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Einmal frei sein
Ich laufe, der Boden fliegt nur so unter meinen Füßen dahin, ich fühle mich so unendlich frei. Dieses Gefühl, ich kann es kaum fassen, aber es ist da, ohne Frage, ich spüre meine Beine. Zum ersten Mal seit 6 Jahren.
„Mama! Komm jetzt, ich habe Jana versprochen, dass ich um 19 Uhr da bin!“, dränge ich meine Mutter. Doch sie kommt nicht, sie telefoniert noch immer. Ich warte, doch auch nach sechs Minuten hält sie den Hörer in der Hand. „Ach Mensch, mir ist das zu blöd hier, ich fahr jetzt Fahrrad!“, wütend auf meine Mutter knalle ich die Haustür zu und laufe zu unserer Garage, in der mein Fahrrad steht. Der strömende Regen ist mir jetzt egal, Hauptsache ich komme rechtzeitig zu Jana.
Es ist ein wahnsinniges Gefühl, endlich wieder laufen zu können. Nun wende ich mich vom Weg ab und laufe in eine Wiese. Ich kann jeden einzelnen Grashalm spüren, der meine Unterschenkel streift. Nun werde ich langsamer, schließlich bleibe ich stehen und schaue mich um, ich befinde mich mitten in einer großen Wildblumenwiese, um mich herum schwirren lauter Bienen auf der Suche nach Nektar.
Durch den stundenlangen Regen ist die Straße glitschig geworden, doch auf sowas kann ich keine Rücksicht nehmen, schließlich habe ich nur noch 14 Minuten. Meine Umwelt verschwimmt mehr oder weniger vor meinen Augen, so schnell fahre ich, das einzige was ich bewusst wahrnehme ist der eiskalte Regen. Aber was ist das? Plötzlich tauchen zwei große Schweinwerfer vor mir auf. Nicht mal einen Meter vor mir. Ich höre ein Krachen, meine Augen sehen nur noch rot um mich herum und auf einmal gar nichts mehr.
Ich genieße einfach diese Momente. Denn ich weiß, sie werden nicht von Dauer sein. Ich werde niemals wieder rennen können, nie Grashalme spüren können, nie so unendlich frei sein. Denn ich bin querschnittsgelähmt und das nur ein Traum.
Ich höre Sirenen, aufgeregte Stimmen und Regentropfen die auf den Asphalt prallen. Ich versuche meine Augen zu öffnen, aber ich bin zu schwach.
Als ich es das nächste Mal versuche, gelingt es mir, aber meine Umgebung hat sich geändert, alles ist weiß, ich liege in einem Bett, neben mir piepst irgendetwas und es riecht dann Desinfektionsmittel. Ich bin in einem Krankenhaus.
Ich habe an diesem Tag auf nichts geachtet, bin einfach gefahren. Das war mein Verhängnis, eigentlich hätte ich das Auto sehen müssen. Eigentlich hätte ich nach dem Aufprall Tod sein müssen, aber es ist noch viel schlimmer gekommen. Ich war immer sportlich, bin immer wenn es möglich war auf den Tennisplatz gefahren, bin gejoggt und habe Karate gemacht. Jetzt kann ich nichts mehr tun. Ich fühle mich nicht mehr als Mensch.
In den nächsten Tagen erfahre ich, was passiert ist: Bei dem Zusammenprall wurde mein Rückenmark verletzt. Irreparabel. Trotzdem werde ich zur Physiotherapie gescheucht. Man will nicht, dass meine Muskeln abbauen. Die nächste Zeit wird hart für mich, ein halbes Jahr liege ich im Krankenhaus, danach folgen Monate in der Reha. Doch auch all das ändert nichts an meiner Gelähmtheit. Sie schicken mich zum Rollstuhlbasketball – als ob das ein Ersatz wäre für meinen Sport. Doch ich kämpfe mich zurück ins Leben, meiner Eltern und Freunde willen. Mache meine Schule fertig, beginne ein Geschichtsstudium. Doch meine Lebensfreude gewinne ich dadurch nicht zurück.
Ich wurde einfach aus dem Leben gerissen ohne Grund. Ich habe niemandem etwas getan und doch wurde ich so bestraft. Mein Wunsch ist so einfach und doch unerfüllbar für mich. Ich will frei seien. Einfach losrennen, vollkommen egal wohin. Aber in meinem Hinterkopf da ist diese Idee, diese vollkommen verrückte Idee. Vielleicht ist es meine einzige Möglichkeit, glücklich zu werden, allerdings wäre dieses Glück nur von kurzer Dauer.
In meinem Rollstuhl kurve ich durch meine Wohnung, auf der Suche nach meinen Aufzeichnungen von der letzten Vorlesung. Auf einmal sehe ich sie und gleichzeitig merke ich wie dieses Gefühl – ein Gemisch aus Zorn und Hilflosigkeit – in mir aufsteigt. Mein Ordner steht in einem Regal 1,50 m über dem Boden, zu hoch für mich, vermutlich hat meine Mutter wieder aufgeräumt, als ob ich das mit 21 könnte, vor allem vergisst sie immer, dass diese Regal in einer für mich nicht zu erreichender Höhe hängt.
Es sind diese Alltagsprobleme, die mir immer klar machen, dass ich nicht normal bin, dass ich nie ein normales Leben führen werden kann. Dadurch, dass ich immer wieder daran erinnert werde, tauchen diese Gedanken immer öfter auf. Ich denke, es ist keine Idee mehr, es ist vielmehr ein Plan.
Mein Handy klingelt. Nina ist dran. Sie ist freundlich, versucht mich aufzumuntern, lädt mich zu einer Party ein. Aber ich bin kurz angebunden, lehne die Einladung ab. Wenn ich hingehe, werde ich nur wieder mitleidig angeschaut. Am Ende klingt sie etwas enttäuscht und es tut mir auch leid, aber es ist besser so, so muss ich ihr später nicht so wehtuen, wenn ich meinen Plan umsetze.
Es ist beschlossen, nun treffe ich ein paar Vorbereitungen, suche eine passende Stelle für mein Vorhaben heraus. Es tut mir leid für die Ärzte, die soviel versucht haben, für meine Mutter, die immer für mich da war und für meine Freunde, die ich immer wieder abgewimmelt habe.
Morgen ist es soweit, morgen werde ich es tun. Doch jetzt kommt erst mal der schwerste Teil – ich muss mich verabschieden. Ich muss allen erklären, warum, ich muss allen versichern, dass sie nichts falsch gemacht haben. Dazu schiebe ich meinen Rollstuhl an den PC, ich habe beschlossen, eine Videobotschaft zu verfassen, die ich dann verschicken werde.
Ist es wirklich das richtige? So langsam kommen mir Zweifel. Doch ich sehe einfach keine andere Möglichkeit, ich will nicht mehr im Rollstuhl sitzen und ein Krüppel sein, ich will ein einziges Mal wieder frei sein. Ein einziges Mal schnell sein. Ein einziges Mal alles vergessen.
17 % Gefälle, knapp 200 m bis zur nächsten Kurve. Überall sind Warnschilder, doch ich bin kein Autofahrer und das alles interessiert mich nicht. Es ist entschieden und ich werde es jetzt tun. Ich werde meine Bremsen lösen und einfach losrollen einfach immer weiter und dann den Abgrund runter. Doch davor werde ich diese zweihundert Meter Straße genießen, auf denen ich frei sein werde. Ich weiß nicht, ob es ein qualvoller Tod sein wird, weil ich irgendwo hängen bleibe, ein schneller, weil ich gegen einen Baum fahren werde oder tatsächlich den Abgrund runterfallen werde. Aber es ist mir auch egal – Hauptsache tot.
Ein letztes Mal schließe ich meine Augen, atme tief durch und löse dann die Bremse und rolle los – dem Ende entgegen.