnenbrille über die Augen.
„Schau dir lieber den Himmel an. Die Wolken – sie bleiben über dem Land, als schiebe eine große Kraft sie immer wieder zurück, sobald sie der Küste zu nahe kommen.“


3
Mein Handy klingelt.
„Julia, was gibt’s?“
„Kannst du mir dein Auto leihen? Ich muss in die Stadt, irgendwas ist mit Antonia.“
„Kein Problem. Ich muss sowieso einkaufen. Wann soll ich dich abholen?“
„Um vier.“

Schon bevor wir einen Parkplatz gefunden haben, sehe ich Antonia mit ein paar Jungen neben dem Imbiss stehen. Sie sieht das Auto, löst sich aus der Gruppe und kommt zu uns. Schwarz umrandete Augen, fettiges Haar – ich mag dieses Mädchen nicht.
Julia steigt aus. Ich lasse mir Zeit mit dem Einparken und bleibe im Auto.
Sie stehen ein wenig entfernt und diskutieren. Sie scheinen zu streiten. Nach einigem Hin und Her dreht Antonia sich brüsk um und stakst zu ihren Freunden. Julia schaut ihr nach, will ihr folgen, wendet sich dann aber um und kommt zum Auto. Ihr Gesicht ist fahl.
„Was war das denn jetzt?“, frage ich.
„Sie braucht Geld.“
„Wofür?“
„Keine Ahnung. Einer von den Jungen hat ihr wohl etwas geliehen und möchte es zurück.“
„Und nun?“
„Ich hab nicht genug. Und ich weiß auch nicht, ob es richtig wäre.“
„Soll ich dir helfen?“
„Lass nur, sie sind ja schon weg.“
„Ihr seht euch ja später.“
Es entsteht eine Pause. Julia sitzt neben mir und schaut auf die Scheibe. Sie reibt ihre Hände, als müsse sie sie wärmen.
„Seit zwei Tagen ist sie nicht nach Hause gekommen“, bricht es aus ihr heraus. „Und in der Schule war sie auch nicht. Heute morgen haben sie angerufen.“
Plötzlich greift sie sich in die Seite.
„Was ist mir dir? Hast du Schmerzen?“
„Geht schon.“
„Sollen wir zu einem Arzt fahren?“
„Lass nur.“ Beide Hände liegen jetzt dort, wo ihre Schmerzen sein müssen. Sie atmet tief. Ich fühle mich leer und hilflos.
Nach einer Zeit, es müssen wohl Minuten vergangen sein, nimmt Julia ihre Hände zurück und kramt in ihrer Tasche nach der Wasserflasche. Ich versuche es noch einmal:
„Es ist wirklich mein Ernst: Du solltest zu einem Arzt. So wird das nichts. Du kannst dich nicht immer selbst therapieren.“
„Lass nur.“ Sie legt ihre Hand beruhigend auf mein Bein. „Der kann mir nicht helfen.“ Sie holt tief Luft. „Ich muss meine innere Kraft wiederfinden.“
Resigniert drehe ich den Autoschlüssel.


4
Julia schaut auf ihr Handy. Ich spüre ihre Nervosität. Schon vor ein paar Minuten ist das Zeichen, sich in den Saal zu begeben, ertönt. Wir stehen im leeren Foyer und starren auf den Eingang.
„Julia, wir müssen rein. Lass seine Karte an der Kasse und komm mit.“
Sie zögert.
„Geh nur, ich warte. Er hat gesagt, dass er kommen wird.“
„Gut, aber dann werdet ihr unter Umständen hier bleiben müssen. Die schließen die Türen und lassen bis zur Pause niemanden mehr rein.“ Ich sehe es ihr an. Sie will warten.

Der Saal wird hell. Pause. Während ich dem Foyer zustrebe, suchen meine Augen Julia. Ich hoffe, dass sie nicht mehr allein ist und weiß doch, dass es so sein wird. Im ersten Moment sehe ich sie nicht, dann fällt es mir ein. Ich gehe vor die Eingangstür und natürlich, dort sitzt sie auf einer Bank und raucht. Allein. Ich setze mich zu ihr.
„Was ist passiert.“
„Er kann nicht kommen. Etwas Geschäftliches.“
Mich fröstelt. Dieser Septembertag lässt den nahen Herbst erahnen.
„Komm, lass uns reingehen.“
Manchmal erscheint mir Michael wie ein Phantom, das es nur in Julias Phantasie gibt. Dann wieder denke ich, dass er noch eine andere Beziehung hat und nicht mit Julia gesehen werden möchte.
„Lass mich noch ein bisschen hier bleiben.“ Julia sitzt auf der Bank, zusammengekauert. Ich spüre, dass auch sie friert.
„Julia, ich finde, du siehst furchtbar aus. Was ist los mir dir? Ist es dieser Michael? Ist es Antonia? Oder sind es wieder die Nieren? Gibt es eine Möglichkeit, dass ich dir helfen kann?“
„Nein, du kannst mir nicht helfen. Du musst wissen, meine Nieren sind nur ein Zeichen.“
Ich atme tief durch. Da ist sie wieder, diese Wand, die ich nicht durchdringen kann.
„Ich muss meine Mitte finden, ich muss die positive Energie einlassen. Dann wird alles gut werden.“
„Wer sagt das?“
„Weißt du, ich habe eine Frau kennen gelernt, der es genauso geht wie mir.“
„Hat sie auch Probleme mit ihrer Tochter?“
„Ich glaube nicht. Ihr Leben verläuft nicht, wie sie es möchte. Aber sie hat Hilfe gefunden.“
„Was für Hilfe?“
„Es ist so etwas wie ein Gesprächskreis. Sie sagt, es könne auch mir helfen.“


5
Einige Wochen haben wir uns nicht gesehen. Ich verbringe die tristen Novembertage mit meinem Mann in unserer behaglichen Häuslichkeit. Julia ruft an. Sie ist aufgeregt. Sie möchte kommen und mir alles erzählen. Ich freue mich auf sie. Ende März möchte ich den Winter verkürzen und eine Woche in den Süden fliegen. Ich habe die Hoffnung, dass ich Julia überreden kann, mich zu begleiten. Wir haben das in den letzten Jahren schon ein paar Mal gemacht. Ihr Gehalt ist nicht besonders hoch und ich habe die Kosten übernommen. Es war immer eine gute Abmachung: Julia kümmerte sich liebevoll um alles, ich hatte angenehme Gesellschaft und einen Chauffeur.

Ihre Erregtheit füllt den Raum. Ungeduldig steht sie neben mir, während ich das Wasser in die Teekanne gieße.
„Stell dir vor, mir geht es gut.“
„Nun setz dich doch erst mal. Du machst mich ganz nervös.“
Ich gieße uns Tee ein und erinnere mich an ihre Äußerung.
„Warst du beim Arzt?“
„Nein.“
„Nein?“
„Es ist nicht nötig. Ich habe gelernt, meine Schmerzen zu beherrschen.“
Ich schaue sie skeptisch an.
„Wie das?“
„Weißt du, Krankheit ist kein Zustand. Krankheit ist ein Weg, um dich selber zu heilen“, sprudelt sie los.
„Julia, überleg mal, was du da sagst. Das ist doch völliger Blödsinn.“
Sie hebt ein wenig heftig den Kopf, lächelt mich dann aber mitleidig an.
„Ich will es dir erklären: Die Krankheit ist ein Weg zurück zum heilen Leben. Jeder kann sich selber heilen. Er muss nur sich selber lieben lernen.“
„Ist es das, was diese Gruppe dir vermittelt?“ In mir steigt Zorn auf.
„Ja.“
„Und das hilft dir?“
„Nicht immer. Aber ich bin auf dem Wege. Man muss sich selbst lieben, erkennen, dass man wertvoll ist, sich mit dem Herzen sehen. Dann wird alles heil werden.“

Ich bin erschüttert und überlege, wie ich darauf reagieren soll. Gleichzeitig habe ich das Gefühl, dass alles, was ich sage, umsonst sein wird, dass es sie nicht erreicht.

„Lass uns von anderen Dingen sprechen. Was macht Antonia?“
„Weißt du, ich bin in einer Zeit der Veränderung und des Wandels. Antonia geht ihren Weg. Ich muss sie loslassen.“ Was ist mit ihr passiert? Dieser Trotz in ihrer Stimme ist neu.
„Was macht sie jetzt?“
„Ich weiß es nicht.“
„Und was ist mit Michael?“
„Auch er geht seinen Weg. Manchmal treffen wir uns. Aber seine Psyche ist nicht in Harmonie. Wir berühren uns, aber wir entfernen uns gleichzeitig voneinander.“

Genau dieses Gefühl habe ich auch. Julia hat sich entfernt und ich habe keine Ahnung, wie ich wieder zu ihr finde. Unser Beisammensein wird für mich zur Geduldsprobe. Egal, wo ich ansetze, um mit ihr über ihr Leben und ihre Probleme zu sprechen, wir landen in einem Nebel, durch den negative Gefühle, zugeschüttete Emotionen, gestörte Harmonien, positive Strahlungen, verborgene Selbstheilungskräfte und rätselhafte Energien wabern.
„Ich muss die harmonischen Schwingungen von Bäumen und Blüten in mein Herz lassen, dann kann mein Körper sich selbst heilen“, beendet Julia ihren Vortrag. „Ist das nicht wunderbar?“
Ich sitze ihr gegenüber und spüre, wie sich alles in mir verkrampft. Sie ist in den letzten Monaten dünner geworden, ihre dunklen Augen lassen ihr Gesicht noch blasser erscheinen.

Wir trennen uns. In unserer Umarmung suchen wir nach der alten Vertrautheit. Aber alles, was wir uns zum Schluss wünschen, wird zur leeren Phrase.

Ich spüle unsere Tassen. Sie haben dieses schöne alte Muster aus blauen Kreisen und Ellipsen. An Strohblumen soll es erinnern. Ich kann sie nicht erkennen. Mich lassen die fein geschlungenen, symmetrischen Linien eher an indische Mandalas denken, an ‚Bilder, die einen Mittelpunkt umkreisen’, wie ich irgendwo gelesen habe. Aber es gibt wohl immer mehrere Betrachtungsweisen.
Meine Hand verharrt im warmen Spülwasser. Warum habe ich resigniert und Julia gehen lassen? Wer, wenn nicht ich, hätte ihr sagen können, dass sie sich in die falsche Richtung bewegt, dass sie Scharlatanen aufgesessen ist, die nur ihr Geld wollen - oder ihre Seele. Das hätte ich ihr sagen sollen.
Hätte ich? Ist es für Julia nicht vielleicht sogar besser, sich wegzuträumen, sich auf sich selber zu besinnen, der enttäuschenden Realität zu entfliehen. Eine Tochter, die ihren eigenen Weg gehen möchte, gehen zu lassen, sich zurückzuziehen von einem Mann, der doch nicht zu ihr gehören will. Möglicherweise werden ihre Schmerzen auch wirklich gelindert. Was weiß ich denn? Ist meine Wahrheit die einzig mögliche, die einzig richtige?
Die klaren blauen Linien der Tasse verschwimmen vor meinen Augen und scheinen aus ihrer Starre zu erwachen.

6
Jan steht an der Sperre und erwartet mich. Ich bin glücklich, ihn zu sehen. Schon nach drei Tagen ist mir klar geworden, dass es falsch war, allein zu fliegen. Ich fing an, die Nächte zu zählen und sehnte mich nach meinem Mann, dem Haus und nach dem Schnurren meiner Katze. Meine Umarmung fällt theatralischer aus als sonst und ich bemerke erst, als ich mich löse, dass Jans Reaktion verhalten ist. Wortlos nimmt er meinen Koffer.
„Ist was passiert?“
Er bleibt stehen, setzt den Koffer ab.
„Ja.“ Er schaut mich an, so, als suche er nach den richtigen Worten.
„Es ist was mit Julia, nicht wahr.“ Ich weiß nicht, warum meine Gedanken sofort bei ihr sind.
Seit unserem Treffen im November haben wir uns nicht mehr gesehen. Kurze inhaltslose Telefonate, die unsere Entfremdung nicht aufheben konnten.
"Sag schon, was ist.“ Jans Zögern macht mich nervös.
„Gestern hat man sie gefunden. In der Gartenkolonie. Im Häuschen ihrer Großmutter. Ihre Nieren haben es wohl nicht mehr geschafft.“


7
Ich möchte Abschied nehmen. Links und rechts von meinem Weg sind hinter den Hecken die kleinen Grundstücke mit ihren Lauben. Es ist das erste Mal, dass ich hier bin. Ich kenne alles aus Julias Erzählungen. Vor dem Häuschen blüht eine alte Kirsche. Ich habe gelesen, dass in Japan die Menschen lange Reisen machen, um eine solche Blütenpracht zu erleben. Die Energie aus Bäumen und Blumen – unser letztes Gespräch.
Unter der Geranie, gleich neben der grünen Holztür, liegt der Schlüssel. Ich öffne und betrete den kleinen Raum. Die orangefarbenen Gardinen dämpfen das Tageslicht und geben dem Zimmer etwas Mystisches. Die Möbel wirken bei dieser Beleuchtung, als wäre jemand mit einem Weichzeichner über sie gegangen. Ich sehe einen kleinen Holztisch, zwei Stühle, eine Spiegelkommode und gegenüber in der Ecke ein Bett. Erst, als ich vor dem Bett stehe, erkenne ich das Motiv des kitschigen Posters darüber: eine Allee, gesäumt von rosablühenden Bäumen – an ihrem Ende der Eiffelturm.

Die Kommode wirkt wie ein Altar mit den vielen Kerzen und dem Kreis unterschiedlicher Steine. In seine Mitte hat Julia den kleinen Kiesel vom Teich gelegt. Ich nehme ihn in meine Hand und wundere mich, wie angenehm er sich anfühlt.
Auf dem Boden vor dem Bett steht ein CD-Player. Ich knie mich hin und suche den Startknopf. Noch bevor die ersten Töne erklingen, weiß ich, was ich hören werde.

Der Stein in meiner Hand fühlt sich warm und vertraut an. „Schau mal. Ist das nicht wundervoll: ein Herz.“ Es ist mir, als hörte ich Julias Stimme und Szenen des letzten Jahres drängen sich in meine Gedanken. War es richtig, alles nur als Unsinn abzutun? Hätte ich ihr besser zuhören sollen? Mich öffnen sollen? Was ist los mit mir, dass mir das so schwerfällt?

Ein leichter Windhauch geht durch die Kirsche, wirbelt ein paar Blüten durch die Luft und streift meine Nase.

Und jetzt spüre ich, wie die Tränen kommen und über meine Wangen rinnen. Endlich. Es ist ein gutes Gefühl.

 
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Liebe barnhelm

Schön, wieder von dir zu lesen. Dein Text hat mir gut gefallen. Er ist zum einen sehr angenehm zu lesen, ich habe das in einem Zug runtergeschlürft. Zum anderen schaffst du es mit (vermeintlich) einfachen Mitteln, eine Stimmung zu erzeugen, die mich von Beginn an begleitet hat. Ich spüre, dass mit Julia etwas nicht in Ordnung ist, kann das aber nicht so recht festmachen. Das macht deinen Text spannend. Es werden verschiedene Themen und Motive angesprochen (Paris, Michael, Antonia, die Nieren, die Gesprächsgruppe) und während der Lektüre fragte ich mich, worauf das alles hinausläuft. So weit, so (sehr) gut. Am Ende beschlich mich aber ein Gefühl der Enttäuschung – nicht wegen dem Schluss an sich, den finde ich wunderbar. Aber all die Fäden, die du aufgegriffen hast, hängen weiter unverknüpft in meinem Kopf herum. Die Erzählerin scheint selbst Mühe damit zu haben:

„Julia, ich finde, du siehst furchtbar aus. Was ist los mir dir? Ist es dieser Michael? Ist es Antonia? Oder sind es wieder die Nieren?

Und was hat es mit diesem Paris auf sich? Woher diese Sehnsucht? Hat Julia ihren Tod vorausgeahnt? Teil 1 und 7 gehen in diese Richtung, aber der Rest will dazu nicht passen. Was ist mit Michael und mit Antonia? Hätten sie Julia helfen können/sollen? Tragen sie gar eine Mitschuld? Dazu finde ich keine Hinweise. Ich empfinde diese Figuren, diese Elemente, jedes für sich toll, aber es ergibt sich für mich kein harmonisches Gesamtbild. Versteh' mich nicht falsch: Mich dürstet nicht nach Auflösungen bzgl. Julias Tod oder ihrer Beziehung zu Michael. Aber das ist mir alles irgendwie zu lose.
Die Geschichte hat mich dennoch gefesselt, so dass ich mich auf Sprachliches gar nicht geachtet habe – ein gutes Zeichen!
Ich hoffe, du kannst mit meinen Leseeindrücken etwas anfangen und grüsse herzlich

Peeperkorn

 

Liebe barnhelm,

mir kamen bei Deinem Text manchmal die Tränen. Diese Hilflosigkeit, einen Menschen, der meint seinen Weg gefunden zu haben, nicht von diesem Irrweg - nach der eigenen Meinung - abbringen zu können. Auch ich habe manche Methoden, gegen meine Schmerzen anzugehen und doch weiss ich auch, dass manche Signale meines Körpers auch einem Arzt benannt werden sollten. Aber es gibt eben Menschen, die dies nicht wollen oder können - wie Julia. Und am Ende Deiner Geschichte dachte ich: Ich hoffe, die Erzählerin kann es annehmen, dass es keinen anderen Weg gab und dass dieses Leben und sein Ende so richtig waren, ja dass Julia wirklich ihre Mitte gefunden hat.

Mir sind keine schwerwiegenden Fehler aufgefallen und da ich auf Reisen bin, habe ich nur den Laptop, mit dem ich schlecht schreiben kann. Deshal lapidar:
Hat mir sehr gefallen.

Liebe Grüße

Jobär

 
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Hallo Barnhelm,

Deine neue Geschichte liest sich gut. Du hast Deinen für mich angenehmen Erzählton weiter verbessert. Ich mag die Genauigkeit Deiner Beobachtung in den kleinen Gesten und Handlungen und das Unaufgeregte Deiner Erzählerstimme.

Allerdings habe ich so wie Peeperkorn den Eindruck, dass die Konstruktion bzw. Komposition des Textes nicht ganz stimmig ist. Ich beginne mal bei der Aussage des Ganzen, so wie ich sie verstehe. Die kritische Betrachtung Deiner Geschichte richtet sich auf die Verweigerungshaltung der Julia-Figur, die sich lieber im Esoterik-Supermarkt des Wunschdenkens bedient, als sich rational mit ihren Problemen auseinanderzusetzen. Als Quittung für ihre Verdrängung kommt am Ende der Tod.

Gegen diese Kritik ist nichts einzuwenden, aber die Beispiele können nicht immer überzeugen. Dass Auflegen der Hände Schmerzen sehr effizient verringern kann, insbesondere wenn Autosuggestion dazu kommt, ist in vielen Studien bewiesen. Die Skepsis diesbezüglich wirft eher ein merkwürdiges Licht auf die Erzählerin, als auf Julia. Der springende Punkt, den man meiner Ansicht nach an dieser Stelle herausarbeiten müsste, ist die Frage nach den Ursachen der Schmerzen.

Ebenso merkwürdig ist die Reaktion der Erzählerin auf die Fußbehandlung. Die Wirksamkeit von Akupunktur, Akupressur und Fußreflexzonenbehandlungen ist völlig unstrittig. Die Erzählerin tut das als Esoterik-Quatsch ab, und das macht sie verdächtig, denn das ist einfach eine Frage der Bildung.

Oder aber Du willst als Autorin zeigen, dass eben auch das starre, antiquierte Weltbild der Erzählerin mit "Schuld" daran ist, dass sie keinen Draht zu Julia aufbauen kann bzw. den Kontakt nach und nach verliert. Das fände ich eine gute Idee, aber dazu bräuchte es noch ein paar Zutaten, die das genauer beleuchten.

Das Problem, das ich mit der Aussage der Geschichte habe, ist die Gleichsetzung von spirituell und irrational. Das hast Du nicht explizit so formuliert, aber wenn die Anwendung von Akupressur in der Geschichte als Symptom für eine Art geistiger Umnachtung herhalten muss, kann ich nur den Kopf schütteln. Ich denke, die Gefahr liegt hier in der Vereinfachung.

Um die Konstruktion der Geschichte mit einer – für mein Empfinden – weniger anfechtbaren Aussage aufzubauen, könnte man zeigen, dass Julia esoterische Praktiken konsumiert. Das ist nämlich der entscheidende Punkt. Ob jemand durch Nadeln, durch Medikamente, durch Kräutertee oder durch eine Operation geheilt wird, spielt überhaupt keine Rolle. Wichtig ist, wie ernsthaft die Auseinandersetzung mit einer Problematik ist. Jemand der von Therapie zu Therapie hüpft, heute auf heiße Steine schwört, morgen Energieschwingungen der Erde kanalisiert und übermorgen die Pflanzengeister anruft, der setzt sich eben nicht auseinander.

Trotz Kritik wieder gern gelesen. Freu mich auf Deine nächste.

Gruß Achillus

 

Lieber Peeperkorn,

danke für deine Rückmeldung und auch dafür, dass dir vieles an meiner Geschichte gefallen hat.

Ich möchte auf deine Einschränkungen eingehen:

Ich empfinde diese Figuren, diese Elemente, jedes für sich toll, aber es ergibt sich für mich kein harmonisches Gesamtbild. Versteh' mich nicht falsch: Mich dürstet nicht nach Auflösungen bzgl. Julias Tod oder ihrer Beziehung zu Michael. Aber das ist mir alles irgendwie zu lose.

Dazu möchte ich Achillus Interpretation nehmen:

Ich beginne mal bei der Aussage des Ganzen, so wie ich sie verstehe. Die kritische Betrachtung Deiner Geschichte richtet sich auf die Verweigerungshaltung der Julia-Figur, die sich lieber im Esoterik-Supermarkt des Wunschdenkens bedient, als sich rational mit ihren Problemen auseinanderzusetzen. Als Quittung für ihre Verdrängung kommt am Ende der Tod.

Dies kommt meiner Intention sehr nahe, obwohl ich den letzten Satz so nicht unterschreiben würde. Aber das werde ich in meiner Antwort an Achillus erläutern.

Und was hat es mit diesem Paris auf sich? Woher diese Sehnsucht? Hat Julia ihren Tod vorausgeahnt? Teil 1 und 7 gehen in diese Richtung, aber der Rest will dazu nicht passen. Was ist mit Michael und mit Antonia? Hätten sie Julia helfen können/sollen? Tragen sie gar eine Mitschuld? Dazu finde ich keine Hinweise.

Paris: Das Bild der blühenden Bäume mit den glücklichen Menschen in den Cafés soll schon früh dies Sich-Wegträumen Julias kennzeichnen. So geht sie ihre Realität an. Ihre Realität, das ist die abdriftende Antonia, der nicht wirklich zu ihr gehörende Michael, ihr Alleinsein und letztendlich ihre Schmerzen. Dabei wird nicht deutlich, soll auch nicht deutlich werden, ob ihre Schmerzen Folge ihrer Situation oder ein Teil davon sind. Es geht auch nicht um Schuld. Mir geht es in der Geschichte darum zu zeigen, wie ein Mensch mit seiner Realität umgeht. Die Flucht in die Esoterik ist eine Möglichkeit, beinhaltet aber für mich (und damit bin ich die Ich-Erzählerin) die Gefahr, dass die Ursachen nicht wirklich angegangen, sondern lediglich überdeckt werden.

Peeperkorn, ich hoffe, dass ich mit Achillus Unterstützung ein bisschen zur ‚Auflösung’ beitragen konnte.

Dir einen schönen Tag und liebe Grüße in die Schweiz.

barnhelm


Lieber jobär,

Diese Hilflosigkeit, einen Menschen, der meint seinen Weg gefunden zu haben, nicht von diesem Irrweg - nach der eigenen Meinung - abbringen zu können.

Ja, genau das trifft den Ausgangspunkt meiner Geschichte sehr genau. Es kommt wirklich auf den Standpunkt an, von dem aus man das Geschehen betrachtet. Ich denke, meine Geschichte wird sehr stark danach beurteilt werden, wie man selber zum Thema ‚Esoterik’ steht.

Und am Ende Deiner Geschichte dachte ich: Ich hoffe, die Erzählerin kann es annehmen, dass es keinen anderen Weg gab und dass dieses Leben und sein Ende so richtig waren, ja dass Julia wirklich ihre Mitte gefunden hat.

Kann die Ich-Erzählerin natürlich nicht, zumindest so, wie ich sie zu skizzieren versucht habe. Denn hier prallen zwei Lebensauffassungen aufeinander, die ja dann in meiner Geschichte auch zur Entfremdung der beiden führen.

Jobär, ich danke dir für deinen sensiblen Kommentar.

Liebe Grüße
barnhelm

 

Liebe barnhelm

Peeperkorn, ich hoffe, dass ich mit Achillus Unterstützung ein bisschen zur ‚Auflösung’ beitragen konnte.

Ja, das konntest du. Was du schreibst, ist sehr stimmig. Womöglich war ich einfach zu wenig darauf eingestimmt und ich habe das Abdriften in Bezug auf Michael und Antonia zu wenig wahrgenommen/gewürdigt.

Lieber Gruss
Peeperkorn

 

Hoppla, abgestürzt und wieder drin, zudem schon das zwote Raucherzimmer an diesem Vormittag, da muss ich ja abstürzen!

Hm, fängt überraschend schon mit einer winzigen Flüchtigkeit an

Etwas widerwillig öffne ich die Augen[:] „Nach Paris?“
, der sich nach nur wenige Zeilen die Frage zugesellt, warum hier ein Fragezeichen?
„Weiß nicht?
Ähnlich hier
„Ja. Wahrscheinlich musste er noch arbeiten?“
Klingt eher wie eine Vermutung ...

Klingt jetzt wie'n Überfall,

liebe barnhelm,

ist aber keiner und auf dem saubersten Teppich wird es Flusen geben. Hier gibt's noch zwo, wenn ich richtig gezählt und geschaut hab.

„Um vier[.]“
Was ist mit ihr passiert.
seh ich eher fraglich ...

Zu dem von den Vorrednern (Vorschreibern klingt in seiner Korrektheit schon wieder falsch) Dargelegten kommt mir aus eigener Anschauung der Gedanke, dass Julia auch so was wie ein männliches Prinzip verkörpert, heißt es doch, wir Knaben vermieden oder zögerten aus Furcht vor bitteren Wahrheiten, den Arzt unseres Vertrauens zu konsultieren, und kämen erst mit dem Kopf unterm Arm ... Naja, in den Ausreden wird dann viel Fantasie investiert. Da würde dann kein Mensch nach Mitschuldigen suchen ... Nee, die Geschichte ist lebensnah. Denn das Grübeln über eine Mitschuld kommt immer erst danach ...

Gruß und vorsorglich schönes Wochenende aus'm Pott vom

Friedel

 

Hallo barnhelm,

die Geschichte ist flüssig geschrieben und sehr gut zu lesen, also von der Schreibtechnik her kann ich gar nichts bekritteln.

Was mich den ganzen Text über etwas irritiert hat, war die Erzählstimme. Es wird überhaupt nicht klar, in welcher Beziehung die Beiden zueinander stehen. Man erfährt zwar, dass die Erzählerin vom Alter her die Mutter sein könnte, es aber nicht ist. Also blieb bei mir am Ende so der Gedanke: Mütterliche Freundin, frühere Nachbarin, frühere Lehrerin, was weiß ich.
Da aber so ein Geschreibsel drumrum gemacht wird, dass sie nicht die Tochter ist, hätte ich nun als Leser doch gerne erfahren, wie die zwei zusammengekommen sind.

Was mich, und anderen geht es aber wahrscheinlich anders, bei der Erzählstimme gestört hat, war diese Abgeklärtheit, dieser Überdruss an Melancholie, verstärkt wurde das durch die chronologische Erzählweise der Handlung. Das gab dem Text so einen negativen Touch, also so aus der Sicht eben der älteren Person geschrieben, die alles hinterfragt, die teilweise resigniert. Ich kann das ganz schwer beschreiben, wie das bei mir ankam. Ja, wahrscheinlich fehlt mir einfach der Zugang, wieso die zwei eine Beziehung haben, das würde dann auch die Haltung der Erzählerin für mich deutlicher machen.

Wo ich ein riesiges Problem hatte, war dann hier:

Schon bevor wir einen Parkplatz gefunden haben, sehe ich Antonia mit ein paar Jungen neben dem Imbiss stehen. Sie sieht das Auto, löst sich aus der Gruppe und kommt zu uns. Schwarz umrandete Augen, fettiges Haar – ich mag dieses Mädchen nicht.

Die Erzählerin hat so eine innige Beziehung mit Julia, der Mutter. Das Mädchen ist doch erst 17 - wie lange kennen sich denn die Protagonisten? Scheinbar doch schon länger, oder? Dann hätte die Erzählerin doch sicher eine Beziehung zur Tochter aufgebaut, weil Julia doch mit der Tochter zusammen die Erzählerin getroffen hätte. Also mich hat das völlig rausgehauen. Wenn man sagt, man mag jemand nicht, ist da keine Beziehung da, war auch keine da. Sonst würde man das anders ausdrücken. So in etwa: Antonia hat sich so verändert, dass ich jetzt richtig Probleme mit ihr habe.

Im Moment sehe ich nicht den Fokus, wieso du mir die gut geschriebene Geschichte erzählst.
Da solltest du meiner Meinung nach noch nachjustieren, mich mit reinnehmen, damit ich das eine oder andere besser verstehe.

Liebe Grüße
bernadette

 

Hey barnhelm,

Ich mochte die Erzählstimme sehr gern. Die Ruhe, die sie transportiert, auch das "Schlichte" in der Sprache. Ich bin ein großer Freund von "schlichter" Sprache, die sich darauf konzentriert, eine Geschichte zu erzählen und sich nicht selbst in den Mittelpunkt rückt.

Aber, mich hat es genau wie Bernadette gestört, dass ich nicht wusste, in welchem Verhältnis die beiden da stehen. Ein Vertrautes, okay, aber das sich das mir erst so nach und nach erschloss ... ich geh mal durch, wie viele "Beziehungen" sich beim Lesen so in meinem Kopf abspielten und ich mich ständig korregieren musste.


„Einmal möchte ich nach Paris.“
Etwas widerwillig öffne ich die Augen: „Nach Paris?“
Julia hat sich auf die Seite gedreht und schaut mich an. „Wart ihr schon mal dort?“
Ich überlege. „Ja, aber das ist schon ein paar Jahre her.“
„Ist es so schön, wie alle sagen?“
„Ich glaube schon. Aber warum gerade Paris?“

Das "ihr" n Wart ihr schon einmal dort, habe ich glatt als du gelesen. Und zwar, weil die beiden nebeneinanderliegen. Hier war es also ein Pärchen für mich.

Ich lächle und überlege, ob ich vor dreißig Jahren auch so hoffnungslos versponnen war wie Julia.

Oh - 30 Jahre Altersunterschied. Da hat sich die Julia also einen "Vaterfreund" gesucht. Ich weiß nicht, warum ich davon ausgegangen bin, dass die zweite Dialogperson männlich ist, aber ich bin es.

Wir liegen am Teich neben der alten Weide, deren Zweige träge über dem Wasser schaukeln. Das erste Grün des Jahres.

Okay, hier jetzt - sie liegen auf neutralem Boden nebeneinander. Müssen also kein Paar sein, hier also erstes Umdenken.

„Was macht Antonia?“
Julia öffnet die Augen. Erst jetzt fällt mir auf, dass darunter wieder diese Schatten sind.
„Ist alles in Ordnung?“
Sie setzt sich auf und fingert eine Zigarette aus der Schachtel, die neben ihr auf dem kleinen Hocker liegt. Sie lässt sich Zeit mit der Antwort, nimmt einen tiefen Zug. „Ja, alles in Ordnung. Im September kommt sie ins zweite Jahr.“
„Wie sind ihre Noten? Geht sie jetzt regelmäßiger?“

Da der Altersunterschied zwischen den beiden schon so groß ist, dachte ich Antonia wäre eine Freundin oder Schwester.

„Das schöne Wetter bleibt noch ein paar Tage. Hättest du Lust, am Wochenende mit an die See zu fahren? Jan möchte nicht.“
Mein Mann ist bequem geworden. Ihm reicht unser schönes Haus und die Großzügigkeit des Gartens.

Hier korrigiere ich mich von männlich auf weiblich, darauf das die beiden in keiner "Liebesbeziehung" stehen. Und im weiteren Verlauf des Abschnittes komme ich zu dem Schluss: Mutter und Tochter. Was ja auch nicht richtig ist, wie mir der Text später zeigt. Und dann muss ich Antonia noch mal neu definieren und auch das Alter von Julia.
Das ist übel, dem Leser so mitzuspielen. An den Anfang gehört die Beantwortung der W-Fragen. Wer? Wo? Welche Beziehung zueinander? Was ist die Situation? Klar ist das Lehrbuchmeinung und man muss nicht, aber in deinem Fall funktioniert die Regelumschiffung bei mir einfach gar nicht.

Die Dialoge finde ich gut und auch authentisch. Auch finde ich es gut gemacht, wie du die Geschichte anhand der Jahreszeiten über diesen langen Zeitraum ziehst und so Schlaglichter setzt, die zusammengenommen tatsächlich ein Gesamtbild für mich ergeben. Für mich stimmt in der Geschichte also sehr viel. Was bei mir jetzt aber kein "Wow" und "Yeah" erzeugt, ist am Ende die eigentliche Geschichte. Man weiß als Leser, wo Julias Verweigerung hinführen wird, und genau da führt die Geschichte auch linear hin. Ich meine, es nicht nicht gesagt, dass die Schulmedizin ihr hätte helfen können, aber ganz ohne ist es ziemlich eindeutig, worauf es hiausläuft. Es gibt keine Wendepunkte, es gibt eigentlich noch nicht mal einen Konflikt. Der Konflikt, sofern man es so nennen kann, ist die Sorge der Bekannten. Aber der Konflikt wird auch nur gedacht, nie ausgesprochen, er macht mit ihr nichts. Nicht mit der Erzählerin und auch nicht mit Julia. Er verpufft. Die nebenbei erwähnten Konflikte - Michael und Antonia, ich weiß nicht, ob ich da mehr Stoff brauch, glaub eigentlich nicht, aber dass etwas mit den beiden Hauptfiguren passiert, dass es da zu einer Figurendynamik kommt, hätte die Geschichte in meinen Augen sehr aufgewertet.

Soviel von mir. Gelesen habe ich die Geschichte trotz der Abstriche (das ich nicht weiß wer ist große Kritik, fehlende Figurendynamik ist Jammern auf hohem Niveau) gern :).

Beste Grüße, Fliege

 

Hallo bernadette, hallo Fliege,
gut begründete Kritik soll man ernst nehmen: Danke für euer feedback. Mir leuchtet ein, was ihr kritisiert und ich habe auf die Schnelle eine Korrektur versucht.
Später werde ich auf eure Kommentare noch ausführlicher eingehen.
Liebe Grüße
barnhelm

 

Hallo barnhelm,

ich denke, Deine Änderungen lassen die Akteure und ihre Beziehung zueinander deutlich werden. Es wird für mich auch erkennbar, dass diese Geschichte eine Abfolge von Scheitern/Resignieren ist. Julia lässt Antonia und Michael ziehen, die Prot lässt Julia ziehen (und fliegt alleine in Urlaub). Aber was hätten sie anders machen können? Insbesondere Julia kommt mir wie eine moderne Maria vor - sie nimmt an, was ihr geschieht. Ich denke nicht, dass man hier von einem esoterischen Gemischtwarenladen reden kann, in dem sie sich bedient. Sie übernimmt, was sie hört und was ihr gut klingt, achtet aufmerksamer auf ihren Körper, aber eigentlich nimmt sie alles hin, was geschieht, ohne die Initiative zu ergreifen und aktiv zu werden.

Liebe Grüße

Jobär

 
Zuletzt bearbeitet:

Lieber Achillus,

danke für deinen Kommentar. Schön, dass dir mein Schreibstil gefallen hat. Da scheint sich ja doch ein bisschen getan zu haben. Auch meine Intention hast du recht gut erkannt:

Zitat Achillus:
Die kritische Betrachtung Deiner Geschichte richtet sich auf die Verweigerungshaltung der Julia-Figur, die sich lieber im Esoterik-Supermarkt des Wunschdenkens bedient, als sich rational mit ihren Problemen auseinanderzusetzen.

Aber nun zu deiner Kritik, besonders deiner Kritik an der Ich-Erzählerin.

Zitat Achillus:
Oder aber Du willst als Autorin zeigen, dass eben auch das starre, antiquierte Weltbild der Erzählerin mit "Schuld" daran ist, dass sie keinen Draht zu Julia aufbauen kann bzw. den Kontakt nach und nach verliert. Das fände ich eine gute Idee, aber dazu bräuchte es noch ein paar Zutaten, die das genauer beleuchten.

Meine Idee ging ein bisschen in diese Richtung. Ich wollte zwei unterschiedliche Lebensauffassungen zeigen: Julia in ihrer ‚beseelten’ Welt auf der einen Seite und die alles eher rational betrachtende Ich-Erzählerin auf der anderen. Du empfindest ihr Weltbild als starr und antiquiert. Was wäre deiner Meinung nach das Gegenteil?

Die Ich-Erzählerin sagt:
Ich habe ihr geantwortet, dass ich an all diesen Hokuspokus nicht glaube, aber dass mir das Resultat gefalle.

Sie erkennt also durchaus die wohltuende Wirkung der Massage, ohne natürlich nachvollziehen zu können, was da eigentlich geschieht. Denn du hast recht, da fließt auch Kenntnis ein, die Julia hat, die Ich-Erzählerin nicht.
Und du sagst es richtig:

Zitat Achillus
Die Wirksamkeit von Akupunktur, Akupressur und Fußreflexzonenbehandlungen ist völlig unstrittig.

Aber dann kommt dieser Bereich des Metaphysischen, des Nichtfassbaren, des Spirituellen, wenn Julias Hände minutenlang über den Füßen verharren. Mir geht es da wie meiner Ich-Erzählerin: Da bin ich in einem Bereich, der für mich schon an Schamanentum erinnert. Und diese Mischung aus alten Erkenntnissen und Undurchschaubarem, der sich viele im esoterischen Bereich bedienen, macht es für mich so schwer, zu erkennen, was seine Berechtigung hat und was nicht.

Etwas konkreter zu meiner Geschichte: Auf einer Esoterik-Seite im Internet

https://www.sein.de/selbstheilung-kann-jeder/

findet sich unter der Überschrift:

‚Kleiner Kratzer oder schwere Krankheit: Selbstheilung funktioniert immer’

u.a. folgender Absatz:

Die geplante Selbstheilung ist eigentlich nichts anderes als eine liebevolle Hinwendung zu dem, wer und wie wir hinter allen Masken wirklich sind. Sehen wir diesem Wesen hinter den Masken in die Augen, dann kann Selbstliebe entstehen. Das ist der entscheidende Punkt der Änderung. Deshalb ist wahre Heilung immer Selbstheilung.
Krankheit ist kein Zustand, Krankheit ist ein Weg zur Selbstheilung, ein Weg zurück zum heilen Leben. Ein Weg, der manchmal steinig erscheint, weil er unweigerlich an Stationen vorüberführt, in denen die eigenen Schwächen als Bilder an den Wänden und Skulpturen im Raum ausgestellt sind.

Wenn solche Aussagen auf Hilfe suchende Menschen treffen, verhindern sie u.U., dass die wirklichen körperlichen Ursachen einer Krankheit erkannt und rechtzeitig behoben werden können.
Das war der Ausgangsgedanke meiner Geschichte. Für mich ist der Tod Julias deshalb nicht eine

... Quittung für ihre Verdrängung ...

, sondern eine mögliche Konsequenz fragwürdiger Heilsversprechungen.

Du, Achillus hast bei der Betrachtung des Esoterischen überliefertes Wissen im Blick, ich stoße mich an der Leichtfertigkeit des Vermarktens dieser Erkenntisse.

Ich danke dir noch einmal für deinen ausführlichen Kommentar und

wünsche dir ein angenehmes Wochenende.

barnhelm

 

Lieber Friedrichard/Friedel,

wie immer danke ich dir für das akribische Lesen und Auffinden der (hoffentlich) letzten ‚Flusen’. Irgendwie liest man sein Eigenes immer inhaltlich und nimmt Schwachstellen gar nicht mehr wahr, weil der Kopf sie automatisch korrigiert. Die Flusen habe ich aufgesammelt, an die Webfehler gehe ich später.

Zum Thema ‚Schuld’ habe ich mich im Kommentar zu Achillus geäußert. Das ist wie immer ein weites Feld.

Ich wünsche dir ein schönes Wochenende im ‚Pott’, den ich letzte Woche auf dem Weg zum Flughafen tangiert und im Vorbeifahren gegrüßt habe.


barnhelm

 
Zuletzt bearbeitet:

Obwohl uns fast drei Jahrzehnte trennen, sind wir seit vielen Jahren Freundinnen.
Dieser Satz ist es, den du nachträglich eingefügt hast, barnhelm, hab ich recht?

Und die kleine Ergänzung tut der Anfangsszene gut, finde ich. Mir ist es vorgestern beim ersten Lesen nämlich ähnlich wie Fliege gegangen, ich dachte, warum auch immer, an einen männlichen Erzähler, der mit einer Frau im Bett liegt, und kapierte die längste Zeit nicht recht, von welchen Figuren ich hier lese.
Allerdings dürftest du für meinen Geschmack sogar noch einen Schritt weiter gehen und noch ein bisschen deutlicher werden:

„Einmal möchte ich nach Paris.“
Etwas widerwillig öffne ich die Augen: „Nach Paris?“
Julia hat sich auf die Seite gedreht und schaut mich an. „Wart ihr schon mal dort?“
Ich überlege. „Ja, aber das ist schon ein paar Jahre her.“

Der Plural in der Anrede irritiert mich nach wie vor. Der führt hier quasi eine dritte Figur ein, von der ich dann ewig nicht erfahre, um wen es sich eigentlich handelt.
Was hältst du davon:

„Einmal möchte ich nach Paris.“
Etwas widerwillig öffne ich die Augen: „Nach Paris?“
Julia hat sich auf die Seite gedreht und schaut mich an. „Warst du schon mal dort?“
Ich überlege. „Ja, ist aber lange her … du meine Güte, eine Ewigkeit. Ganz kurz nach der Hochzeit … war Jans Idee.

(Oder so ähnlich.)

Daraus könnte ich - also zumindest altbackenen Eheklischees entsprechend :D - gleich mal schließen, dass die Erzählstimme einer verheirateten Frau gehört.
Und auf diese Art hättest du mir schon im ersten Absatz - zumindest in Umrissen - beinahe das gesamte Figurenensemble skizziert.

Aber darüber hinaus war das wirklich sehr fein zu lesen, barnhelm, ich mag deine angenehme Erzählsprache einfach. Das ist wieder so ein richtiger barnhelm-Text, dachte ich beim Lesen und das darfst du jetzt durchaus als Kompliment verstehen. Wie du schreibst, gefällt mir nämlich richtig gut.
So, und jetzt wartest du vermutlich schon auf das „Aber“, hm? Bzw. fragst du dich vielleicht sogar, warum ich bisher keine deiner Geschichten kommentiert habe …
Na ja, nicht wie, sondern worüber du schreibst, ist es, was nicht unbedingt meinen Geschmack trifft.
(Alles was ich jetzt noch sage, kannst du getrost gleich wieder vergessen, weil es weniger mit deinem Text, sondern vielmehr mit meinen persönlichen Lektürevorlieben zu tun hat.)

Warum ich mit der Geschichte, wie übrigens auch mit einigen deiner anderen, nicht wirklich warm werden kann?
Hm. Das ist gar nicht so leicht zu erklären, ist wie gesagt ein reines Geschmacksurteil.
Vermutlich sind es das spezielle Setting, der gesellschaftliche Rahmen und das Personal, mit denen du überwiegend arbeitest, die mich nicht so recht berühren können, vielleicht, weil mir die irgendwie zu fern meiner eigenen Lebenswelt sind. Das alles ist mir meist - trotz aller Probleme, die deine Figuren haben mögen - einfach ein bisschen zu sehr … also ich weiß gar nicht, wie ich‘s nennen soll, also irgendwie zu sehr heile-Welt-mäßig. In aller Regel sind es ja betuchte Menschen der gehobenen Mittelschicht, von denen du schreibst, bildungsbürgerliche Menschen in langjährigen, glücklichen Partnerschaften, die sich im Herbst ihres Lebens durch ein beschauliches Ambiente bewegen - schönes Haus, schöner Garten mit Katze, Kurzurlaube - na ja, irgendwie sind das alles so Bilderbuchmenschen, so Vorzeigemenschen irgendwie. Oder anders gesagt, so etwas wie ein radikaler Gegenentwurf zu z.B. Jimmys Geschichtenuniversum. Hochglanzmagazin versus Schundheft, weißt du, was ich meine?
Natürlich widerfährt auch in deinen Geschichten den Menschen Leid, sie werden krank, es sterben Freunde, usw., aber irgendwie, ich weiß nicht recht, so richtig nahe geht mir das nicht. Mir ist das alles irgendwie zu glatt, es fehlt mir da das wirklich Tragische. Vielleicht weil ich zu spüren meine, dass diese Menschen trotz all ihrer Probleme nie die wirklich dunklen Seiten des Lebens und der Welt je werden kennenlernen müssen. Sie leiden zwar, liegen dabei aber in einem gemütlichen, weichen Bett sozusagen.

Also am Beispiel dieser Geschichte hier: Klar, die Erzählerin verliert am Ende eine Freundin, das ist allemal traurig.
Aber die Art, wie die Erzählerin dann aus der Geschichte rausgeht:

Mit dem Stein, der sich in meiner Hand jetzt ganz warm und vertraut anfühlt, trete ich vor die Tür. Ich setze mich auf die Bank und schaue in die Blütenpracht über mir. Ein wenig verzerrt klingt aus der Laube das Lied der Piaf. Ich lege meinen Kopf zurück und schließe die Augen. Die Luft ist leicht bewegt und kitzelt meine Nase – ganz sanft, wie eine kleine Feder.
Also ich weiß nicht, für mich ist das keine Trauer, das ist kein wirklicher Schmerz, kein Leid, das ist allerhöchstens poetische Melancholie. Auf mich wirken die Gedanken der Erzählerin hier einfach zu artifiziell, ja, richtiggehend gefühllos eigentlich. Es klingt nämlich, als könne diese Frau gar nicht anders, als selbst in schlimmen Situationen noch der Etikette ihrer Gesellschaftsklasse gerecht werden zu müssen.
Und da heult man eben nicht, wenn eine Freundin stirbt, man knirscht nicht mit den Zähnen, man rauft sich nicht die Haare, nein, man versinkt gerade mal ein bisschen in Kontemplation. Das ist alles so schrecklich damenhaft, so gekünstelt abgeklärt irgendwie, ach ich weiß nicht …
Klingt jetzt blöd, barnhelm, aber irgendwie missgönne ich es dieser Frau beinahe, dass sie so unbeschadet davonkommt, ihr betuliches Leben jetzt einfach so weiter führen kann. Sie hat ihre Julia zwar nicht im Stich gelassen, aber geholfen bei den gesundheitlichen Problemen hat sie ihr auch nicht. Hm, irgendwie mag ich die Protagonistin einfach nicht.

Eine einzige Formulierung ist mir aufgefallen, die für mich nicht recht hinhaute:

Zwischen den anderen dem Foyer zustrebend, suchen meine Augen Julia.

Strenggenommen bezieht sich die Partizipialkonstruktion hier auf die Augen. Warum nicht einfach so:
Während ich dem Foyer zustrebe, suchen meine Augen Julia.


So, und jetzt mach ich mir ein Bier auf und zieh mir eine Story von Jimmy "Hardcore" Salaryman rein.
(Ich glaub, ich bin einfach der falsche Leser für deine Geschichten, barnhelm, nicht bös sein.)

offshore

 

"Sei mir gegrüßt, Melancholie,
Die mit dem leisen Feenschritt
Im Garten meiner Phantasie
Zu rechter Zeit ans Herz mir tritt!
Die mir den Mut wie eine junge Weide
Tief an den Rand des Lebens biegt,
Doch dann in meinem bittern Leide
Voll Treue mir zur Seite liegt!"​

... Jan möchte nicht.“
Mein Mann ist bequem geworden. Ihm reicht unser schönes Haus und die Großzügigkeit des Gartens. Er sei schon genug in der Welt herumgekommen, sagt er, und ihn ziehe es nicht mehr hinaus. Ich könne aber seinetwegen gerne mal wieder was unternehmen.

Bevor ich ins freie Delieren verfalle, das sich quasi den Satz
Die Energie aus Bäumen und Blumen – unser letztes Gespräch.
vorwegnimmt,

liebe barnhelm,

zwei Männernamen tauchen auf in Deiner Geschichte, von denen Michael (hebr. „Er ist wie Gott“), Erzengel und als Chef der himmlischen Heerscharen (auch eine Art wirrtueller Raum) immer beschäftigt ist und fiktiv bleibt in dem Geschehen, aber in mir den Verdacht einer autobiografischen Erzählung aufkommen lässt (Wiedersehen nach Jahr und Tag, wobei ich vllt. unzulässigerweise von mir ausgehe, der nur Heimatliteratur und Autobiografisches bis zur Unkenntlichkeit verschlüsselt betreibt).

Jan (Kurzform des latinisiert Johannes, hebr. Jochanan „Gott ist gnädig“, Namen sind keineswegs nur Rauch und Schall), den Ehemann, übernimmt die Rolle des Todesboten ...

Aber beginnen von vorn!

„Einmal möchte ich nach Paris“,
Ort der Sehnsucht und der Piaf, die ein Leben auf der Überholspur wählte. Mag sein, dass man den mythischen Ort der Liebe mit dem unglückseligen Sohn des Priamos in Verbindung bringt, der sich mit einem Urteil wider Vernunft und Macht für die Liebe entschied und Verderben erntete, aber Lutetia war Sitz eines keltischen Stammes, dessen Name in Paris fortlebt. Mag sein, dass mit der Wahl zu einem Königssitz der salischen Franken und der merowingischen Manneskraft auch der Liebes-Mythos in die Francia einzog, glaubten die salischen wie die ripuarischen Stämme doch dem Gründungsmythos, von Troia abzustammen und besonders ihre kunings-Sippe wütete wie die Stiere, genauer: Zuchtstiere (Ochsen, ahd. ohso = Samenspritzer) ihre Manneskraft galt als sagenhaft. Und schon die Rede
„Ich glaube schon. ...“
zeigt den Mythos als Glaubenssache an.

Und die Symbolik geht weiter, nicht erst, wenn am Ende Julias Poster auftaucht

Erst, als ich vor dem Bett stehe, erkenne ich das Motiv des kitschigen Posters darüber: eine Allee, gesäumt von rosablühenden Bäumen – an ihrem Ende der Eiffelturm.
sondern als Naturbeschreibung, wenn es heißt
Wir liegen am Teich neben der alten Weide, deren Zweige träge über dem Wasser schaukeln
der kurzen Beschreibung nach eine - Trauerweide. Und in der Tat scheint der nüchterne Stil Trauer und Melancholie verbergen zu wollen (aus eigener Erfahrung geht es bei Rauen (= Totenmahl) recht schräg an sich zu, bis hin zum Geständnis, man habe schon lange nicht mehr so gelacht ...)

Nun hat der Weiden Gattungsname Salix wenig mit den Saliern, als mit dem Salicin zu tun, das die Pflanzen zum eigenen Schutz produzieren und das seit altersher als schmerzstillend gilt (und so auch in die Klauen der Pharmaindustrie gelangt). Aber Julia hält es nicht mit den Alten, sondern folgt mehr oder weniger modernistischem Aber-Glauben, Glaube im Sinne des Vertrauens. Gottersatz, quasi.

Das erste Grün des Jahres
Grün als Farbe der Hoffnung und zugleich die Warnung vor Gift – das im ahd. gab/a zugleich eine Gabe ist (denk an die Mitgift, erst durch die Vorsilbe ver… wird die Gabe vergiftet und in ihr Gegenteil ver-kehrt) – und tatsächlich verdunkeln sich die Gedanken der Erzählerin
Schade, denke ich, dass die schmalen Blätter später dunkler werden und am Ende des Sommers aussehen, als läge ein Grauschleier auf ihnen.

Dann erreicht die Symbolik schon einen frühen Höhepunkt im
... Rumkramen fiel mir vor ein paar Tagen ein Bild in die Hände. ... Ich muss damals ungefähr so alt gewesen sein wie Julia heute. Gespannt zeigte ich es ihr. Sie war ganz aufgeregt. „Mein Gott, du siehst da ja aus wie ich.“
Ich musste schmunzeln. Ja, es gibt eine gewisse Ähnlichkeit. Auch ich bin der dunkle Typ, habe braune Augen, und selbst meine Nase gleicht ihrer. Doch für Julia hat alles eine tiefere Bedeutung. Sie glaubt nicht an Zufälle, alles ist Schicksal – von einer unbekannten Macht gesteuert.
Julia, eine Seite der Icherzählerin? Mutmaßlich die dunklere, männliche (ahd., mhd.: manli[c]h/menlich = dem Manne angemessen, tapfer, mutig)Da gönnte unsereins der Julia etwas von brechtscher Feigheit ...
„Stell dir vor, ich kenne ihn von früher. Wir sind zusammen zur Schule gegangen. Er dachte, ich sei längst verheiratet und war ganz überrascht, dass ich alleine bin. Samstagnachmittag wollen wir uns sehen.“
Das ist eine gute Nachricht. Ich nehme meine Hand von der Katze und streichle Julias Arm. Ihre Hand umschließt den kleinen Stein.
Sucht Julia Halt am Stein? Der Altar am Ende der Geschichte spricht dafür - ein privates Stonehenge für den Hausgebrauch.
Ihr Blick bleibt hängen an einem Stein, der in der Nähe des Teichs liegt. … Der Kiesel ist etwas lehmig und sie befreit ihn sorgfältig von den Erdbröckchen.
„Schau mal. Ist das nicht wundervoll: ein Herz.“ Wie etwas Wertvolles liegt der Stein in der Mitte ihres Handtellers.
[...]
Mit dem Stein, der sich in meiner Hand jetzt ganz warm und vertraut anfühlt, trete ich vor die Tür. Ich setze mich auf die Bank und schaue in die Blütenpracht über mir. Ein wenig verzerrt klingt aus der Laube das Lied der Piaf. Ich lege meinen Kopf zurück und schließe die Augen. Die Luft ist leicht bewegt und kitzelt meine Nase – ganz sanft, wie eine kleine Feder.

Genug für heute, nicht ohne Hinweis, dass zwo Flüchtigkeiten noch bestehn
Heute morgen haben sie angerufen“.
und kennenlernen immer noch ein Wort ist ...

"Noch fühl ich dich so edel nicht,
Wie Albrecht Dürer dich geschaut:
Ein sinnend Weib, von innerm Licht
Erhellt, des Fleißes schönste Braut,
Umgeben reich von aller Werke Zeichen,
Mit milder Trauer angetan;
Sie sinnt – der Dämon muß entweichen
Vor des Vollbringens reifem Plan."
Gottfried Keller, Melancholie​

Schönes Wochenende aus'm Pott vom

Friedel

 

Liebe bernadette, liebe Fliege,

ich danke euch beiden für eure Kommentare, die mir einiges zum Überlegen mit auf den Weg gegeben haben. Ich glaube, das ‚Wer’ habe ich durch meinen Einschub jetzt geklärt. Ob es sich so wirklich elegant einfügt, muss ich noch überlegen. Auch offshore hat mir noch einen guten Tipp gegeben.

Zu Bernadettes Zitat:

Im Moment sehe ich nicht den Fokus, wieso du mir die gut geschriebene Geschichte erzählst.
Ich ahne, was du meinst, und auch Peeperkorn hat ja etwas Ähnliches gesagt. Im Moment habe ich aber noch keine Idee, wie ich die Intention meiner Geschichte (s. mein Kommentar zu Achillus Kommentar) vertiefter und deutlicher machen könnte. Eventuell muss ich die Hilflosigkeit und Verzweiflung der Ich-Erzählerin und die Befangenheit Julias noch deutlicher machen, noch pointierter gestalten.

Und da bin ich bei dir, Fliege und deinem Kritikpunkt:

… aber dass etwas mit den beiden Hauptfiguren passiert, dass es da zu einer Figurendynamik kommt, hätte die Geschichte in meinen Augen sehr aufgewertet.
Auch deine Kritik verstehe ich und erkenne auch die Leerstellen, die du ansprichst. Aber ich brauche noch ein bisschen Zeit. Für mich war die Geschichte jetzt erst mal fertig, so wie sie ist, und mir fällt im Moment nicht viel mehr dazu ein. Das ist wie eine Blockade. Aber ich habe gelernt, dass ich nach einer gewissen Zeit kritischer und distanzierter an meinen eigenen Text gehen kann. Diese Zeit werde ich mir nehmen. Eure Kommentare zeigen mir dabei die Richtung, in die sich meine Gedanken bewegen könnten.

Ein weiterhin schönes Wochenende wünscht euch
barnhelm

Lieber jobär,

auch dir danke ich für deinen zweiten Kommentar, der mir sagt, dass es jetzt mit dem Hereinkommen in die Geschichte leichter geht. Deine Gedanken zu den Figuren zeigen mir deine Empathie und wie sehr du dich mit den Personen auseinandergesetzt hast.

Liebe Grüße und einen schönen Sonntag
wünscht dir
barnhelm

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo ernst offshore,

ja, du bist wirklich nicht meine Zielgruppe*. Das habe ich mir schon gedacht. Umso mehr freut es mich, dass du meine Geschichte kommentiert hast. Ich schätze deine guten und fundierten Kommentare und ihre Spannbreite.
Zum Setting und zum Personal meiner Geschichten: Sie spiegeln natürlich in gewisser Weise meine eigenen jetzigen Lebensumstände wider. Die kenne ich genau, in die kann ich mich hineinversetzen, deren Beschreibung fällt mir leicht. Deshalb bleibe ich gerne in dieser Welt und beziehe meine Themen aus ihr. Dabei ist mein Setting eine Momentaufnahme einer scheinbar heilen Welt. Im Hintergrund lauern Gedanken über das Altern und die Vergänglichkeit. (@Friedrichard hat die Melancholie, die über allem liegt, recht gut erfasst.) Mir gefällt dabei gerade der Kontrast zu der ‚heilen Welt’, wie du sie bezeichnest.

Ich könnte natürlich auch in eine andere Ecke gehen, wie in der Kurzgeschichte ‚Der Brief’. Aber da fühle ich mich immer etwas unsicher und denke, dass ich u.U. zu sozialkritisch oder sozialromantisch werde, und letztendlich der Problematik nicht entsprechen kann.
Und das Setting in die Vergangenheit verlegen? Das habe ich auch schon überlegt. Denn auch, wenn meine Protagonisten in glücklichen Umständen leben, so haben sie – ebenso wie ich selber – doch Zeiten des Kämpfens, der Konflikte, der Ängste, der Verzweiflung, der Verletzbarkeit hinter sich, und auch viele Ups and Downs der Emotionen. Allemal Stoff genug für Kurzgeschichten.

Ich glaube, wenn ich vor einigen Jahrzehnten angefangen hätte, Geschichten zu schreiben, so hätten das Setting, die Personen, ihre Situation und ihre Gefühlswelt, vermutlich sehr viel mehr dem entsprochen, was dich ansprechen könnte. Sicherlich keine ‚Jimmy’-Welt, aber eine sehr viel weniger betuliche als meine heutige. Ich denke, da hätte ich auch weniger langweilige Tags wählen können.

Noch etwas: Keine Ahnung, wie es den anderen unter uns geht: Meine schöpferische Fantasie hat ihre Grenzen und ich kann nur einigermaßen gut über etwas schreiben, was ich kenne, was mir präsent ist, was ich mir ganz konkret vorstellen kann, seien es Situationen, Orte oder Menschen. Mir fällt es von meiner jetzigen Warte aus schwer, mich in einen jungen Menschen von heute hineinzuversetzen, in seine Gefühlswelt, seine Gedanken und Wünsche einzutauchen, wie du es z.B. bei der Person des Theo geschafft hast. Mir ist die Distanz zu groß. Ich bewundere Menschen, die das können. Manchmal wird daraus große Literatur. Aber ich erlebe eben auch das Gegenteil: Junge Autoren, die sich z.B. in alte Menschen hineinversetzen, aus deren Perspektive erzählen möchten. Das kann ganz schön danebengehen und in der Nähe allseits bekannter Klischees enden, bis hin zur Karikatur des alten Menschen. Da wird Ältersein oft mit Gebrechlichkeit und kindischer Senilität gleichgesetzt. Dem möchte ich schon etwas entgegenstellen.

Zurück zu deinem Kommentar: Deine Verbesserungsvorschläge leuchten mir ein und ich habe sie alle umgesetzt.
Was ich schade finde, ist, dass du meine Protagonistin nicht magst. Ich werde mir Flieges Kritik zu Herzen nehmen und noch ein wenig an meinen Figuren basteln. Bei der Beschreibung von Gefühlen neige ich manchmal zum Minimalismus, eben, um nicht ins Klischeehafte abzudriften. Das scheint bei dir dazu geführt zu haben, dass du die Ich-Erzählerin als gefühlsarm empfindest. Das war nicht meine Absicht und lässt sich eventuell ändern (vielleicht nicht bei dir, aber im Text). So möchte ich sie nicht verstanden wissen. Dass sie nicht wirklich eingreift in Julias Leben, finde ich dagegen konsequent: Sie erkennt die Aussichtslosigkeit einer solchen Aktion und leidet daran. Vielleicht kann ich ihre Hilflosigkeit und Verzweiflung noch deutlicher machen.

offshore, ich danke dir fürs Lesen, fürs Kommentieren und für schöne Anstöße zum Nachdenken.

Liebe Grüße
barnhelm


* richtig muss es natürlich heißen: … kein Teil meiner Zielgruppe.:D


off topic:
Bei der Diskussion über fremdsprachliche Titel überkommt mich immer ein schlechtes Gewissen, da es mir am Anfang auch passiert ist, ohne dass ich mir etwas dabei gedacht habe. Die KG ‚Lost’, die in gewisser Weise die Ausgangsgeschichte für meine jetzige ist, würde ich heute anders übertiteln, bei der anderen Geschichte stehe ich immer noch dahinter. Das nur so nebenbei.

 

barnhelm schrieb:
So möchte ich sie nicht verstanden wissen. Dass sie nicht wirklich eingreift in Julias Leben, finde ich dagegen konsequent: Sie erkennt die Aussichtslosigkeit einer solchen Aktion und leidet daran. Vielleicht kann ich ihre Hilflosigkeit und Verzweiflung noch deutlicher machen.

Ich noch mal :).

Lass Dir mal ruhig Zeit mit der Überarbeitung und die Story sich setzen, aber dieses "leidet daran" erscheint mir ein verdammt guter Ansatz, in welche Richtung man denken könnte. Sie leidet daran. Was macht dieses Leiden mit ihr? Wie greift es in ihren Alltag ein und wie gegensätzlich zum Beispiel ist ihr "Leiden" gegenüber ihrem realen Verhalten zu Julia. Das ihr die Aussichtslosigkeit klar ist und sie deshalb den Mund hält - okay, aber dann ärgert sie sich doch wieder, wenn Julia gegangen ist, weil sie nichts gesagt hat ... da könnte schön Dynamik rein durch diesen Zwiespalt in Denken und Handeln ... Ist jetzt nur so eine Idee die mir gerade kam und die vielleicht auch meinen Kommentar etwas verdeutlicht. Nicht so ganz einfach umzusetzen, glaub ich, aber es wäre eine von 1000 Möglichkeiten.

Viel Erfolg!

 

Lieber Friedrichard -Friedel,

danke, dass du dich noch einmal mit meinem Text beschäftigt hast. Ja, so ein bisschen Symbolik war schon beabsichtigt, nicht ganz so viel, wie du dem Text entnimmst, aber insgesamt hast du den Finger drauf.

Noch mehr danke ich dir aber für das Keller-Gedicht. Die Wahl dieses Gedichtes zeigt mir, wie sensibel du die Grundstimmung meiner Geschichte erfasst hast. Es ist ein sehr schönes Gedicht.

Keller war eben mehr, als nur der Verfasser des ‚Schneiderleins’, was ich übrigens für ein sehr gelungenes Werk halte. Wie auch die anderen deutschen und französischen Realisten liegt er mir sehr. Ich glaube, ich sollte mich mal wieder mit ihm beschäftigen –vielleicht auch Fontane rauskramen – oder Stendhal? Du siehst, der Winter naht und damit die Sofa-Lektüre.

Nebenbei: Wo wir gerade bei den Realisten des 19. Jahrhunderts sind und weil wir heute Morgen beim Kaffeekonsum waren: Was wäre die literarische Welt, wenn Balzac nicht seine tägliche Coffein-Ration gehabt hätte? Er hätte sicherlich länger gelebt, aber ob er so produktiv und erfolgreich gewesen wäre :hmm:

Ich wünsche dir noch einen schönen Rest-Tag.
barnhelm


Liebe Fliege,

danke für die guten Anregungen. Sie werden mir ganz bestimmt weiterhelfen.

Liebe Grüße
barnhelm

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Barnhelm,

ich hoffe, Du hast Dich von unserer Kritik nicht davon abhalten lassen, die Geschichte zu überarbeiten. Mir geht es oft so, dass das Überarbeiten schwieriger scheint, als das Neuschreiben, aber das mag mein persönliches Problem sein. Ich hatte in der Vergangenheit auch zwei oder drei Fälle, in denen Überarbeiten nichts gebracht hat. Aber im Fall dieser Geschichte hier, lohnt es sich bestimmt.

Du hast noch eine Frage gestellt, auf die ich antworten möchte:

Ich wollte zwei unterschiedliche Lebensauffassungen zeigen: Julia in ihrer ‚beseelten’ Welt auf der einen Seite und die alles eher rational betrachtende Ich-Erzählerin auf der anderen. Du empfindest ihr Weltbild als starr und antiquiert. Was wäre deiner Meinung nach das Gegenteil?

Dazu gibt es eine einfache Antwort, die sehr schwer umzusetzen ist: Die besten Möglichkeiten bei der Verwirklichung eines gelingenden Lebens hat ein Mensch, dessen Denken und Verhalten durch Offenheit und Flexibilität geprägt ist. Das zumindest behauptet die relativ neue Disziplin der Weisheitsforschung. Offenheit ist dabei dem Bereich des Geistigen zuzuordnen, also wie unvoreingenommen wir uns Ansichten nähern, die unserem Weltbild fremd sind. Flexibilität gehört hingegen zum Bereich des Handelns und hat damit zutun, ob wir uns in unserem Verhalten primär auf Routinen stützen (So habe ich das schon immer gemacht) oder zu Neuerprobungen und Experimenten fähig sind.

Wenn es für Deinen Plot aber wichtig ist, dass die Erzählerin, diese Offenheit und Flexibilität nicht besitzt, dann macht es durchaus Sinn, sie so "starr" zu zeichnen. Man könnte dabei aufzeigen, wie ein Mangel an Offenheit zu schweren Verlusten führt.

Gruß Achillus

 

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